Über den Sinn der Streitbarkeit in Fragen von Kritik und Reflexivität

Eine virtuelle Diskussion

Die Metapher der einen Spiegel tragenden Eule in der Geschichte des Till Eulenspiegel trifft ganz gut, welchen Sinn und Zweck eine Diskussion über die beobachtbare Konjunktur von Herrschafts- und Gesellschaftskritik in der Sozialen Arbeit und weit darüber hinaus entwickeln kann. Die Eule der Minerva als Metapher legt uns nahe, dass die Weisheit in der Dämmerung kommt, wenn Ereignisse bereits Geschichte und somit nicht mehr veränderbar sind. Liest man Eulenspiegel als Herrschafts- und Gesellschaftskritiker, dann geht es ihm darum, die bestehenden Verhältnisse und die dominanten sozialen Praktiken zu spiegeln, also sichtbar werden zu lassen. Er erscheint dann auch als früher Vertreter des Krisenexperimentes, wie es vierhundert Jahre später Harold Garfinkel vorschlägt und mit Studierenden inszeniert: Eulenspiegel missachtet soziale Normen und Normierungen, um sie aufzudecken, als solche erkennbar zu machen. Vor allem aber lässt sich dann auch über sie nachdenken, über ihre Einflussmächtigkeit, ja sie lassen sich nun potenziell anders denken. Kritik macht Verhältnisse sichtbar, ermöglicht Reflexivität, das heißt die Möglichkeit des Nachdenkens schließt immer mit ein, dass auch die Potenzialität zum Andersdenken besteht.

 

Die virtuelle Diskussion unter Helga Cremer-Schäfer, Fabian Kessl, Michael May und Albert Scherr stellt sich der Frage der gegenwärtigen Konjunktur von Herrschafts- und Gesellschaftskritik – in der sozialen Praxis von politischen Bewegungen, Initiativen und den Sozial- und Kulturwissenschaften. Konkreter Auslöser ist die Konjunktur der Kritik in und in Bezug auf die Soziale Arbeit. Allen vier Diskutant*innen hat die Redaktion die gleichen Fragen mitgegeben, die sie dann in einer virtuellen, in mehreren Durchgängen geführten E-Mail-Kommunikation über mehrere Wochen hinweg beantwortet und ausgetauscht haben. Ziel der virtuellen Diskussion war es, unterschiedliche Positionen und Perspektiven hervortreten zu lassen – ohne Zwang zum Konsens. Alle vier Diskutant*innen schreiben, das wurde schnell deutlich, in teilweise gegensätzlichen, teilweise wahlverwandten Begriffen und Theorieperspektiven.

 

Die vier Fragekomplexe, die den Diskutant*inne aufgegeben waren, umfassen – erstens – Fragen nach zeitdiagnostischen Hinweisen, die die gegenwärtige Präsenz und Konjunktur von Kritik und Reflexivität einordnen und erläutern können; zweitens Fragen nach den eigenen (Vor-)Annahmen und theoretischen Bezüge der Diskutant*innen; drittens Fragen zu (künftigen) Bedingungen der Möglichkeit von Kritik und Reflexivität; schließlich viertens mögliche Folgen von Kritik und Reflexivität. Bezugspunkt für die Diskussion war die gegenwärtige politische wie wissenschaftliche Praxis im Feld und in Bezug auf das Feld der Sozialen Arbeit. Der Horizont der Diskussion war aber keineswegs auf die Konkretisierung der Überlegungen ausschließlich auf diese öffentliche Instanz der Erziehung, Bildung und Sorge beschränkt. Im Laufe der Diskussion wurden die ursprünglichen Fragekomplexe an manchen Stellen aufgesprengt und unterdifferenziert. Deshalb weichen die Fragen im abgedruckten Text teilweise von den gestellten Fragen leicht ab. Zur Nachvollziehbarkeit für die Leser*innen werden die Ausgangsfragen hier nochmals aufgeführt:

 

Die Rede von der Kritik und der Reflexivität ist in den Debatten um Soziale Arbeit so präsent wie schon lange nicht mehr; wie erklärt Ihr dieses Phänomen – nicht nur in der Sozialen Arbeit?

 

Albert Scherr: Die Soziale Arbeit war, jedenfalls seit den 1970er Jahren, durchgängig Gegenstand von Debatten, die kritisch und selbstkritisch nach den Verstrickungen Sozialer Arbeit in die Verfestigung von Ungleichheitsverhältnissen sowie die soziale Regulierung von Normalität und Abweichung gefragt haben. Die zeitweilige Dominanz einer kritischen Perspektive in Theorien der Sozialen Arbeit hat zwischenzeitlich zu einer Situation geführt, in der es eher schwierig schien, auch positiv zu beschreiben, was Soziale Arbeit für ihre Adressat/innen leistet. In Folge neoliberaler Infragestellungen des Sozialstaates hat sich dann die Situation verändert: Nicht mehr die Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisses durch Sozialstaat und Soziale Arbeit, sondern die Infragestellung eines sozialstaatlich eingehegten Kapitalismus erweist sich seitdem als das gegenwärtig aktuelle Problem. Diese Veränderung ist Gegenstand vielfältiger Kritik. Vor allem die Zunahme sozialer Ungleichheit, die mit der Finanzkrise offenkundig gewordene Riskanz einer unzureichend regulierten Ökonomie, aber auch das Wissen um die ökologischen Folgen der Wachstumsökonomie motivieren grundsätzliche Gesellschaftskritik, auch an den deutschen Verhältnissen, die sich im internationalen Vergleich noch als sehr harmlose Ausprägung einer Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie darstellen. Bis in die Feuilletons seriöser Tages- und Wochenzeitungen hinein wird solche Kritik als Kapitalismuskritik formuliert.

Die neue Konjunktur der Kritik ist also kein Spezifikum der Sozialen Arbeit und sie hat erkennbare Gründe in gesellschaftlichen Veränderungen, die zu Unzufriedenheit führen und Kritik motivieren. Im Fall der Sozialen Arbeit kommen Verschlechterung der Bezahlung sowie eine gesteigerte Kontrolle der Leistungen hinzu.

 

Fabian Kessl: In der Tat: „Wo man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden“. Mit dieser Einschätzung beginnen auch Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa ihren 2009 erschienen Band „Soziologie – Kapitalismus – Kritik“. Damit spielen die Jenaer Soziologen auf die feuilletonistischen wie wissenschaftlichen Reaktionen an, die die Krisen der finanzmarktkapitalistischen Regime in vielen OECD- Staaten seit 2008 ausgelöst haben. Parallel findet sich spätestens seit Mitte der 0er Jahre in den Debatten um Soziale Arbeit und im Feld ihrer wissenschaftlichen Reflexion eine wachsende Anzahl von Beiträgen, die explizit die Frage nach einer gesellschafts- und herrschaftskritischen Perspektive aufwerfen. Immerhin hat diese Diskussion bereits im wissenschaftlichen und fachpolitischen Feld zu mehreren Zeitschriftenschwerpunkten, u.a. hier in den Widersprüchen oder im österreichischen Kurswechsel, und zu ganzen Buchreihen geführt. Außerdem gründen sich auf lokaler Ebene wie bundesweit Assoziationen und Initiativen, die sich in ihrer Selbstbeschreibung als „kritisch“ ausweisen. Der bekannteste Zusammenhang für den bundesdeutschen Kontext ist sicherlich der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS). Neben dem AKS entstanden in den vergangenen Jahren aber zahlreiche andere lokale und themenspezifische Bündnisse: z.B. die Soltauer Initiative bereits einige Jahre vor dem AKS oder das Bremer Bündnis Soziale Arbeit.

