Späte Erkenntnisse

Anfang des vergangenen Jahres hat die Europäische Umweltagentur EEA ihren zweiten Bericht zum Vorsorgeprinzip herausgegeben. Er zeigt an Fallstudien auf, wie es dazu kommt, dass Warnsignale wider besseren Wissens ignoriert werden können.

David Quist, Jack Heinemann, Anne I. Myhr, Iulie Aslaksen und Silvio Funtowicz verhandeln in dem neuen Bericht der Europäischen Umweltagentur unter dem Titel „Late lessons from early warnings“ (etwa: Späte Erkenntnisse aus frühen Hinweisen) auch den Themenkomplex Agro-Gentechnik und Vorsorge.(1) Für die AutorInnen ist die Agro-Gentechnik zweifellos ein Kandidat für eine in nicht allzuferner Zukunft zu erwartende „Späte Erkenntnis" - ein „late lesson case in the making“.

Weil in der Vergangenheit schon wiederholt Gesundheits- und Umweltschäden aufgetreten sind, die vermeidbar gewesen wären (2), stellen Quist und KollegInnen die Frage, wann eigentlich der Punkt erreicht ist, an dem man weiß, dass Sicherheitsmaßnahmen bezüglich der Verwendung gentechnisch veränderter Organismen eingeleitetet werden müssen. Dies führt sie zu der Frage:

Wie stark ist die Evidenz von Sicherheit gegenüber der von Risiko?

Viele Biosicherheits-Untersuchungen folgten dem Motto: „Der fehlende Nachweis von Schaden ist gleichzusetzen mit Sicherheit im Sinne von Ungefährlichkeit“. Quist und KollegInnen betonen aber: Viele der Untersuchungen konstatierten Sicherheit auf der Basis von Schlussfolgerungen (oder Interpretationen) und nicht auf der Basis von Beweisen.

Die AutorInnen um Quist charakterisieren eine Reihe von Hindernissen bei der Durchführung von Biosicherheitsforschung; diese seien unter anderem:

Die Gentech-Industrie schließt mit ihren Kunden, seien dies nun ForscherInnen oder FarmerInnen, Verträge ab, denen zufolge die Weitergabe von gekauftem GVO-Saatgut nicht erlaubt ist. So kontrolliere die Industrie, wer mit dem Material forschen darf. Eine wirklich unabhängige Untersuchung von gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln sei aus diesem Grunde praktisch nicht möglich.

Die Mittel, die für Forschung und Entwicklung der Gentechnik ausgegebenen werden können, übertreffen die finanziellen Mittel für die Biosicherheitsforschung um ein Vielfaches. In den USA habe das Landwirtschaftsministerium USDA im Zeitraum von 1992 bis 2002 bis zu 1,8 Milliarden US-Dollar an Forschungsgeldern für die Agro-Gentechnik ausgegeben. Etwa ein Prozent davon (18 Millionen US-Dollar) geht in die Biosicherheitsforschung .

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren Fokus auf Vorsorge legen, hätte dies schwerwiegende Auswirkungen auf ihre Karriere. ForscherInnen, die beispielsweise wissenschaftliche Ergebnisse publizierten, die den Interessen der Entwickler gentechnisch veränderter (gv) Pflanzen zuwiderliefen, hätten persönliche und berufliche Attacken auf ihre Arbeiten oder den Verlust von Forschungsgeldern erleiden müssen.

Zulassungsverfahren

Die Freisetzung von gv-Pflanzen in die Umwelt sei, so schreiben Quist und KollegInnen, zwar in vielen Ländern an ein Zulassungsverfahren gekoppelt, das sich an den Empfehlungen internationaler Organisationen oder Abkommen orientiere, zum Beispiel an den Vorgaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) oder dem Cartagena Protokoll unter dem Dach der Vereinten Nationen. Es sei jedoch möglich, dass Risikobewertung durch die Politik unterminiert werde. Dies könne zum Beispiel geschehen, indem Risiko-Standards zugelassen werden, mit denen die Wahrscheinlichkeit steige, dass negative Effekte während des Verfahrens nicht entdeckt werden.

Einige Beispiele:

Viele zuständige Behörden verlangen, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen der gentechnisch veränderten Pflanzen von den Entwicklern selbst durchgeführt und dann der Regulierungsstelle zur Verfügung gestellt werden. Die Behörden selbst hätten oft nicht die Kapazitäten, um derartige Untersuchungen durchzuführen. Diese fehlende Unabhängigkeit bei der Untersuchung beeinflusse die Ergebnisse. Das sei eine Folge des sogenannten „Funding-Effekts“ - demzufolge es einen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen von Untersuchungen und den Wünschen der Geldgeber gibt. Verschiedene Wissenschaftler hätten zeigen können, dass diese Effekte bis weit in die öffentlich finanzierte Forschungsgemeinde hineinreichen, insbesondere in der Biotechnologie.

