Sterbenlassen, abwehren und wegschauen

Europas Umgang mit syrischen Flüchtlingen

Am 1. Januar 2013 waren 475.000 syrische Schutzsuchende in die unmittelbaren Nachbarstaaten  geflohen - zwölf Monate später waren es bereits über 2,3 Millionen. Darüber hinaus sind über 6,5 Millionen Menschen aktuell im Bürgerkriegsland auf der Flucht.

 

In die Nachbarregion Europa haben es seit Beginn der Revolte gegen das Assad-Regime im März 2011 lediglich etwas mehr als 60.000 Schutzsu­chende geschafft - auf eigene Faust, unter Lebensgefahr. Das  kleine Nachbarland Libanon mit seinen 4,5 Millionen Einwoh­nerInnen hat in diesem Zeitraum bereits knapp 900.000 Flüchtlinge aufgenommen.  

Es gibt bis heute keinen ernsthaften europäischen Beitrag zur aktiven Rettung oder Aufnahme von gestrandeten Schutzsuchenden aus Syrien. Es fand noch nicht einmal eine EU- Flüchtlingskonferenz zu dieser drängenden Frage statt.

Und weil dies so ist, und die wenigen bis jetzt beschlossenen Flüchtlingsaufnahmepro­gramme - beispielsweise in Deutschland - sehr klein, sehr bürokratisch sind und vor allem sehr langsam greifen, sind Schutzsuchende aus Syrien weiterhin gezwungen über Ägypten und Libyen nach Italien zu fliehen.

Viele sterben auf dem gefährlichen Seeweg nach Europa. Schutzsuchende aus dem Bür­gerkriegsland versuchen in kleinen Booten von der Türkei auf die griechischen Inseln zu gelangen. Auch dort steigt die Todesrate Woche für Woche. Syrische Flüchtlinge werden wie Stückgut, an der griechischen Landgrenze, in der Ägäis oder gar wenn sie bereits griechische Inseln erreicht haben, in die Türkei zurückverfrachtet. Das ist völkerrechtswidrig, das sind schwerste Menschen­rechtsverletzungen, das sind Straftaten, aber sie geschehen und zwar tausendfach.

Das Nachbarland Bulgarien folgt dem Modell Griechenlands, weist ebenfalls Schutzsuchenden zurück und baut einen langen Zaun zur Flücht­lingsabwehr. Und denjenigen, die es ins Land schaffen, wird das Leben zur Hölle gemacht. 

Da in beiden Außengrenzstaa­ten nichts ohne Zutun der EU geschieht und faktisch alle Abwehrmaßnahmen von ihr finanziert wird, finden diese Men­schenrechtsverletzungen auch im Namen Europas statt.

Der menschenverachtende Umgang mit syrischen Flüchtlingen steht von daher exemplarisch für eine europäische Flüchtlingspolitik, die nach dem über 360fachen Tod von eritreischen und somalischen Bootsflüchtlingen am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa, kurz Betroffenheit heuchelt und weiter macht wie bisher.

 

EU-Außengrenze Griechenland/Türkei:  Pushed back

Farmakonisi/Griechenland: „Sie brachten uns bis in die türkischen Gewässer und warfen uns, einen nach dem anderen, auf unser Boot. Einer von uns fiel ins Meer und wir zogen ihn wieder aus dem Wasser. Sie warfen uns weg, als wären wir Abfall. Dann schnitten sie das Seil durch. Wir hatten keinen Motor, kein Benzin auf dem Boot und keine Ruder.“

Interview mit einem Flüchtling aus Syrien. 46 Männer, Frauen und Kinder aus Syrien wurden Opfer einer Push-Back-Operation von der griechischen Insel Farmakonisi am 8. August 2013.

 

Es finden systematisch völker­rechtswidrige Zurückweisungen an der griechischen Land- und Seegrenze statt. Diese eklatanten Menschenrechtsver­stöße wurden Griechenland schon häufiger vorgeworfen.