Alle diese Initiativen haben ihre Aktivitäten vor allem in den vergangenen zehn Jahren aufgenommen. Das scheint mir kein Zufall zu sein, denn 2004 traten die so genannten Hartz-Gesetze in Kraft, und damit manifestierte sich das rot-grüne Vermächtnis der so genannten Agenda 2010. Die „aktivierende Sozialstaatspolitik“, die zwar auf Entscheidungen der Vorgängerregierungen in Bund und Ländern zurückgreift – und auch deutlich über die Arbeitsmarkpolitik hinausgreift, wurde unter der Schröder-Fischer Regierung aber vor allem in Bezug auf die Regulierung der Lohnarbeitsverhältnisse etabliert. Und das in einer Weise, die seither die bundesdeutsche Politik und soziale Praxis prägt. Dementsprechend hat sie die Nachfolgeregierung, die große Koalition unter Angela Merkel, auch konsequent weitergeführt. Der Regierungswechsel und damit das Ende der rot-grünen Ära, hat aber zugleich – und das ist nun für unser Thema von größtem Interesse – als Katalysator für die Kritik an den grundlegenden Veränderungen gedient. Unter der Schröder/Fischer-Regierung war die Irritation im rot-grünen Milieu zu groß, dass es gerade die sozialdemokratischen und grün/bürgerrechtlichen Parteien waren, die den Umbau des bisherigen, keynesianischen Wohlfahrtsstaats in einer verblüffenden Konsequenz durchgesetzt haben – im Zusammenspiel mit weiteren europäischen Regierungen, allen voran New Labour unter Blair in Großbritannien. Mit dem sich anbahnenden Regierungswechsel hat sich 2004/05 dann aber die Kritik an der neuen Privilegierung der Vermögenden und der verstärkten staatlichen Regulation und Sanktionierung vor allem der Erwerbslosen positioniert.

Zwar ist der direkte Zusammenhang zwischen den Hartz-Gesetzen und einer Verarmung von Menschen bis heute umstritten, aber spätestens mit dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2005 – ein Instrument, das ja auch rot-grün unter anderem auf Druck der Wohlfahrtsverbände durchgesetzt hatte – war ein deutlicher Anstieg der Armutsquoten auch regierungsamtlich dokumentiert. Die bundesdeutsche Gesellschaft bekommt seither ein neues Gesicht, das am medial inszenierten Bild der Bedürftigkeitsschlangen vor den Tafeln symbolisiert wird: Die Armennothilfe, die viele Jahre nur (noch) auf einzelne Gruppen, wie obdachlose Menschen oder Flüchtlinge begrenzt war, zieht seither wieder in die deutschen Städte ein. Tafeln, aber auch Sozialkaufhäuser, Lebensmittelausgaben und Kleiderkammern werden nicht nur zu einem zweiten Sicherungssystem, neben den sozialrechtlichen Leistungen, sondern sind längst mit diesem verschwistert. Selbstverständlich verweisen viele Jobcenter ihre „Kunden“ an die lokalen Tafeln oder greifen niedrigschwellige Angebote auf die kostenlosen Spenden von lokalen Lebensmittelausgaben zurück. Zeitgleich nehmen die Vermögen der reichsten Deutschen in eine Weise weiter zu, die international ihresgleichen sucht.

Die jüngste Praxis der Kritik – in der Sozialen Arbeit, wie in vielen anderen Feldern – stellt also keine historisch zufällige Erscheinung dar, sondern verweist auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Es ist kein Zufall, dass wir seit einigen Jahren wieder von Gesellschafts- und Herrschaftskritik und auch von „Kritischer Sozialer Arbeit“ oder einer „Kritik der Sozialen Arbeit“ lesen, hören und sprechen. Eine Quelle der gegenwärtigen Praxis der Kritik ist der veränderte Finanzmarktkapitalismus, die gegenwärtige Formation des Postfordismus, wie die Regulationstheoretiker*innen sagen würden, die unter rot-grün konsequent in eine entsprechende Regulationsweise umgesetzt wurde, den so genannten „aktivierenden Sozialstaat“. Die Erfahrungen mit diesen veränderten Lebens-, Arbeits- und Sozialisationsbedingungen hat Kritik, kritische Praxis, dynamisiert.

 

In den Feldern Sozialer Arbeit wurden die beschriebenen ökonomischen und politischen Entwicklungen noch vor dem Hintergrund weitreichender organisationaler und konzeptioneller Neujustierungen wahrgenommen. Akteur*innen versuchten sich daher zunehmend einen Begriff zu machen von dem, was sie in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit beobachten oder/und erleben: Wie kommt es dazu, dass in der Sozialen Arbeit ein managerieller und kommodifizierender, das heißt marktförmiger Umbau der Organisationen, eine Stratifizierung und damit verbundene Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse auf Seiten der Mitarbeiter*innen und eine massiv zunehmende soziale Ungleichheit und damit verbundene Ausschließungen auf Seiten der NutzerInnen vorherrscht? Inspiriert sind diese Fragen der Akteur*innen dabei allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise: Teilweise wird auf Basis einer bestimmten Vorstellung von Professionalität argumentiert, teilweise aus einer spezifischen ethischen Perspektive, teilweise mit Verweis auf die Alltagsbedingungen von Nutzer*innen und Adressat*innen, teilweise mit Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen der Fachkräfte. Das verweist noch auf eine weitere zweite Quelle der gegenwärtigen Praxis der Kritik: Die Auseinandersetzungen, die sich in den Debatten um eine Kritische Soziale Arbeit und/oder eine Kritik der Sozialen Arbeit ebenso einlagern wie in parallelen Diskussionen um eine kritische Soziologie und eine Kritische Theorie bzw. soziale und politische Bewegungen, drehen sich auch darum, was unter der jeweiligen wissenschaftlichen bzw. theoretischen und politischen Positionierung und Perspektive zu verstehen ist.

 

Michael May: Zweifellos haben in den letzten Jahren an vielen Orten in der Bundesrepublik die Arbeitskreise Kritische Soziale Arbeit eine Wiederauferstehung bzw. Neubelebung erfahren. Und nach wie vor scheint es möglich, an verschiedenen Hochschulen als Kritiker Sozialer Arbeit einen Ruf auf eine Professur zu bekommen. Ich bin jedoch sehr vorsichtig, wenn es darum geht, eine entsprechend neue Tendenz zu konstatieren. In der vierten, völlig neu bearbeiteten Auflage des „Handbuch Soziale Arbeit“, das ja für sich beansprucht, den Diskussionsstand in Profession und Disziplin breit zu bündeln, findet sich zumindest kein eigener Beitrag zu Kritik oder Kritischer Sozialer Arbeit, während in der vorhergehenden Handbuch-Version Timm Kunstreich noch über „kritische Theorie/historischer Materialismus“ schreiben durfte. Im Unterschied zu den Einträgen zu Reflexivität im Sachregister des neuen Handbuches halten sich die zu Kritischer Sozialer Arbeit sehr in Grenzen. Aber vielleicht ist dies auch nur dadurch zu erklären, dass der aktuelle kritische Trend für die Neuauflage des Handbuchs schon zu spät kam. Und möglicherweise ist dies auch ein Grund, warum sich in Tholes „Grundriss Soziale Arbeit“ ebenfalls weder ein eigener Beitrag zur Kritik Sozialer Arbeit noch zu Kritischer Sozialer Arbeit findet, obwohl zweifellos einige der Beiträge auf kritische Traditionen Bezug nehmen.

Offensichtlich scheint es in der Disziplin gegenwärtig sogar trendy zu sein, Foucault und Bourdieu zu zitieren. Und selbst die Arbeit vieler AKs Kritische Soziale Arbeit scheint sich meiner Kenntnis nach sehr stark auf die Lektüre und Diskussion von Foucault und seiner Rezeption im Diskurs um Soziale Arbeit zu konzentrieren. Albert steht in unserer Diskussionsrunde ja für den auch nicht zu übersehenden Diskursstrang, Luhmanns Systemtheorie für kritische Analysen fruchtbar zu machen. Andere Traditionslinien von Kritik, die an eine undogmatische Marxrezeption anknüpfen, wie ich sie in unserer Diskussionsrunde zu repräsentieren versuche, drohen demgegenüber nach meiner Wahrnehmung eher in Vergessenheit zu geraten, obwohl sie nach meiner Einschätzung im Hinblick auf Kritik, Reflexivität, analytisches Potenzial und Methodologie mit gerade gehypten neueren Moden kritischer Analyse und Theoriebildung nicht nur mithalten können, sondern ihnen gegenüber zum Teil sogar Vorzüge besitzen, was in unserer Diskussion ja erst noch zu belegen wäre.

