„... Prozesse und Logiken, die vor allem die privilegierte Mehrheit verlernen muss ...“

Existstrategien im E-Mail-Gespräch mit Marissa Lôbo und Dirk Rupnow

Bildpunkt: Dirk Rupnow, Sie fordern mit anderen gemeinsam seit längerem schon ein „Archiv der Migration“. Es geht dabei unter anderem um Repräsentationspolitik, also um den Versuch, bisher Ausgeblendetes sichtbar zu machen. Aber wie lässt sich so ein komplexer Gegenstand wie Migration eigentlich archivieren? Und welche Strategien gibt es dabei, den unterschiedlichen Themen und Subjekten gerecht zu werden, etwa den Differenzen zwischen sogenannten „Gastarbeitern“ und Flüchtlingen? D.R.: Das ist tatsächlich eine ganz zentrale Frage, die auch gar nicht leicht zu beantworten ist… die auch immer wieder neu gestellt und diskutiert werden muss, denke ich. Entscheidend ist ein veränderter Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft und deren Geschichte mit all ihren transnationalen Bezügen – ein Blick, der offen ist für die alltägliche plurale Realität, jenseits von fatalen Homogenitätsvorstellungen, die leider noch immer dominant sind. Das ist entscheidend. Dabei geht es natürlich um Sichtbarkeit, aber auch um Hörbarkeit: MigrantInnen müssen eine eigene Stimme haben und diese muss auch gehört werden. Für die Praxis des Archivs hieße das: Vorhandene Bestände müssen neu und „gegen den Strich“ gelesen werden, es müssen aber auch gänzlich neue Quellen erschlossen und gesammelt werden, die bisher unbeachtet geblieben sind. Vor allem der „Oral History“ kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, Interviews mit ZeitzeugInnen und Betroffenen sind eine ganz entscheidende Quellengattung in diesem Zusammenhang. Langfristig müssen sich aber die etablierten Institutionen transformieren und öffnen, sie werden auch neue MitarbeiterInnen mit anderen Erfahrungen, Hintergründen und Kenntnissen brauchen usw. Diese Strategie scheint mir grundsätzlich passend zu sein. Das Problem ist aber natürlich, dass wir mit beschränkten Ressourcen auskommen müssen – falls es überhaupt welche gibt. Da kann ich nur pragmatisch antworten: Wir können nicht alles gleichzeitig machen und nicht alles sofort. Strategisch haben wir uns entschieden, mit der so genannten „Gastarbeitermigration“ seit den 1960er Jahren zu beginnen. Das lässt sich auch gut begründen, denke ich, kann aber natürlich auch kritisiert werden. Vor allem heißt es aber nicht, dass das Projekt eines „Archivs der Migration“ darauf beschränkt bleiben soll, ganz im Gegenteil. Es kann seiner Aufgabe nur gerecht werden, wenn es ein offenes Projekt ist, das nicht erneut Ausgrenzungen und Blindstellen produziert. Das ist natürlich leichter gesagt als getan... Entscheidend wird sein, dass ein solches Projekt immer sich selbst reflektiert und auch in Frage stellt, sich seiner Defizite und Probleme bewusst ist. Das sollte keinesfalls als Schwäche verstanden werden, gegenüber den etablierten Positionen, die dies nicht tun, sondern als Stärke. Bildpunkt: Marissa, Du bist als Künstlerin und Aktivistin schon lange in migrationspolitischen Kontexten aktiv. Zuletzt hast Du Dich im Rahmen des Refugee Protest Camp Vienna engagiert. Was würdest Du als Erfolge dieser inzwischen mehr als über einem Jahr bestehenden Bewegung beschreiben, und wo liegen die größten Probleme der Mobilisierung? M.L.: Die Frage nach Erfolgsgeschichten stelle ich nicht so gerne, ich finde spannender, was für Veränderungsgeschichten es gibt. Also was hat der Refugee Protest mit Österreich gemacht? Wie haben die Protagonist_innen des Refugee-Protests die strukturelle Gewalt unter dem Teppich hervorgekehrt, wie haben sie sich ins Bild, auch gerade ins mediale Bild gebracht, als Akteur_innen, als Sprechende. Wie haben sie Österreich gefressen, wie den Finger in die Wunden gelegt? Für mich ist es schwierig, darauf Antworten zu geben, aus meiner Position als Migrantin heraus, die immerhin einen Daueraufenthaltstitel hat und – im Vergleich – privilegiert ist. Ich würde eine Menge Veränderungsgeschichten beschreiben können, aber für die, die täglich von Abschiebung bedroht sind, wäre die einzig relevante Veränderung wohl nur das verdammte Papier zum Bleiben. Und das ist nicht erkämpft worden. Für mich hat die Bewegung als kollektive schon „Erfolg“. Aber wie viele Räume wirklich erschaffen wurden, im kollektiven, individuellen oder strukturellen? Wer wagt das zu