Erschreckend an dem im November 2013 von Pro Asyl veröffentlichten Bericht ist, mit welcher Brutalität und in welchem Ausmaß diese Völker­rechtsbrüche stattfinden. Maskierte  Sonderkommandos misshandeln Flüchtlinge beim Aufgriff, inhaftieren sie rechtswidrig auf griechischem Territorium und weisen sie dann völker­rechtswidrig in die Türkei zurück. Sondereinheiten der griechischen Küstenwache setzen Flüchtlinge in türkischen Gewässern aus, in lebensgefähr­dender Weise. 

Diese Zurückweisungen - Push Backs - finden von der Landgrenze, von griechischen Gewässern und von griechischen Inseln statt. Hauptopfergruppe dieser unmenschlichen Praktiken sind  syrische Flüchtlinge - Männer, Frauen, Kinder, Babys, Schwerstkranke. Während Eu­ropa immer wieder bekundet, syrische Flüchtlinge nicht im Stich zu lassen, werden deren elementare Flüchtlings- und Menschenrechte an diesem eu­ropäischen Grenzabschnitt missachtet und verletzt.

Der PRO ASYL-Bericht  klagt die griechische Regierung, die Grenzpolizei und die Küstenwache an und stellt  dabei die Frage nach der europäischen Mitverantwortung. Die politisch Verantwortlichen in Berlin, Wien und anderswo schweigen zu den Menschenrechtsverlet­zungen. Nichts geschieht im Flüchtlingsbereich in Griechenland ohne die tatkräftige Unterstützung und Finanzierung der EU. Außerdem befindet sich die europäische Grenzagentur Frontex seit Jahren vor Ort im Dauereinsatz.  

 

„Sie hielten ihre Waffen gegen unsere Köpfe. Wir wurden gewaltsam gezwungen, auf das Boot zu steigen. Weil sie ihre Waffen gegen unsere Köpfe drückten, sprachen wir nicht. Sie wiesen uns an, unsere Mo­biltelefone auszuschalten. Einer von ihnen wollte mir mein Telefon wegnehmen. Ich hatte es versteckt. Er durchsuchte mich danach, konnte es aber nicht finden. Sie brachten uns hinaus auf das Wasser. Dabei führten sie ein Beiboot mit sich, das nicht funktionstüchtig war. Sie stießen uns auf das Beiboot und fuhren weg.“

Push Backs von syrischen Flüchtlingen von der griechischen Insel Chios am 12. September 2013.

 

Seenotrettung verweigert - 260 Bootsflüchtlinge sterben 

Nur wenige Tage nach der Bootskatastrophe vor Lampe­dusa starben am 11. Oktober 2013 erneut Hunderte Bootsflüchtlinge nur 130 Kilometer vor der Küste Lampedusas. Sie alle hätten gerettet werden können, wenn die italienischen Behörden umgehend auf die Notrufe der Flüchtlinge reagiert und Hilfe geschickt hätten.

Doch diese fühlten sich nicht zuständig. Statt umgehend Hilfe zu organisieren, schickten die italienischen Behörden den Notruf der Flüchtlinge einfach weiter - nach Malta. Das Flücht­lingsboot habe sich in der maltesischen Seenotrettungszone befunden, rechtfertigte sich später der Leiter der Hafenkom­mandantur und der Küstenwa­che Italiens, Felicio Angrisano. Erst als Malta Stunden später wiederum Italien um Unterstützung bat, schickten die italienischen Behörden ein Rettungsschiff - zu spät. Mehr als 260 Flüchtlinge aus Syrien, darun­ter mehr als 100 Kinder, ertranken.

Schon am Vorabend waren Insassen des Bootes verletzt worden, nachdem das Flüchtlingsboot aus Libyen gestartet und in der Nacht von einem libyschen Schnellboot verfolgt und beschossen worden war.

Durch den Angriff geriet das Boot in Seenot und drohte zu sinken. Die am Vormittag des 11. Oktobers per Satellitentelefon abgesetzten Notrufe wurden von den italienischen Behörden zunächst ignoriert. Die skandalösen Umstände des tödlichen Dramas brachten die hartnäckige Recherche des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti sowie Nachforschungen des Monitoring-Projekts WatchTheMed ans Licht.