 

Albert Scherr: Das sehe ich etwas anders. Ich finde an der neu erwachten Kritik vor allem drei Sachverhalte irritierend: Erstens sind Varianten einer Wiederbelebung von Gesellschaftskritik in der Form von Kapitalismuskritik zu beobachten, welche die zahlreichen Probleme der Marxschen Kapitalismustheorie – der Werttheorie, der Klassentheorie, der Staatstheorie, der Geschichtsphilosophie – weitgehend ausblenden und mit der Berufung auf Marx oder die Kritische Theorie glauben, eine sichere Grundlage der Gesellschaftsanalyse beanspruchen zu können. Insbesondere aber besteht das Problem der aktuellen Kapitalismuskritik darin, dass sie ohne Revolutionshoffnungen auskommen muss, also unklar bleibt, worauf die Kritik zielt, wenn mehr gemeint sein soll als das klassische sozialdemokratische Konzept einer staatlich-rechtlichen Begrenzung der gesellschaftsweiten Durchsetzung ökonomischer Prinzipien. Zweitens kann nicht ignoriert werden, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich an die Existenz von Kritik, auch radikaler Kapitalismuskritik, längst gewöhnt hat. Kritik müsste sich also stärker als üblich fragen, auf welche Wirkungen sie setzt, wenn es um mehr gehen soll, als akademische Selbstvergewisserung über den eigenen kritischen Gestus. Daran, dass Kritik – und dies nicht in ihrer rechtspopulistischen, nationalistischen Variante – zur materiellen Gewalt wird, indem sie die Massen ergreift, dürfte wohl niemand mehr glauben. Und die historischen Erfahrungen lassen auch erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob das wünschenswert wäre. An wen adressiert sich Kritik also und was glaubt sie, bewirken zu können? Drittes ist das Verhältnis der Kritik zur Sozialen Arbeit klärungsbedürftig. Soll es um eine Kritik gehen, die auf eine generelle Entlarvung Sozialer Arbeit als Mittel der Macht- und Herrschaftssicherung setzt, wie es einige Beiträge aus dem Kreis des AKS nahe legen? Oder nur um eine Kritik, die dazu beitragen will, dass Soziale Arbeit sich gegen Versuche ihrer ökonomischen und politischen Funktionalisierung positioniert und  ihr Mandat stärker als Anwaltschaft für die Adressaten bzw. als Solidarität mit den Adressaten bestimmt? Also um ein Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Qualität Sozialer Arbeit? Das ist eine für Theorien der Sozialen Arbeit entscheidende Frage.

Ergänzen möchte ich noch einen vierten Aspekt: Kritische Gesellschaftsanalysen folgen vielfach den Prämissen des methodologischen Nationalismus. Über  Begriffe wie Armut und soziale Gerechtigkeit wird dann mit dem Blick auf die deutschen bzw. die mitteleuropäischen Verhältnisse diskutiert. Stellt man dies in Frage, entstehen erhebliche Schwierigkeiten, da sich dann die Maßstäbe erheblich verschieben und sichtbar war, dass über Soziale Arbeit in Deutschland nicht unabhängig von der internationalen Stellung der deutschen Ökonomie sowie den Strukturen und dem Leistungsniveau des nationalen Wohlfahrtsstaates zu reden ist. Für die Soziale Arbeit sind keine Theorien und Konzepte in Sicht, die eine Antwort auf diese Schwierigkeiten geben, also etwa auf die Frage, was ein global gedachtes Konzept sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit bedeutet.

 

Michael May: Mir ist nicht ganz klar, auf wen Du, Albert, da anspielst. Das klingt ja wie die alte DDR-Variante von Historischem Materialismus. Marx selbst hat ja nie eine Klassentheorie entwickelt, vielmehr finden sich in der Deutschen Ideologie oder dem Kapital sehr unterschiedliche Klassenbegriffe. Im Unterschied zu vielen der heutigen, eher verdinglichenden Begriffen – beispielsweise im Anschluss an Bourdieu – war Marx im Kapital als (wert)formkonstitutives Strukturprinzip der kapitalistischen Produktionsweise entfalteter Begriff von Klassenverhältnis und selbst der von ihm gemeinsam mit Engels in der Deutschen Ideologie verwendete Begriff von Klassen als einer transepochalen Kategorie zur Bezeichnung eines die Zivilisation durchziehenden Herrschaftsverhältnisses zwischen abhängig Produzierenden und den sie und ihr Mehrprodukt exklusiv Ausbeutenden zumindest streng relational verfasst. Ebenso wenig hat Marx eine Staatstheorie formuliert, sondern im Gegenteil die von Hegel massiv kritisiert. Dass für ihn die Abschaffung des Staates ein wesentliches Kennzeichen dessen war, was er als Kommunismus bezeichnet hat, wird heute gerne verschwiegen. Vermutlich Recht hast Du mit den Problemen der Marxschen Werttheorie insofern, dass heute die sogenannte „immaterielle Wissensarbeit“, die kaum mehr in Arbeitszeit zu berechnen ist, zum zentralen Faktor der Wertschöpfung geworden ist. Umgekehrt vermögen aber auf der Basis der Marxschen Werttheorie entwickelte mathematische Modelle präziser die gegenwärtigen Entwicklungen zu beschreiben, als andere. Ich bin aber kein Ökonom, um dies beurteilen zu können.

Was die von Dir angesprochene Revolutionshoffnung betrifft, so hat sich Marx in seinen kritischen Randglossen ja schon gegen eine – wie er es dort polemisch genannt hat – „Revolution von politischer Seele“ gewendet und statt dessen für praktische Ansätze der Aufhebung von Entfremdung in der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens plädiert. Selbst eine bloß „partielle Reaktion“ – z.B. als „Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben“ –  sah er „deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen“ bezogen, weil sie sich nicht wie das, was er „Revolution von politischer Seele“ nannte, nur gegen die Trennung von Menschen vom Staat als einem bloß abstrakten Gemeinwesens richtet, sondern eine Aufhebung der Trennung vom wahren Gemeinwesen des Menschen intendiert: dem Wesen lebendiger menschlicher Subjektivität. Selbst für solche „partiellen Reaktionen“ hat er den Begriff von „sozialer Revolution“ geprägt. In der Redaktion der Zeitschrift Widersprüche haben wir entsprechende Bemühungen um eine Verwirklichung eines solchen menschlichen Gemeinwesens mit der etwas bescheideneren Kategorie einer Produzierenden-Sozialpolitik auf den Begriff zu bringen versucht.

Recht würde ich Dir geben sowohl in Deiner Kritik am methodologischen Nationalismus, die aber ebenfalls sicher nicht als erstes an Marx zu adressieren ist. Und ebenso stimme ich mit Dir überein, dass sich unsere Gesellschaft an radikaler Kapitalismuskritik gewöhnt hat. Ja, in dieser Hinsicht würde ich sogar noch einen Schritt weiter gehen: Schon Horkheimer/Adorno haben in der „Dialektik der Aufklärung“ darauf hingewiesen, dass angesichts des darin von ihnen konstatierten Zusammenbruchs bürgerlicher Zivilisation nicht nur der Betrieb und der Sinn von Wissenschaft fragwürdig würden, sondern Kritik selbst zur Affirmation mutiere. Aus meiner Perspektive kann dies nur dadurch verhindert werden, dass die Produktionsverhältnisse wissenschaftlicher Kritik selbst nicht nur einer Kritik unterzogen, sondern letztlich dialektisch aufgehoben werden.

