Zur aktuellen Entwicklung in der Ukraine:

„Schocktherapie“ als Ergebnis eines Übergangs vom Regen in die Traufe

Der Staatsstreich in Kiew Ende Februar 2014, der von manchen naiven BeobachterInnen als ein „Sieg der Volksbewegung“ bzw. sogar als eine „Revolution gegen die Korruption“ empfunden wurde, demonstrierte wieder einmal die Richtigkeit einer alten Wahrheit: politische Umstürze, die lediglich herrschende Gruppen, Cliquen oder Personen durch andere ersetzen, haben in unserer Zeit nur einen eindeutig reaktionären Charakter. Und wenn diese oder andere Teile der arbeitenden Leute auf die Straßen gehen, um die oppositionelle MachtbewerberInnen zu unterstützen, wiederholen sie immer einen und denselben Fehler: die neue Machthaber beginnen sofort, eifrig und sorgfältig dieselben „Massen“ zu berauben, die ihnen zur Macht verhalfen. 

 

Die neue ukrainische Regierung ist noch nicht dazu gekommen, ihre Kontrolle zu verfestigen, begann aber schon mit ihrer antisozialen Offensive gegen die ArbeiterInnen, Rent­nerInnen und andere sozial schwache Leute. Der ehemalige Präsident Janukowitsch weigerte sich bekanntlich einige der IWF-Forderungen zu akzeptieren, die zu einem drastischen Spar-Regime führten. Es versteht sich von selbst, dass er das nicht darum tat, weil er so fortschrittlich war: er fürchtete nur, dass solch unpopuläre Maßnahmen ihm eine Wahlniederlage garantiert hätten.

Die „revolutionären“ Herrscher, deren Macht durch eine „Unterstützung seitens des Majdan“ und durch eine unsägliche Welle des Nationalismus legitimiert wurde, können sich schon ganz frei fühlen. Sie können sich für eine gewisse Zeit leisten, rege Angriffstätigkeit zu entfalten. So führte die Regierung von Arsenij Jazenjuk das Regime einer „Schocktherapie“ ein, das sich der schüchterne Janukowitsch nicht gönnte.

Am 27 März 2014 billigte das ukrainische Parlament die Re­gierungsvorschläge über die Korrekturen im Staatshaushalt (http://inpress.ua/ru/politics/27430-rada-odobrila-popravki-v-gosbyudzhet...). Seit dem 1. April gilt in der Ukraine das Gesetz „Über die Abwendung der Finanzkatastrophe“, das mehrere Maßnahmen vorsieht, die in einer Vereinbarung zwischen der Jazenjuk-Regierung und dem IWF enthalten sind (http://vesti.ua/strana/44765-sokrawenija-ot-arsenija).

Der neue Ministerpräsident ging nicht umsonst nach Eu­ropa mit einer gezogenen Mütze und einem nach Almosen ausgestreckten Hand. Die Ukraine wird die gewünschten Milliarden-Kredite bekommen. Abbezahlen werden das aber natürlich nicht die triumphierenden „alten“ Oligarchen, die endlich ihre Konkurrenten um Janukowitsch beseitigten, sondern vor allem die ArbeiterInnen und die RentnerInnen. Die ersten werden einige zusätzliche Zahlungen nur noch als kleine Nadelstiche empfinden. Für die zweiten wird das eine soziale Katastrophe. 

 

Hier sind nur einige Maßnahmen aus dem drakonischen Sparprogramm der neuen Regierung:

Der Mindestlohn wird mindes­tens für ein Jahr eingefroren, und zwar auf dem Niveau von 1218 Griwna (1 Euro = 15,5 Griw­na, Stand: Anfang April 2014)

Die Finanzierung des Rentenfonds wird auf mehr als 3,5 Milliarden Griwna gekürzt. Die Herabsetzung der Minimalrente von 1014 bis 949 Griwna (wie die Leute mit diesem Elendsgeld überleben sollen, das bleibt das Geheimnis der Kiewer Minister und Parlamentarier)

Die Kürzung mehrerer Zuschüsse und Vergütungen für die ArbeiterInnen im Staatssek­tor

 

12.000 Arbeitsplätze der SozialarbeiterInnen werden abgebaut

Die Reduzierung der Sozialleistungen, wie z.B. Kinderbeihilfe, Hilfe für die weniger verdienenden Familien, für die behinderten Kinder (Einsparung insge­samt von 420,6 Millionen Griw­na). Die Einführung der einmaligen Unterstützung bei der Kindergeburt statt früheren Differenzierung je nach der Zahl der Kinder (Einsparung von 3,8 Milliarden Griwna). Diese einmalige Unterstützung (41280 Griwna) werden dann die Eltern nicht sofort bekommen: 10320 Griwna unverzüglich und dann 3 Jahre lang 860 Griwna monatlich.