beantworten? Und das Spiel ist noch nicht vorbei, auch wenn die mediale Präsenz nach einem Jahr verschwunden ist, wir haben nicht aufgegeben. Aus meiner Sicht ist eine soziale Bewegung, ein selbstorganisierter Prozess der „langen Dauer“, es dauert ewig, neue Bilder zu erzeugen, neue Brücken zu schlagen, alte Strukturen zu verändern. Und sicherlich schlägt das System zurück, durch konstruierte Kriminalisierung, blanke Repression, was Entsolidarisierung und Distanzierung bewirken soll. Für eine Kultur und Kunst des politischen Protests ist Österreich ja nicht berühmt, vielleicht verhelfen wir Minorisierten euch dazu! Allen voran die Refugees. Bildpunkt: In den theoretischen Ansätzen zum Thema Flucht und Fliehen wird seit Jahren um angemessene Herangehensweisen gerungen: Nachdem Flüchtlinge lange Zeit auch von den Sozialwissenschaften etwas paternalistisch als Opfer beschrieben wurden, gab es unter dem Banner der „Autonomie der Migration“ eine starke Gegenbewegung und eine Betonung der subjektiven Handlungsmacht. Diese Perspektive ist einerseits eine richtige Konsequenz aus der falschen Viktimisierung. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, durch die Hinwendung zum Subjektstatus die Strukturen geringzuschätzen, die die Leute eben doch zu Passivität und Reaktion verdammen. Wo ist die Handlungsmacht von Geflüchteten/Flüchtenden gegenüber Frontex? D.R.: Zu dieser Veränderung der Perspektive kam es ja in unterschiedlichen Kontexten, etwa auch in der Holocaustforschung, mit der ich mich lange beschäftigt habe. Ich würde denken, dass es ein Fortschritt ist, Menschen nicht einfach auf den Status als passive Opfer zu reduzieren, sondern sichtbar zu machen, dass sie eine Geschichte haben, dass sie Entscheidungen treffen können usw. Will man den Opfern so etwas wie Würde wiedergeben, so wird es notwendig sein, ihre ganze Geschichte zu erzählen und nicht nur den Moment ihrer vollkommenen Machtlosigkeit und Erniedrigung. Aber natürlich wäre es fatal, wenn man dabei die Strukturen und Rahmenbedingungen aus den Augen verlieren würde, die den Handlungsspielraum fallweise vollkommen annullieren. Diese Perspektive macht nur Sinn, wenn die realen Machtverhältnisse beachtet und analysiert werden. Sie werden aber wiederum erst richtig sichtbar und durchschaubar, wenn man gleichzeitig auch die Handlungsspielräume der Menschen betrachtet. M.L.: Die strukturellen Machtverhältnissse sind sehr klar, die Refugees in einer extremen Prekarität, und alle Aktivist_innen, die diese Bewegung tragen, sind ebenfalls notorisch prekarisiert. Es ist also eine Bewegung, in der die Basis sich in einer sehr instabilen Situation befindet. Und dennoch, es gibt mittlerweile Beispiele von Flüchtlingsbewegungen, Sans Papiers und anderen, denen es gelungen ist, ein politisches Subjekt zu konstruieren, aufbauend auf vielen Jahren Erfahrung im Kampf gegen die Positionierungen als Opfer, nicht zuletzt innerhalb von sozialen Bewegungen, in denen die Diskrepanz der Privilegien groß ist und hinter den Konstruktionen eines Kollektivs verborgen wird. Aus meiner Sicht sind das Prozesse und Logiken, die vor allem die Europäer_innen, die privilegierte Mehrheit verlernen muss, die ganz selbstverständlich gewohnt ist, immer in der Position der Macht zu sein, immer legitimiert durch ihre solidarische Identifikation mit den Machtlosen, den Minorisierten. Das ist ein enormes Kapital, diese Annäherung, dieses Engagement. Ich denke, dass Refugees radikaler sind in ihren Kämpfen als viel besser abgesicherte Aktivist_innen und diese Radikalität bedeutet in vielen Fällen, das gefährdete Leben einzusetzen. Ich sehe das als eine, auch erschreckende, Macht im Kampf der Refugees gegen die strukturelle Gewalt und paranoide Kontrolle, so wie Mohammad Numan sagt, sie können die Grenzen schließen , sie können uns deportieren, aber wir kommen wieder. Die Macht der Immobilisierung von Frontex kann die Refugees nicht aufhalten. Und ist das nicht mächtig? Bildpunkt: Es gibt ein starkes Missverhältnis zwischen der enormen Mobilisierung von Refugees in den letzten Jahren und der geringen Rolle, die sie in öffentlichen, staatspolitischen Diskursen spielen. In Bezug auf Parteien und die parlamentarische Demokratie scheint das daran zu liegen, dass in den Regeln des Diskurses das „Thema Flüchtlinge“ einfach ein rechtes Thema ist und ein positives Aufgreifen von links wahlstrategisch