 

Helga Cremer-Schäfer: Das ist glaube ich ein guter Punkt, um mich in die Diskussion einzuschalten und diese noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückzulenken. Wenn ich die Darstellung von Fabian auf allgemeinere Begriffe bringe, dann beobachten wir gerade, dass sich „kritische Fraktionen“ von Professionellen oder Expert*innen – oft noch während des Studiums – zusammenschließen und einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich öffentlicher als bis vor einigen Jahren als eine kritische Fraktion konstituieren. Sowohl „kritische Disziplinen“ (wie kritische Medizin, kritische Psychologie, kritische Pädagogik, kritische Geographie, kritische Kriminologie) wie disziplinübergreifende kritische Theorie-Perspektiven (wie die feministische und Perspektiven von gender und queer und disability und cultural studies), die zur (älteren) Kritischen Theorie und den (älteren) reflexiven Sozialwissenschaften hinzugekommen sind, analysieren die herrschaftlichen Dimensionen der Politiken und Institutionen ihres Feldes. Sie bearbeiten (hoffentlich) die unangemessenen, die affirmativen und die verdinglichenden hegemonialen und Theorien und Begriffe der Wissenschaften, in denen sie arbeiten. Wir beobachten keinen „plötzlichen Ausbruch“ von Protest, kritischem Expertentum und kritischer Wissenschaft. Kritik als Distanzierung und Analyse von Herrschaft war nicht gänzlich verschwunden, aber doch lange ein „randständiges“ Phänomen.

Die seit einiger Zeit verstärkte öffentliche Sichtbarkeit von Kritik hat im konkreten Fall weniger damit zu tun, dass „alles immer schlimmer wird“ bzw. diverse „Krisenphänomene“ sichtbar werden. Weder die Kritik an der Praxis sozialer Arbeit (und der Praxis anderer Institutionen) noch Kritik von wissenschaftlichem Wissen und seinen Produktionsbedingungen richten sich auf neue Aufkündigungen des in der Phase des Fordismus durchgesetzten „impliziten Gesellschaftsvertrags“. Institutionen arbeiten schon lange daran, uns die Figur des „Arbeitskraft-Unternehmers“ als selbstverständlich und notwendig erscheinen zu lassen. Einschneidende Kürzungen von Ressourcen sind erledigt, auch Sozialpolitik arbeitet mit Ausschlussmechanismen: Die Klassenstruktur wird als eine Aufspaltung erfahren. Auf erweiterte Teilnahme an politischen Entscheidungen brauchen wir uns im Rahmen eines strukturellen Populismus keine Hoffnung zu machen. Waren- und Bürokratieförmigkeit bzw. der Umgang damit bestimmen weitgehend den Alltag. Keine soziale Bewegung lässt sich aus Zumutungen der Arbeits- und Lebensbedingungen alleine erklären. Veränderungen müssen von Akteuren als einseitige Aufkündigung eines Herrschaftsverhältnisses (zwischen den Klassen, den Geschlechtern, den Generationen, im Rahmen politischer Autoritätsverhältnisse) erfahren und beurteilt werden. Schon dazu braucht es Ressourcen und einen Lernprozess.

Bezüglich der Bedingungen der Möglichkeit kritischer Praxen und Denkweisen müssen wir ziemlich, aber nicht total pessimistisch argumentieren. Solange die „unerhörten“ bürgerlichen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als (uneingelöste) Emanzipierungs- und Befreiungsversprechen angeeignet werden können, sieht es mit den Ressourcen für die Gesellschaftskritik der Leute, die sich als „moralische Empörung über Ungerechtigkeit“ äußert, eigentlich gar nicht schlecht aus. Beurteilungskriterien (ich sage ausdrücklich nicht „Normen“) können auch der durchgesetzte politischen Ökonomie und dem Sozialstaatsregime entnommen und als „implizierter Gesellschaftsvertrag“ von Leuten genutzt werden, Beurteilungskriterien stehen zur Verfügung, aber die Ressourcen, nicht-entfremdete Formen von Kritik und Protest zu praktizieren und diese öffentlich zu machen, sind knapp. Seit längerer Zeit fehlt ja sogar die Ressource „Öffentlichkeit“.

Eine Ressource für die Artikulation von Protest und Kritik in Wissenschaft bzw. Ausbildung scheint noch nicht ganz aufgebraucht zu sein: Hochschulen sind immer noch Arbeits-Orte, an denen, in Nischen zwar, aber immerhin, Kritik der Sozialen Arbeit und kritische Soziale Arbeit sowie kritisches Forschen entwickelt und explizit in Ausbildung und Diskussion eingebracht werden kann. Ich möchte hier stellvertretend auf den Band „Kritische Soziale und Kritik der Sozialen Arbeit“ hinweisen (von Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher und Kerstin Rathgeb), weil wir alle mit von der Partie waren. Wenn es um Gesellschafts- und Herrschaftskritik geht und um Analysen sozialer Arbeit in diesem Rahmen, dann stehen uns nicht viele herrschaftskritische Denkweisen bzw. einzelne Denkfiguren zur Verfügung. Aber man kann, insbesondere aus (älteren) Denktraditionen, etwas machen. Wenn wir ihren historischen Kern reflektieren und damit ihre „Aktualität“ rekonstruieren, stehen der Entwicklung von kritischer Wissenschaft beachtliche Ressourcen zur Verfügung, die Gesellschaft, in der wir leben, und die Herrschaftsinstitutionen bzw. die Wissens- und Kategorisierungssysteme, an denen wir mitarbeiten, zu analysieren.

 

Ist mit den Entwicklungen, die Ihr am Beispiel der Sozialen Arbeit beschreibt, eine verstärkte gesellschafts- und herrschaftskritische Positionierung und Praxis der jeweiligen Akteur*innen verbunden? Oder eher ein neuer Distinktionsmodus, in dem sich die Sprecher*innen als moralisch richtig inszenieren?

 

Michael May: Um die Praxis Kritischer Sozialer Arbeit beurteilen zu können, scheinen mir noch nicht genügende empirische Befunde vorzuliegen. Vor dem Hintergrund des Einblickes, den ich durch Praxisberichte von Studierenden sowie Feldforschung habe, beschränkt sich Kritische Soziale Arbeit, wie ich sie verstehe und worüber – Albert hat es ja schon angesprochen – wir ja noch zu reden haben, nicht nur auf diejenigen, welche sich in entsprechenden AKS organisieren und engagieren. Umgekehrt sind vermutlich nicht alle Mitglieder solcher AKS aufgrund der Produktionsverhältnisse, unter denen sie beruflich arbeiten müssen, in der Lage, Kritische Soziale Arbeit zu verwirklichen.

Michael Winkler hat einmal in einem Kommentar zu sozialpädagogischer Forschung und Theorie die These gewagt, dass Theorien für Professionelle häufig geradezu den Charakter eines Dogmas einnehmen würden, entschieden sie doch nur, woran sie glauben wollen und stellten nicht in Frage. Diese Aussage scheint mir jedoch auch für viele Angehörige der Disziplin zu gelten. So finden auch im disziplinären Kontext Sozialer Arbeit hauptsächlich Rezeptionen von Theorien und Analysen statt. Das gilt auch für solche mit kritischem Anspruch. Bloße Rezeption fällt jedoch noch hinter den seinerseits auf einen explizit männlich verengten Vernunftbegriff reduzierten Kantschen Kritizismus zurück, der aber immerhin schon beanspruchen konnte, nicht nur den Empirismus, sondern auch den Dogmatismus des Rationalismus überwunden zu haben.