Die Gas-Preise werden seit dem 1. Mai um 50% für die Bevölkerung und seit dem 1. Juli um 40% für die kommunale Heizenerge­tik erhöht. Die ukrainischen Verbraucher (so Jazenjuk) zahlen für das Gas zu wenig: 84 US-Dollar für 1000 Kubikmeter (in Moldawien 470 Dollar, in Bulgarien 325 Dollar). Der unabhängige ukrainische Experte Walentin Semljanskij meint aber, dass „der einzige Grund für die 1,5-fache Gaspreisver­teuerung die Forderung des IWF ist“. Der Ministerpräsident musste eingestehen, dass danach die Zahl der sozial schwachen Familien sich mehr als verdoppeln wird, versprach ihnen aber die gezielte Hilfe bis zu 500 Griwna monatlich!

 

Durch eine spezielle Steuer werden die Arzneimittel in den Apotheken um 10% teurer

Seit dem 1. Juli steigt die Ta­baksteuer um 25% (von 173,2 bis 216,5 Griwna für 1000 Stück). In der Realität wird das zu einer Teuerung der Zigaretten um 30-33% führen, meint Wladimir Demtschak, führende Figur in der Assoziation der Produzenten der gesteuerten Waren.

Seit dem 1. September wächst die Alkoholsteuer um 20% (von 56,4 bis 70,53 Griwna für 1 Liter). So würde der billigste Wodka 36 Griwna statt 30,1 Griwna kosten. Die Experten meinen aber nicht, dass die Bevölkerung weniger trinken wird: die Leute werden stattdessen den qualitativ schlechteren, oft sogar gesundheitsgefährden­den selbstgebrannten Wodka kaufen (etwa 16 Griwna).

Seit dem 1. Mai wächst auch die Biersteuer um 1,24 Griwna pro 1 Liter . Eine Flasche würde dann 0,6 bis 0,64 Griwna mehr kosten, meinen die Experten.

Das sind nur einige aus der langen Liste der Sparmaßnahmen der neuen ukrainischen Koalitionsregierung der Neoliberalen und Rechtsnationalisten. Die Experten und Beobachter sind sich einig, dass das nur der An­fang ist.

Der soziale Sinn dieser Politik ist unzweideutig. Sogar die bürgerliche Zeitung „Ukrainskaja Prawda“, die stur  den Majdan unterstützt und diesmal für das Kleinbürgertum plädiert, muss jetzt anerkennen: „Die Oligarchen fassen festen Fuß an der Macht, indem sie die „Familie“ (d.h. Janukowitsch-Clan, – V.D.) niederwarfen. Sie beabsichtigen nicht, die Finanzkrise auf ihre Kosten zu bekämpfen“ (www.epravda.com.ua/publications/2014/04/2/433746/)

Die ProtestteilnehmerInnen, die wollten, dass es in der Ukraine „wie in Europa“ würde, bekommen jetzt das, was sie erkämpften. Eine soziale Katastrophe unter der Fahne der „Antikrise-Maßnahmen“, die mit einer Mittäterschaft der EU-FührerInnen bereits über solche Länder Eu­ropas wie Griechenland, Spanien und Portugal herfiel, steht jetzt den EinwohnerInnen der Ukraine bevor. Tut mir leid: „Tu l`as voulu George Dandin!“… Oder ein stolzes Gefühl der Selbstidentifikation als „zivilisierte Europäer“ ist solche Opfer wert?

Sowie in der Ukraine, als auch in Russland gibt es eine Redewendung: „auf ein und denselben Rechen treten“. So sagt man über die Menschen, die im­mer dieselben Fehler wieder und wieder machen. Zum Beispiel auch, wenn sie zwar ihre Herrscher durch andere ersetzen, nicht aber die Politik ändern, nicht ihre eigene Lage verbessern. „Warum ist eigentlich Dreizack das Wappen der Ukraine?“, sagte mir traurig meine Bekannte aus Charkiw. „Es müssen eigentlich Rechen sein“.  „Mit Russland ist es dasselbe”, antwortete ich.

 

Vadim Damier, Moskau

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 389, Mai 2014, www.graswurzel.net