eher kontraproduktiv scheint. Seht Ihr demgegenüber neue Möglichkeiten für einen emanzipatorischen Umgang mit Flucht und Fliehen? D.R.: Das beobachten wir ja in der öffentlichen Diskussion nicht nur beim Thema Flüchtlinge, sondern auch bei Migration im weiteren Sinne… Bedauerlicherweise. Einen „linken“ politischen Diskurs gibt es dazu fast nicht, sondern nur die vereinfachende Integrations- und Leistungsrhetorik seitens der ÖVP und die rassistische Ausgrenzungsrhetorik der FPÖ. Das hinterlässt natürlich Spuren. Dass der Status von Flüchtlingen dabei besonders prekär ist, hat bereits Hannah Arendt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg festgehalten. Von ihr wurde das vor allem als Staatenlosigkeit verhandelt – ein Schicksal, das sie selbst geteilt hat. Ausgehend davon konstatiert sie ein „Recht, Rechte zu haben“. Letztlich geht es doch insgesamt darum, dass wir in der globalisierten Welt, in der Migration in unterschiedlichen Formen zum Alltag gehört und die Gesellschaften zunehmend pluraler werden, Zugehörigkeiten und Menschenrechte anders verhandelt werden müssen als im Zeitalter des Nationalismus, in dem Homogenität allerdings auch immer erst gewalthaft hergestellt wurde, mit den bekannten katastrophischen Folgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und so etwas wie Menschenrechte nur denjenigen garantiert wurden, die eben als zugehörig galten. M.L.: Leider ist das Gedächtnis so kurz oder die Verdrängung so stark, das halbe Burgenland ist aus Hunger nach Übersee geflüchtet. Heute macht Eberau dicht gegen die „Scheinasylanten“. Ich muss sagen, nach meinen Erfahrungen aus dem Refugee Protest ist mein Vertrauen in die österreichische Politik und ihre Protagonist_innen nicht größer geworden. Bildpunkt: Der teils geringen Aufmerksamkeit, die den Protesten von bürgerlichen Medien und Parteipolitik zukam, steht ein umso größeres Interesse von linken, kritischen Medien und Institutionen gegenüber. Wie sich jedoch zuletzt auch an den Ereignissen rund um die Akademie der Bildenden Künste Wien zeigte, schlägt die symbolische Unterstützung der Refugees selten auch in materielle um – es scheint wenig Spielraum zu geben, oder er wird wenig ausgedehnt, ausgenutzt. Vermehrt ist vonseiten der Protestbewegung an eben dieser Diskrepanz Kritik geübt worden. (Wo) Seht Ihr hier Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu effektiverem Handeln? M.L.: Ich glaube, dass der Protest der Refugees sich sehr über symbolisches oder soziales Kapital und durch den medialen Impact, den er erzeugt hat, definiert. Die Bewegung in die Akademie war ein Versuch, wieder eine neue Sichtbarkeit zu erreichen. Die Forderung war sehr konkret. Es ging nicht um ein neues Caritas-Quartier, sondern darum, einen Ort zu haben, um zusammen, mit neuen Alliierten, die Bewegung auszuweiten. Die Akademie hat diesen Wunsch nach symbolischem Raum nicht „finanziert“. Ich denke, es hat jede Menge praktische Solidarität der intellektuellen und künstlerischen Szene gefehlt. Man demonstriert, symbolisiert, theoretisiert ungeheuer viel Solidarität, aber man wird offenbar auch rasch müde nach den distanzierten Analysen über die Potentiale oder Fehler der neuen Bewegung. Man bleibt gerne die Expert_in und erklärt die anderen zu Sozialarbeiterinnen oder Autonomen. Wenige möchten sich in die Realität solcher Bewegungen einmischen und befassen sich lieber mit politischer Kunst, die mit politischer Praxis wenig zu tun hat. Wenn ihr also fragt, wie ein effektiveres Handeln aussehen könnte: Es würde mit zivilem und epistemischem Ungehorsam beginnen, es würde aufhören damit, sich von der Rebellion gegen die Ideologie des Legalen beleidigt zu fühlen, und es würde von den Refugees lernen, dass das Materielle der Agent politischen Handelns ist. Marissa Lôbo ist Aktivistin, tätig im Bereich kultureller und politischer Bildung. Sie arbeitet beim Verein maiz (Linz) und ist Obfrau des Vereins Forum Interkulturalität. Sie studiert post-konzeptuelle Kunst an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Dirk Rupnow ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und seit 2010 dessen Leiter. Er leitet derzeit diverse Forschungsprojekte zur Migrationsgeschichte. Das Gespräch wurde um den Jahreswechsel 2013/14 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt. Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 31, „Exitstrategien“