Ich hatte ja schon darauf verwiesen, dass aus meiner Perspektive – mit der ich mich, glaube ich, von Euch anderen unterscheide – zur (Wieder-)Gewinnung eines die Gesellschaft auch erreichenden kritischen Potenzials, die Produktionsverhältnisse wissenschaftlicher Kritik dialektisch aufzuheben sind. Zum Teil aber werden diese Produktionsverhältnisse nicht einmal kritisch bezüglich ihres Einflusses reflektiert, den sie auf die wissenschaftliche Analyse selbst ausüben und damit notwendigerweise auch ihren kritischen Anspruch begrenzen. Marx und Engels haben der – wie sie es nennen – „kritischen Kritik“ vorgeworfen, bei ihr reduziere sich der Umgestaltungsakt der Gesellschaft auf ihre Hirntätigkeit. In gewisser Weise trifft dies auch heute ein auf wissenschaftliche Analysen reduziertes Selbstverständnis von Kritik, wie es in kritischer Theoriebildung vorherrscht, die an die Luhmannsche Systemtheorie anschließt, aber auch einigen machtanalytischen Spielarten.

Wenn im Wörterbuch der Gebrüder Grimm zu lesen ist, dass die philologische Kritik vorzugsweise Kritik schlechthin heiße, dass es aber namentlich auch im politischen Leben Kritik gibt, wobei auch dort das Wort den Anklang streng wissenschaftlicher Tätigkeit mit sich bringe und eben dem seine Beliebtheit verdanke, dann gilt dies in gewisser Weise auch für diese, wie auch noch einige weitere Theorien und Analysen Sozialer Arbeit mit kritischem Anspruch. Als rein disziplinäre Kritik erschöpfen sich diese nur allzu häufig in Philologie. Auch gerät Kritik, die ihre Wissenschaftlichkeit hervorkehrt, dadurch in eine Paradoxie, dass sie sich zwar einerseits mit der von ihr beanspruchten wissenschaftlichen Autorität gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen gegenüberzustellen vermag. Zugleich aber bleibt sie damit selbst in dem Maße in einem Herrschaftsverhältnis gefangen, als sie zumindest implizit darzustellen hat, dass diese Kritik in ihrer wissenschaftlichen Besonderheit durch andere nicht herstellbar wäre. Wenn Marx und Engels der „kritischen Kritik“ vorgeworfen haben, sie müsse beständig den Gegensatz zwischen sich und der Masse, der Dummheit, erzeugen, dann reproduziert sich dies bis heute zumindest implizit in all jener Kritik, die auf ihre wissenschaftliche Autorität pocht. Zudem zeigt sich an der im Anschluss an die Luhmannsche Systemtheorie formulierten Kritik meiner Ansicht nach besonders deutlich, dass, wenn sich Kritik als wissenschaftliche an der „Sache der Logik“ ausrichtet, sie – wie Marx in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ darlegt – die „Logik der Sache“ zu verfehlen droht. Darüber aber werden wir im Folgenden sicher noch zu diskutieren haben.

 

Albert Scherr: Um zunächst direkt auf Michaels Positionierung zur „kritischen Kritik“ und Luhmann zu reagieren: Was die Luhmannsche Theorie zu einer kritischen Analyse Sozialer Arbeit beiträgt, habe ich dargelegt und bin in der 2. Auflage des Buches auch nochmal darauf eingegangen, worin ich deren Vorteile gegenüber der Marxschen Theorie sehe. Aktuell bereite ich einen Sammelband über ‚Systemtheorie als kritische Theorie‘ vor. Die einschlägigen Argumente, die eine kritische Beanspruchung der Luhmannschen Differenzierungstheorie begründen, kann ich hier nicht in wenigen Worten zusammenfassen. Das Argument, dass Luhmann die „Logik der Sache“ verfehlt, leuchtet mir jedoch nicht ein.

 

Michael May: Der Streit darum, ob Hilfe oder Soziale Arbeit ein eigenständiges gesellschaftliches Funktionssystem ist und wenn ja, welches denn dann der entsprechende binäre Code sei, hat doch wohl mit der „Logik der Sache“, wie Soziale Arbeit in unserer Gesellschaft geleistet und organisiert wird, so gut wie nichts zu tun, wie überhaupt zwar Computer einer binären Logik – 0/1 bzw. ein/aus – folgen, aber diese binäre Logik doch nicht auf soziale und gesellschaftliche Phänomene zu übertragen ist.

 

Albert Scherr: Nur am Rande angemerkt: Die Unterscheidung Kapital/Lohnarbeit folgt auch einer binären Logik und die Frage, ob Soziale Arbeit als eigenständiges Funktionssystem oder aber als Bestandteil des Wohlfahrtsstaates verstanden werden kann, ist durchaus wissenschaftlich sowie politisch relevant. Denn die Annahme eines eigenständigen Funktionssystems Soziale Arbeit überschätzt systematisch den Grad der Autonomie Sozialer Arbeit gegenüber politischen und rechtlichen Vorgaben.

Möglicherweise besteht die zentrale Differenz jedoch in folgendem Punkt: Die Funktion wissenschaftlicher Kritik besteht meines Erachtens in der Tat zentral in der wissenschaftlichen Kritik von wissenschaftlichen Theorien sowie von politischen Realitätskonstruktionen, von Dogmen und alltäglichen Mythen. Bei Norbert Elias findet sich als Kennzeichnung der Aufgabe wissenschaftlicher Kritik der treffende Begriff des „Mythenjägers“. Eine darüber hinausgehende Kritik als Praxis, also die direkte gesellschaftspolitische Positionierung und das politische Engagement sind davon zu unterscheiden. Einen direkten Zusammenhang zwischen beiden Ebenen der Kritik sehe ich nicht. Insofern ist es kein Zufall, dass ich mich mit Menschen auf politische Positionen einigen kann, deren wissenschaftliche Position ich nicht teile, und dass aus wissenschaftlicher Übereinstimmung nicht notwendig auch ein politischer Konsens folgt. In der Tradition des Marxismus wird die Kluft zwischen wissenschaftlichen Einsichten und politischen Entscheidungen meines Erachtens zu stark eingeebnet.

 

Michael May: Er behauptet schlicht – und dem schließe ich mich an –, dass in einer – wie es wohl systemtheoretisch ausgedrückt würde – „kontingenten“ – ich bevorzuge nach wie vor den Begriff „historischen“ – sozialen Welt nichts weniger als eine hoffentlich veränderte Praxis über den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Theorien entscheidet.

 

Albert Scherr: Ich will noch mal auf den Distinktionsmodus zurückkommen: Dass mit dem Streit um die richtige, konsequent kritische, wirklich radikale Position immer auch Distinktionsspiele verbunden sind, ist meines Erachtens offenkundig und auch kaum zu vermeiden. Das gilt nicht nur, aber auch an den Hochschulen. Schließlich ist der akademische Betrieb in einem sehr hohen Maß von der Konkurrenz um Reputation und Aufmerksamkeit bestimmt. Zudem ist ja nun jede/r, der sich an den einschlägigen Debatten beteiligt, auch der Überzeugung, dass seine/ihre Argumente im Zweifelsfall die besseren sind und deshalb besondere Beachtung verdienen. Meiner Erfahrung nach gelingt es denjenigen, die sich als links und kritisch begreifen, nicht besonders gut, individuell subjektiv aus solchen Konkurrenz- und Abgrenzungslogiken auszubrechen und diese sozial zu überwinden. Erklärbar ist dies zu einem Teil dadurch, dass es eben ziemlich viel an Anpassung an diese Logiken braucht, um im akademischen Betrieb erfolgreich zu sein.

Außerhalb der Hochschulen sind in der Sozialen Arbeit zwei gegenläufige Tendenzen zu beobachten: Einerseits eine sehr angepasste Soziale Arbeit, die sehr auf die Vermeidung von Konflikten  mit politischen Entscheidungsträgern und Geldgebern achtet. Anderseits aber auch lokale und überregionale Zusammenhänge, die eine solche fachliche Positionierung vornehmen, die vor deutlicher Kritik politischer und rechtlicher Vorgaben nicht zurückscheut. Im Übrigen ist eine generelle Gesellschafts- und Herrschaftskritik, was immer genau darunter zu verstehen ist, zweifellos nicht fachliches Mandat der Sozialen Arbeit, sondern eine Frage der politischen Positionierung von Sozialarbeiter/innen als Bürger/innen und der Organisationen, in denen sie aktiv sind.