Bestimmte Informationen in den Unterlagen der Entwickler der GVO werden von diesen als von besonderem geschäftlichen Wert gekennzeichnet und dann durch besondere Vereinbarungen geschützt, das heißt nicht veröffentlicht. Wenn die MitarbeiterInnen der Regulierungsstellen dieser Geheimhaltung bestimmter Informationen der Risikobewertung zustimmen, wird die Reproduzierbarkeit beziehungsweise eine Prüfung oder Wiederholung der Untersuchung verhindert. Transparenz ist ein wesentlicher Bestandteil wissenschaftlicher Publikation und Praxis - fehle aber in vielen Risikobewertungen.

Eine übliche Praxis der heutigen Risikobewertung gentechnisch veränderter Pflanzen sei der vergleichende Ansatz. Die neue gv-Pflanze wird mit einer ähnlichen - nicht-gv - Pflanze verglichen, um herauszufinden, ob potentielle Gefährdungen nachgewiesen werden können. Ergänzend werden jedoch heute oft weitere - ebenso nicht gentechnisch veränderte - Refeferenzsorten in den Vergleich aufgenommen, wodurch sich die Bandbreite der Unterschiede zwischen den Sorten in der Untersuchung erhöht. Das führe zu einer Art Rauschen, in dem tatsächlich bestehende Unterschiede nicht mehr erkennbar seien - dieses Rauschen werde dann als „biologische Variation“ bezeichnet.

Wissenschaftliche Risikobewertung wissenschaftlicher machen?

Quist und KollegInnen gehen in der Folge der Frage nach, ob „das Vorsorgeprinzip die wissenschaftliche Risikobewertung wissenschaftlicher machen“ könne. Das Vorsorgeprinzip sei bisher als wesentlicher Teil der GVO-Regulierung legitimiert (zum Beispiel in der Europäischen Union oder dem Cartagena Protokoll). Nichtsdestotrotz werde es bis heute vor allem als Werkzeug im Management von Risiken wahrgenommen und nicht als Teil der wissenschaftlichen Risikobewertung. Wenn KritikerInnen das Vorsorgeprinzip als Handelsbarriere oder als Ursache einer starken Regulierung diskreditieren, sei dies eine Fehlinterpretation dessen, wie das Vorsorgeprinzip angemessen angewandt werden könnte. Es könne in zweierlei Art und Weise eine Rolle in der wissenschaftlichen Risikobewertung spielen: Seine Anwendung bedeute eine striktere Auslegung wissenschaftlicher Standards - deshalb seien der Bedarf, das Vorsorgeprinzip anzuwenden, und die Erfordernis, strikten wissenschaftlichen Standards zu folgen, nicht inkompatibel, sondern komplementär. Außerdem gehe es um die Anerkennung und Kommunikation von Unwissen und Unsicherheiten, da diese wesentlicher Bestandteil von wissenschaftlicher Risikobewertung seien.

Weiter bestehende Rahmenbedingungen

Quist, Heinemann, Myhr, Aslaksen und Funtowicz kommen zu dem Schluss, dass die wesentliche „late lesson, that may be emerging fom GM crops“ (späte Lehre, die wir aus dem Fall der gentechnisch veränderten Pflanzen ziehen könnten), möglicherweise nicht der Nachweis eines Schadens ist, sondern die Erkenntnis, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, die in der Vergangenheit schon zu „späten Erkenntnissen“ (wie zum Beispiel bezüglich Asbest oder BSE) geführt haben, noch immer bestehen.

Christof Potthof ist Redakteur des GID und Mitarbeiter des GeN.

 

Fußnoten:

(1) David Quist, Jack Heinemann, Anne I. Myhr, Iulie Aslaksen und Silvio Funtowicz (2013): GM crops: a late lesson case in the making. In: „Late lessons from early warnings: science, precaution, innovation“. European Environmental Agency, Environmental issue report No. 1/ 2013. Download: www.eea.europa.eu.

(2) Siehe dazu auch den ersten Band des Berichtes. „Late lessons from early warnings - the precautionary principle 1896-2000“ European Environmental Agency, Environmental issue report No. 22/2001. Download: www.eea.europa.eu.