Eine Überprüfung der Notwarnsysteme durch WatchThe­Med ergab, dass die sich in der Umgebung befindlichen Schiffe informiert wurden, der Ret­tungseinsatz durch das nur we­nige Seemeilen entfernte italienische Marineschiff LIBRA aber erst um 17:14 Uhr angeordnet wurde, viereinhalb Stunden nach dem von Rom bestätigten eingegangenen Notruf um 12:26 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt war das Flüchtlingsboot schon gesunken. Nur rund 200 der Insassen des Bootes wurden gerettet.

 

Zum wiederholten Mal Tote durch verweigerte Rettung

„Left to die“, das Sterbenlassen auf See, gehört offensichtlich nach wie vor zur EU-Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen. Im Jahr 2012 hatte Tineke Strik, niederländische Abgeordnete der parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg, einen Untersuchungsbericht vorgelegt, der das kollektive Versagen der für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer Verantwortlichen dokumentierte. Viele Fehler von damals seien wiederholt worden, kritisierte Strik nach Bekannt werden der Recherchen Gattis. In den vergan­genen 25 Jahren sind infolge des europäischen Grenzregi­mes mehr als 20.000 Flüchtlinge gestorben, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. 

Die Ankündigungen Italiens und der EU nach der Katastrophe vor Lampedusa, die  Seeüberwachung auszuweiten, haben den mehr als 260 Toten vom 11. Oktober nichts genutzt. Die EU setzt verstärkt auf Systeme der Abwehr - die europäische Grenzschutzagentur Frontex und das am 2. Dezember 2013 in Kraft getretene Grenzüber­wachungssystem Eurosur.

Es soll u.a. helfen, Flüchtlingsboote schneller zu entdecken und wird von EU-Kommissarin Cecila Malmström gerne als Rettungspaket für Flüchtlinge verkauft. Die Toten vom 11. Ok­tober starben nicht wegen fehlender Technologie bzw. Informationen, sondern, weil ihnen schlichtweg die rechtzeitige Rettung verweigert wurde.

 

Recycling aller flüchtlings­-feindlicher Maßnahmen 

Die EU-Kommission hat Anfang Dezember 2013 in ihrem Maßnahmenpaket zu „Lampe­dusa und die Folgen“ alle flüchtlingsfeindlichen Vorschläge der letzten Dekade re­cycelt und mit mehr Finanzmit­teln ausgestattet. Zynischerweise verkauft die EU-Innen­kommissarin Malmström dieses schäbige Kompendium als Beitrag, um den „Verlust von Leben im Mittelmeer“ zu verhindern.

Die Strategie der EU zielt jedoch darauf, sich freizukaufen von der Verantwortung Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Tran­sitstaaten werden noch stärker als Türsteher in die Pflicht genommen und sollen Schutzsu­chende vom Territorium der Eu­ropäischen Union fernhalten. Der Applaus der Festungsbauer aus dem Kreis der EU-Innenminister war der EU-In­nenkommissarin Malmström gewiss.

Das humanitäre Blendwerk wie der Appell, mehr Resettlement­plätze zu schaffen, über humanitäre Visa nachzudenken, die Seenotrettung nicht zu kriminalisieren, hat der EU-Rat Justiz und Inneres billigend in Kauf nehmen. Denn die Hardliner in Europa wissen, dass die Richtung stimmt: Die Externalisierung der Flüchtlingsabwehr - künftig werden die Orte der Menschenrechtsverletzungen und des Sterbens in die Tran­sitstaaten Nordafrikas und in die Türkei verschoben.

Bezeichnenderweise wurde unter großem Jubel in Europa am 16. Dezember 2013 das Abschiebeabkommen  zwischen der EU und der Türkei unterzeichnet.

 

Karl Kopp

 

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL und Vorstandsmitglied im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 386, Februar 2014, www.graswurzel.net