 

Helga Cremer-Schäfer: Die Frage, ob die Soziale Arbeit ein politisches Mandat hat, wollen wir doch hier wohl nicht noch einmal aufleben lassen. Als angemessene Benennung für die Debatte darum ist mir schon in dem damaligen Sammelband von Roland Merten nur das Wort „Disput“ eingefallen: Disputanten versuchen (Fach-)Öffentlichkeit zu mobilisieren und sie für ihre Position und Normsetzung zu gewinnen. Bei dieser „Hinterbühne“ gerät die „Vorderbühne“, die Analyse und Diskussion der eigenen Verstricktheit in Herrschaft, aus dem Blick. Zu Fragen wie: „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Innerhalb welcher Staatsform arbeiten wir? Welche Relevanz kommt der Sozialen Arbeit als Institution zu und welche Anerkennung (Lohn?) stünde den Professionellen dafür zu? Was sind die gesellschaftlichen Funktionen der Sozialen Arbeit?“ Vielleicht später mehr. Ich will in der ersten Diskussionsrunde noch einmal versuchen, die aktuellen Kritik-Formen einzuschätzen. Falls es Sinn macht, eine Trendaussagen zu treffen, würde ich, zumindest im Bereich der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik, von einer Protestbewegung (angehender) Professioneller dieses Bereichs ausgehen. Wie weit die Kritik geht, in welchem Interesse oder welchen transversalen Interessen Protest öffentlich gemacht wird, gegen was und welche Unternehmen (und Gewinner) der durchgesetzten neoliberalen Produktionsweise sich Kritik, Zorn und Protest richten, das würde eine genauere Eruierung und Vernetzung erfordern. Zum Wissenschaftsbetrieb gehört, dass wir als „akademische Branche“ wahrscheinlich (fast) alle kaum Zeit und Muße finden, dies zu tun – und doch verpflichtet wären, unsere Kriterien und Beobachtungen zurück zu spiegeln und zu diskutieren. Dazu soll ja auch der Heftschwerpunkt dienen.

Politische und wissenschaftliche Debatten werden kontinuierlich von verschiedenen Varianten des „Bazillus Academicus“ geplagt – auch von den angesprochen Distinktionsstrategien. Aber selbst wenn das Adjektiv kritisch derzeit nur im Rahmen von Distinktionsstrategien oder von Identitätspolitik relevant würde, das beunruhigte mich vorläufig nicht besonders. Eine Situation, in die Selbstbezichtigungen als Kritik und kritisch verpönt sind und daher vermieden werden, beunruhigt dagegen schon. Reflexivität wird nach meiner Beobachtung sehr viel stärker als Kritik für „Distinktionsgewinne“ eingesetzt. Daher sind Differenzierungen von Kritik und Reflexivitätsformen angebracht. Verschiedenes muss auseinandergehalten werden, und dies in einer Art, Hierarchiebildung von Wissensformen und Praktiken zu vermeiden, bei der sich „wissenschaftliche Kritik“ an die Spitze der Auf- und Abgeklärtheit befördert. Sie muss sich natürlich auch nicht entwerten lassen.

 

Fabian Kessl: Interessant ist auf alle Fälle, um unsere Diskussion vielleicht wieder etwas deutlicher auf die uns gestellte Frage zu beziehen, dass viele der Stimmen der Kritik in Bezug auf die Soziale Arbeit, die wir in den vergangenen Jahren hören, aus der Welt der Akademien, also der Hochschulen, kommen: Nicht nur die vorgelegten systematischen Reflexionen werden verständlicherweise von Wissenschaftler*innen vorgelegt, sondern auch die sichtbaren Impulse zur Neugründung des AKS, die Wiener Erklärung zur „Ökonomisierung der Sozialen Arbeit“ oder der Impuls zu kritischen Bündnissen in Hamburg und Bremen kamen zumeist von Vertreter*innen der Akademie – oder wurden von diesen explizit mit unterstützt. Insofern ist die Frage durchaus naheliegend, ob hier nicht eher die Logik der Distinktion, die das akademische Feld ja entscheidend prägt, beobachtbar ist. Als Kritiker*in kann ich schließlich eine Differenzmarkierung setzen und damit einen Innovationsgewinn für mich verbuchen, so könnte man diese Haltung beschreiben. Doch so einfach ist es nicht. Denn die Einnahme einer Position der Kritik ist für manche und immer wieder eine Distinktion, die prekär ist: Sie kann dazu führen, dass der/die Kritiker*in aus hegemonialen Positionen heraus deutlich in institutionelle Schranken verwiesen wird, dass ihr/ihm ggf. sogar Sanktionen drohen. Insofern gilt noch immer: Gesellschafts- und Herrschaftskritik kann Konsequenzen haben, die für den/die Kritiker*in unangenehm werden können. Zugleich ist allerdings zu beobachten, dass die marktförmige Umstrukturierung der Hochschulen mancher kritischen Position insofern auch funktional dienlich ist, als sie ihr einen Freiraum verschaffen kann, solange diese zum Beispiel mit der erfolgreichen Einwerbung von Drittmitteln verkoppelt wird oder eine öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, die auf die Herkunftsinstitution zurückstrahlt. Denn Inhalte sind der managerialisierten Universität solange egal, solange sie sie nicht zu Konkurrenzverlusten führen. Außerdem ist die Akademie in den vergangenen Jahren an einigen Stellen zu einem Ort geworden, den gerade auch diejenigen aufsuchen, die sich einer gesellschafts- und herrschaftskritischen Perspektive verpflichtet sehen: Sowohl auf der Ebene der Hochschullehrer*innen als auch auf der Ebene von Doktorand*innen findet sich eine Gruppe, die die Akademie als Ort der gesellschafts- und herrschaftskritischen Vergewisserung aufsucht: In den 2000ern sind nicht zuletzt eine ganze Reihe von Professuren in der Sozialen Arbeit – aber auch der Erziehungswissenschaft insgesamt, der Soziologie oder anderen Feldern wie der Humangeographie – mit Personen besetzt worden, die sich dem Selbstbild nach und/oder in ihren Theoriebezügen einer kritischen Position verpflichtet sehen. Gleiches gilt für die Gruppe der Doktorand*innen. Hier tut sich ein Widerspruch auf: Hochschulen, gerade auch Universitäten, sind Anfang des 21. Jahrhunderts von einem „akademischen Kapitalismus“ geprägt, um es mit der Formel von Richard Münch zu formulieren, der den Alltag der Akademie seit Ende der 1990er Jahren ebenso deutlich verändert hat, wie das die Reformen im Bildungs- und Sozialbereich insgesamt getan haben. Für die Hochschulen gilt: Die so genannte Bologna-Reform, die massive Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen auf der Ebene des akademischen Mittelbaus und die Etablierung einer Exzellenzpolitik sind Stichworte für diesen grundlegenden Transformationsprozess. Interessant ist aber, dass sich trotz des veränderten Kontextes Akteur*innen einen Platz in der Akademie suchen, die eine Praxis der Kritik befördern wollen. Das hat meines Erachtens mindestens folgenden Grund: Die Möglichkeit, Dinge auf einen (kritischen) Begriff zu bringen, ist noch immer im Rahmen der wissenschaftlichen Qualifikationsstufe einer Promotion relativ gut zu realisieren, wenn die Betreuer*innen das zulassen, und eine Existenzsicherung gelingt. Insofern wäre es vorschnell, diesen Positionen Distinktion vorwerfen zu wollen. Das soll aber nicht ausschließen, dass auf der Welle „Kritik“ auch Positionen surfen, die keineswegs dem Kriterium einer Gesellschafts- und Herrschaftskritik genügen, das wir weiterhin anlegen sollten.

