Der Effekt der Unterkühlung

Der Film Blau ist eine warme Farbe verspielt die Erzählvorlage des Graphic Novels

BLAU GILT ALS Farbe der Sexualität. In Julie Marohs Graphic Novel Le bleu est une couleur chaude wächst das Blau weit über sich hinaus: Als Farbe der queeren Liebe untermalt es die unterschiedlichen Schattierungen der über viele Jahre hinweg wachsenden, sich immer weiter transformierenden Beziehung zwischen Clementine und Emma. In den leisen und lauten Momenten der Neugier, Leidenschaft, Selbstzerstörung und Neufindung, die die beiden durchleben, blitzt das Blau immer wieder hervor. Mal springt es intensiv und satt ins Auge wie die Liebe auf den ersten Blick, dann legt es sich hell und sanft über Clementines Tagebücher, die sie Emma hinterlassen wird. Als illustratives Mittel funktioniert Marohs sparsamer, aber treffender Einsatz der Farbe hervorragend als Verbindungselement zwischen den vielen Jahren, über die hinweg sich die beiden Frauen begegnen, trennen und wieder begegnen.

Dass auch Emmas Haare blau sind, ist längst nicht so spektakulär wie ihre in Blau getauchten Hände, die sich Clementine nach ihrer ersten Begegnung erträumt. Diese Hände tragen nicht das Krankenhausblau der Safer-Sex-Handschuhe, die sie evozieren, sondern tauchen den Raum in die changierenden Töne einer fantasierten, dann gelebten queeren Sexualität, der die Liebe längst vorausgeeilt ist. Denn damit die beiden endlich nachgeben, muss Clementine erst stur und verzweifelt Emma heimlich nach Hause folgen, sie nach Wochen der spannungsgeladenen Nähe anschreien, „warum nimmst du mich nie mit zu dir?“. Dabei war es doch die jüngere Clementine, die sich ihr Begehren für Frauen erst eingestehen musste. Dieser Coming-of-Age-Topos ist Teil einer Erzählung, die jedoch viel mehr zeichnet als das simpel gestrickte Raster aus erster Liebe, Schmerz und Selbstfindung, nach dem das Genre so häufig verläuft.

IM WINTER 2013 ist Le bleu est une couleur chaude als Blau ist eine warme Farbe im Splitterverlag auch auf Deutsch erschienen – pünktlich zum Filmstart von La vie d’Adèle, der Ende Dezember ebenfalls unter dem Titel Blau ist eine warme Farbe in den deutschsprachigen Kinos angelaufen ist. Leider bleibt Abdellatif Kechiches Verfilmung hinter der Graphic Novel zurück. Einen Film an seiner Buchvorlage zu messen kann müßig sein, denn als eigenständiges visuelles Genre kann er nicht eins zu eins abbilden, wird andere stilistische und erzählerische Mittel einsetzen, um eine eigene Geschichte zu zeigen, und will auch für sich stehen. Doch La vie d’Adèle lässt nicht nur weg und fügt hinzu, sondern erzählt eine solch andere Geschichte, dass es sich zu fragen lohnt, was hier passiert.

Filmisch ist La vie d’Adèle wunderschön erzählt, er lässt sich Zeit – ganze drei Stunden – und geht nah an die Charaktere heran, vor allem um die Schülerin Adèle (Adèle Exarchopoulos) einzuführen, in all ihrem eigensinnigen Charme und jugendlicher Intensität. Wer das Kino verlässt, kennt die Konturen der Gesichter. Vor allem Adèles Mund ist uns vertraut, bis zum Rotz der Oberlippe, die sie sich nicht einmal abwischt in den zwei Stunden, in denen sie durchzuweinen scheint. Die Malerin Emma sieht Adèle mit scheinbar auf Abstand bleibenden, aber jedes Detail aufsaugenden Augen an. Die Liebe einer erfahreneren Partnerin, die alle kommenden Verletzungen bereits zu spüren scheint, lässt Léa Seydoux derart subtil um ihre Mundwinkel spielen, dass wir ihr vom ersten Moment glauben, dass sie ihre Muse vor sich hat. Ein Klischee, dem wir gerne zuschauen, bis es schlussendlich bis zur körperlichen Gewalt überzeichnet wird. Emma ohrfeigt Adèle, schmeißt sie samt ihren Klamotten auf die Straße.