 

Was versteht Ihr unter Kritik und Reflexivität?

 

Albert Scherr: Zu dieser Frage habe ich mich wiederkehrend geäußert, auch in dieser Zeitschrift (Annäherungen an Kritikbegriffe einer kritischen Sozialen Arbeit. In: Widersprüche, H. 100/2006, S. 169-178), und möchte diese Überlegungen hier nicht einfach wiederholen, sondern nur auf zwei Aspekte kurz eingehen.

Zentral ist es, zwischen wissenschaftlicher Kritik und politischer Kritik zunächst zu unterscheiden. Das heißt nicht, dass diese Formen der Kritik nicht miteinander verbunden werden können, sondern nur, dass sie nicht identisch sind. Wissenschaftliche Kritik ist, vereinfacht formuliert, die Kritik an Behauptungen mit den Argumenten, dass diese empirisch nicht belegbar sind und/oder auf entweder unzureichend begründeten oder inkonsistenten Annahmen beruhen, und/oder aber – das wäre dann Ideologiekritik – funktional für die Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen sind, indem sie zu deren Begründung und Legitimation beitragen. Politische Kritik ist im Unterschied dazu durch die Entgegensetzung zu bestimmten Formen und Projekten der Machtausübung gekennzeichnet. Solche politische Kritik kann auf Wissenschaft Bezug nehmen. Ihr Motiv ist aber gewöhnlich nicht die Frage nach der wissenschaftlichen Wahrheitsfähigkeit von Aussagen, sondern die Unzufriedenheit mit bestimmten Zuständen und das Interesse an ihrer Veränderung. Die Beziehung zwischen beiden Formen der Kritik ist – anders als es in der älteren kritischen Theorie angenommen wurde – nicht eindeutig, denn der Glaube, dass die wissenschaftliche Wahrheit eine zwingende innere Verbindung mit emanzipatorischen Formen der politischen Kritik hat und umgekehrt, ist nicht gut begründbar. Dies gilt, wie man seit Foucault wissen kann, einerseits aufgrund der Machtwirkungen wissenschaftlichen Wissens. Eine andere Dimension der Problematik lässt sich z.B. am Fall der Menschenrechte verdeutlichen: Wenn, auch in der Sozialen Arbeit, die Menschenrechte als Grundlage von Kritik beansprucht werden, dann geht es darum, ein nicht vernünftig bestreitbares normatives Fundament zu reklamieren, z.B. das Asylrecht als Grundlage der Kritik von Abschiebungen. Befasst man sich nun wissenschaftlich mit den Menschenrechten, dann zeigt sich schnell, dass diese erheblich weniger Gewissheit anzubieten haben, als immer wieder unterstellt wird. Wissenschaftliche Kritik kann folglich – nicht nur in diesem Fall – politische Kritik entmutigen, statt ihr Rückhalt zu bieten. Ich halte es persönlich deshalb für einen wichtigen Ratschlag, das eigene Engagement nicht allein an dem auszurichten, was wissenschaftlich hinreichend begründet werden kann oder wissenschaftlicher Kritik standhält.

Unter Reflexivität verstehe ich den Versuch, die Voraussetzungen des eigenen Denkens zu hinterfragen, also keine Gewissheiten als gegeben hinzunehmen. Dies gilt insbesondere für die fraglos-selbstverständlichen Annahmen des common sense: Sozialwissenschaftliche Reflexivität besteht zentral darin, Annahmen zu hinterfragen, die außerhalb der Wissenschaften nicht hinterfragt werden können. Zur Verdeutlichung: Dass es sinnvoll sei, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden, und dass es unterschiedliche ethnische Gruppen oder nationale Kulturen gibt, wird gewöhnlich und in folgenreicher Weise angenommen. Wissenschaftliche Reflexivität besteht darin, die Voraussetzungen und die Folgen solcher Annahmen zu hinterfragen.

 

Helga Cremer-Schäfer: Wenn ich einen allgemeinen Ober-Begriff für kritische Praxen wählen müsste, würde ich mich für „Distanzierung von Herrschaftsarbeit“ entscheiden. Wie alle Diskutanten votiere ich eher für ein Auseinanderhalten von Kritikformen und Formen widerständiger Praktiken, die sich im Alltag der Leute bzw. im Alltag und der Arbeit in gesellschaftlichen Institutionen entwickeln. Ein Ober-Begriff wie „Distanzierung von Herrschaftsarbeit“ ist zwar abstrakt, hat aber den Vorteil, Hierarchien zwischen widerständigen Praktiken des Alltags, skandalisierender, politischer Kritik von Protestbewegungen und wissenschaftlicher Kritik zu vermeiden. Wenn Akteur*innen der Sozialen Arbeit aufgrund von Erfahrungen oder auch aufgrund von Expert*innenwissen „dialogisch“ Vorstellungen entwickeln, wie sich Soziale Arbeit (oder Erziehung oder Sorge etc.) gegen herrschende Prinzipien und Logiken der Institution organisieren ließe und somit der Situation und dem, was Leute als Ressourcen brauchen, angemessener würde – warum sollen wir das nicht kritische Soziale Arbeit nennen? Wenn diesen Praktiken enge Grenzen gesetzt werden – für mich wäre auch die Vorstellungskraft relevant – als Gegenkraft zu einem (allzu) „guten Gewissen“.

In gesellschaftlichen Institutionen (die Wissenschaft eingeschlossen) geht es selten um gänzliche Befreiungen und Abschaffung von Herrschaft, sondern um verschiedene Formen der begrenzten Mitarbeit des Personals an reformierter, modernisierter und sonst verbesserter Praxis. Bei den Betroffenen und dem Personal geht es um Möglichkeiten von erweiterter Nicht-Teilnahme: um Widerspenstigkeit, Aufsässigkeit, Ausbruchsversuche bis hin zur Widerständigkeit, zu Protest und Kritik von Einrichtungen, die erziehen und disziplinieren, helfen und konformieren, strafen und reglementieren usw.

Eine Differenzierung wie die von Albert vorgenommene in „politische Kritik“ und „wissenschaftliche Kritik“ ist meines Erachtens notwendig, um mittels „reflexiver Kritik“ der praktizierten Wissenschaft beurteilen zu können, was es verdient „kritische Wissenschaft“ genannt zu werden. Der Umtausch von Subjektiv und Adjektiv („kritische Wissenschaft“ statt wissenschaftliche Kritik) ist nicht nur ein Sprachspiel. Das Kritische von Wissenschaft nur an den „Standard“-Wissenschaftsnormen wie Logik, Konsistenz, intersubjektiv nachvollziehbare Begründung zu messen, wäre mir, wie Michael und Fabian es auch ausdrücklich festhalten, zu wenig. Ideologiekritik hinzuzunehmen, die Du, Albert, ja auch zu Deinen Schwerpunkten rechnest, führt schon weiter, wenn sie als „Selbstaufklärung“ von Wissenschaft verstanden wird. Das kontrolliert die Tendenz, auf die Michael hingewiesen hat, einfach nur durch institutionelle Herkunft („wissenschaftlich“), und das heißt „autoritär“, die Überlegenheit von Wissen zu behaupten, das nun wahrlich nicht unter der Bedingung von Herrschaftsfreiheit erzeugt wird. Kritik als Selbstaufklärung wäre die Voraussetzung, von einem „(herrschafts-)kritischen“ und einem „(herrschafts-)affirmativen“ Wissenschaftsprojekt zu sprechen, wie Fabian das in der Diskussion formuliert. Ich ziehe inzwischen den Begriff der „Selbstaufklärung“ anderen Komposita (Selbstvergewisserung, Selbstreflexivität) vor, weil damit die Tätigkeiten und der Arbeitsprozess konkretisiert werden. Es kommt aber nicht auf Worte an, sondern auf das, was wir damit benennen.