Das klassische lesbische Drama zwischen Adèle und Emma, das der Film erzählt, die queeren Nuancen des Buches verwischend, hängt sich an Adèles Affäre mit einem Mann auf. Wäre die Protagonistin des Buchs, Clementine, als bisexueller Charakter angelegt, wäre dieses Drama absehbar bis langweilig. Es fällt jedoch auf, dass Adèles erste Sexszene im Film mit ihrem Freund stattfindet, mit dem sie im Buch aber gerade nicht schläft, weil sie spürt, dass ihr Begehren in einem undurchsichtigen Woanders liegt. Ihr schwuler Freund, der ihr bei dieser Suche hilft und als Schlüsselfigur die beiden Frauen nach Jahren wieder zusammenführt, fehlt im Film bis auf den Anfang gänzlich. Stattdessen finden sich eine Reihe weich gekochter Metaphern.

Adèles Mund ist so zentral, dass der Film auch La bouche d’Adèle heißen könnte. Auf dem ersten Date mit ihrem Freund, will sie nicht süße Crêpe, sondern Gyrosfleisch; genießerisch Schinken schmatzend erklärt sie Emma, dass sie Essen liebt, alles außer Meeresfrüchte, die sie absolut verabscheut. Genau die haben Emmas Eltern beim Kennenlern-Dinner gekocht. Adèles Ekel ist schnell vergessen und wir sehen ihr dabei zu, wie sie mit Emmas Hilfe lernt, Austern zu schlürfen. Es geht also vom sprichwörtlichen ‚eating meat‘ zum visuell überladenen ‚eating pussy‘.

DIE FRAGE DES sexistischen Blicks, der ja bereits vor dem Filmstart im Bezug auf die lesbischen Sexszenen aufs Ausgiebigste diskutiert wurde, stellt sich allerdings gar nicht unbedingt an deren Stelle. Weder sind sie so lang, noch so genitalzentriert, wie die vielen Rezensionen und Blog-Posts in heterosexuellen wie queeren Medien vermuten ließen. Die helle Ausleuchtung und der Staccato-artig aneinander geschnittene Wechsel verschiedener Stellungen lassen die Liebesszenen zwischen Sterilität und Atemlosigkeit pendeln. Dass die nackte Adèle, die weinend in der Dusche steht, vom Arsch aufwärts gefilmt werden muss, ist allerdings so irritierend, dass die Herangehensweise der Regie durchaus zum Thema werden kann. Interessant ist Kechiches Strategie, die Schauspielerinnern gänzlich zu ihren Figuren werden zu lassen. Der Film ist chronologisch gedreht, was ein dichtes Entwickeln der Rollen erlaubt. Die darstellerischen Leistungen von Exarchopoulos und Seydoux sind nicht nur überzeugend, sondern tief berührend. Dass die Kamera sogar in den Pausen an den Schauspielerinnen dranblieb, deutet auch auf schwierige Mittel hin, die sich für viele Filmemacher_innen diskutieren lassen.

Bleibt man bei der Erzählstruktur, so fällt auf, dass an die Stelle des schwulen Freunds eine Reihe anderer Männerfiguren getreten sind. Da ist zum Beispiel der Künstlerfreund, der eine amüsante Rede über seinen Neid auf den weiblichen Orgasmus hält, was allerdings langsam ins Unangenehme kippt, als er anfängt, die ins weite Universum entfliegenden Augen seiner Sexpartnerinnen zu beschreiben.

Oder der Schauspieler, der Adèle die Aufmerksamkeit gibt, die Emma ihr im Kreise ihrer Art-School-Crowd nicht zu Teil werden lässt, und ihr am Schluss des Films – so viel Spoiler sei hier erlaubt – hinterherläuft. Nämlich als Adèle aus Emmas Ausstellung rennt, weil sie realisiert, dass diese bei Frau und Kind bleiben und nicht zu ihr zurückkehren wird, so blau ihr Kleid auch sein mag. Ihr Versuch, mit ihrem markanten Mund Emmas ganze Hand zu umfassen, sie an den Sex zu erinnern, den sie bei ihrer neuen Muse nicht bekommt, war zuvor schon gescheitert. Die Intensität, mit der sich Emma auf Adèle stürzt, mitten im Nachmittagskaffee, schneidet sie genauso abrupt wieder ab, wie der Film am Ende die Liebe scheitern lässt – auch wenn er mit der Einblendung ‚Kapitel 1 und 2‘ zumindest ein offenes Ende suggeriert.

GENAU HIER verschiebt sich die Geschichte von einer lebenslangen, immer wieder aufblitzenden Liebe, die Maroh in ihrer Graphic Novel zeichnet, zu einer einseitigen Obsession Adèles, die nicht loslassen kann. Dass Clementine im Film den Namen Adèle trägt, ist nicht nur bezeichnend, weil es auch der Vorname ihrer Darstellerin ist, sondern es ist treffend dafür, dass Kechiche eine gänzlich neue Figur gezeichnet hat und Clementine/Adèle derart abwandelt, dass es an das grenzt, was im Englischen umgangssprachlich als ‚Character Assassination‘ bezeichnet wird. Adèle wird zum Housewife-Konstrukt, das die Freunde der Künstlerfreundin bekocht und sich von ihr und ihrer Familie anhören muss, sie solle ihr literarisches Talent nicht an ihre Grundschüler verschwenden. Genau diese Frustrationen erklären, warum Adèle eine Affäre hat; andere mögliche Gründe, wie die Homophobie einiger Mitschülerinnen, werden zwar zu Beginn des Films graphisch vor Augen geführt, doch die Erfahrung des Verstoßen-Werdens aus der homophoben Familie fehlt gänzlich. Adèle bleibt naiv, passiv selbst in ihrem halbherzigen, fast selbstläuferischen Sabotieren der Beziehung, und sie schlägt auch nicht zurück, als Emma sie als Schlampe beschimpft und rauswirft.

Anders bei Maroh. Clementine ist vielleicht unerfahren, doch naiv ist sie nicht. Sie ist es, die der Beziehung den Anstoß gibt, sie, die sie zwar viel kaputt macht, doch auch sie, die später Emma aus der Depression reißen wird, aus der sie selbst nicht entfliehen konnte. So dramatisch die beiden Frauen auch miteinander verstrickt sein mögen, selbst in den tieftraurigen Elementen von Marohs Erzählung sind die emotionalen Spuren nie auf die Verbindung zwischen Clementine und Emma reduzierbar, sondern lassen die ganze Tragik einer homophoben Kultur anklingen, in der familiäre Bindungen ganz und gar prekär erscheinen. Dieser größere Kontext lässt auch die Graphic Novel an der Überladung entlang schleifen.

Doch eben diese Überladung ist auch eine Spiegelung der politischen Atmosphäre eines ins Konservative (zurück)rückenden Frankreichs, die gerade in diesem Moment absurd tief- und weitgreifende Ausmaße annimmt. So zum Beispiel in den Strategien des Bündnisses La Manif Pour Tous(„Demonstration für alle“), das zunächst gegen die Homo-Ehe mobilisierte und nun der Regierung eine Ideologie der „Familienphobie“ und „Gender Theorie“ vorwirft, die die „geschlechtlichen Unterschiede“ sowie die einzig gesunde Familienkonstellation, nämlich die biologische, heterosexuelle Kleinfamilie, bedrohe und der „sexuellen Präferenz“ unterwerfe.

WIE HIER Erzählungen wirken, die das Scheitern in die Figuren legen statt in die Strukturen, durch die sie sich kämpfen, sei dahingestellt und ebenso, ob La vie d’Adèle genau darum so viel Aufmerksamkeit bekommen konnte, weil die Geschichte an vielen Stellen berechenbar bleibt. Jeden Film darauf abzutasten, ob uns die Repräsentationen gefallen, ist ein verständlicher, aber auch grenzwertiger Impuls. Denn es kann nicht um gefällige Erzählungen voller niedlicher Charaktere gehen, in der queere Figuren immer gut wegkommen. Doch auch die Abgründe und der schorfige Weg aus ihnen heraus lassen sich auf verschiedene Art und Weise erzählen. Kechiches Erzählstruktur, gespickt mit lästigen Metaphern, bleibt ambivalent. La vie d’Adèle ist trotz einiger sexistischer Kameraeinstellungen kinematographisch höchst attraktiv und die darstellerischen Leistungen tiefgehend. Zu Recht wurde die Goldene Palme zum erstem Mal in ihrer Geschichte auch an die Hauptdarstellerinnen verliehen. Julie Maroh hätte sie im Übrigen auch verdient.