 

Albert Scherr: Ich stimme Helga Cremer-Schäfers Argumenten weitgehend zu. Einen Aspekt würde ich stärker akzentuieren: Kritische Wissenschaft ist m.E. zentral dadurch gekennzeichnet, dass die sich auf die Denkweisen und Begriffe, die Bestandteil der Herstellung und der Reproduktion von Macht- und Herrschaftsverhältnissen sind, nicht voraussetzt, sondern hinterfragt. An Begriffen wie z.B. dem Gewaltbegriff oder dem Flüchtlingsbegriff lässt sich recht einfach zeigen, dass es sich um mächtige Wirklichkeitsdefinitionen handelt. Kritik besteht in der Hinterfragung der Definitionsmacht, die mit der Setzung, den Machtwirkungen und der Durchsetzung solcher Begriffe verbunden ist.

 

Fabian Kessl: Kritik und Reflexivität sind das Ergebnis von Fragen wie den folgenden, so haben Susanne Maurer und ich das einmal gemeinsam formuliert – deshalb lass ich in meiner Antwort auf diese Frage auch einmal unsere gemeinsame Stimme sprechen[1]: „Welche Art von Wissenschaft kann praktiziert werden, wenn sich wissenschaftliches Denken und Forschen im Kontext Sozialer Arbeit nicht mit den vorherrschenden (hegemonialen) Denk- und Redeweisen ‚verschwistern‘ will? Wie kann Wissenschaft in herrschaftskritischer Absicht einen entsprechenden Raum der Potenzialität, einen Raum sozialer Imagination eröffnen? Stellt man solche Fragen, will man sie bearbeiten, dann wird Reflexivität zu einer maßgeblichen Dimension eines (kritischen) Wissenschaftsverständnisses. Wissenschaft wäre dann die systematische Arbeit der Bereitstellung von Erkenntnissen und Analyseinstrumenten – und zwar gerade auch für die Menschen außerhalb der institutionalisierten Wissenschaftslandschaft, um diesen eine eigene wie gegenseitige Aufklärung zu ermöglichen. Ziel dieses Aufklärungsprozesses wäre eine Urteils- und Positionierungsfähigkeit. Letzteres meint auch immer die Fähigkeit zu einem ‚Gegen-(Ver)Halten‘, zur Op-Position. Das ist nicht ganz unwichtig, weil erst mit dieser Spezifizierung aus einer allgemeinen Bestimmung von Wissenschaft diejenige einer kritischen Wissenschaft wird.

Es ist also unseres Erachtens nach sinnvoll, ein (herrschafts)kritisches von einem (herr-schafts)affirmativen Wissenschaftsprojekt zu unterscheiden. Zugleich kann sich ein solches nicht zu sicher sein. Eine solche alternative Positionierung kann also nicht als definitive Gegenposition konzipiert werden. Zwar lässt sich die Bestimmung einer Haltung der radikalen Reflexivität als Ermöglichung der begründeten Veränderung bestehender sozialer Ordnungsstrukturen begreifen – und damit an eine lange Tradition der Kritischen Theorie anschließen. Doch eine solche konzeptionelle Bestimmung ist zugleich dahingehend unzureichend, als Projekte der Kritik – im wissenschaftlichen ebenso wie im Format politischer Bewegungen – die Ausrichtung dieser Veränderung nur historisch-spezifisch und damit immer erst situativ bestimmen können. Dazuhin sind auch Projekte der Kritik in die vorherrschenden Kräfteverhältnisse eingewoben und in diese verstrickt, und somit nicht eindeutig in einem alternativen ‚Gegenüber‘ zu verorten.

Radikale Reflexivität muss in Distanz zur alltäglichen Strukturierungslogik von Forschung (Disziplin) und pädagogischem Handlungsvollzug (Profession) geschehen; zugleich verlangt die Einnahme einer Haltung radikaler Reflexivität von den Akteuren ihre erkennbare Positionierung innerhalb der alltäglichen Praxis, in die sie eingewoben sind. Radikale Reflexivität kann daher immer nur unter Einbezug einer selbstkritischen Perspektive gelingen. Eine entsprechende Forschungshaltung umfasst notwendigerweise eine politische Dimension, denn ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Aufklärung der inhärenten Interessensstrukturen.

Zur Konkretisierung einer solchen Haltung radikaler Reflexivität fassen wir diese als ‚Grenzbearbeitung“‘– als Tätigkeit an den Grenzen der bzw. den Begrenzungen durch die gegebenen Verhältnisse (gesellschaftliche Verhältnisse insgesamt, Lebensverhältnisse der Menschen, der Adressat_innen Sozialer Arbeit, institutionell verfasste Arbeitsbedingungen sozialpädagogischer Fachkräfte), und als deren ‚Überarbeitung‘ (in der Perspektive erweiterbarer und erweiterter Handlungsmöglichkeiten).“

 

Michael May: Dass ich sehr stark an den sog. „frühen“ Marx anschließe, an Bloch, Negt/Kluge, die Alltagskritik in der Tradition von Henri Lefebvre und die Praxisphilosophie hat für mich weniger mit Distinktionsgewinnen zu tun, die heute mit solchen Bezügen bestenfalls in kleinen marginalen Zirkeln zu erzielen wären. Es hat damit etwas zu tun, dass ich als Studierender, der aus einem bäuerlich-verproletarisierten Milieu stammt, die Lebenserfahrung dieses Milieus in diesen Theorien aufgehoben fand, im Unterschied beispielsweise zu Adorno, mit dem ich mich erst sehr viel später anfreunden konnte. Dass ich dieser frühen, eher affektiven Entscheidung bis heute insofern treu geblieben bin, dass ich in dieser Tradition weiterzudenken versuche, hat vielleicht auch mit dieser Herkunft zu tun. Noch bedeutsamer ist für mich jedoch, diese Traditionslinie nicht allein als eine kritische Denktradition aufzugreifen und weiterzuführen. Als Marx in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ forderte, die politisch-soziale Wirklichkeit selbst der Kritik zu unterwerfen, hatte er ja auch nicht primär seine später entfaltete „Kritik der politischen Ökonomie“ im Sinn, sondern „den kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

Aufgegriffen wird von Marx an dieser Stelle die Kantsche Unterscheidung zwischen hypothetischen Imperativen, vermittels derer Handlungen als Mittel zur Realisierung eines bestimmten Willens fungieren, und einem kategorischen Imperativ, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objektiv-notwendig bezeichnet und damit als Maxime Universalität oder Universalisierbarkeit beanspruchen kann. Kants Idee eines solchen „Reichs der Zwecke“, Hegels „Substantielle Sittlichkeit“ als „konkrete Freiheit“ eines „freien Willen, der den freien Willen will“, sowie seine Idee der „reinen Anerkennung“, ebenso die Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens bei Marx oder aber der Begriff „objektive Vernunft“ bei Horkheimer und Adorno sind solche kategorischen Imperative, die zugleich auch unabdingbar für kritische Analysen von Herrschaftsverhältnissen sind.

Mir geht es jedoch vor allem um Formen praktischer Kritik von Herrschaftsverhältnissen, die letztlich auf eine Aufhebung der Entfremdung von Menschen sowohl gegenüber ihren Produkten als auch ihrer eigenen Tätigkeit und damit auch von sich selbst und selbstverständlich auch gegenüber anderen zielt. Nur durch praktische Aufhebung der Entfremdung im Zusammenhang mit der Kritik und Überwindung der sie bedingenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse – und nicht durch geistige Kritik (!) – lassen sich letztlich auch die „idealistischen Flausen“ – um eine Formulierung von Marx und Engels aus der „Deutschen Ideologie“ zu zitieren – wissenschaftlicher Theorie überwinden.

Wie die von Marx etwas ungewöhnlich als „soziale Revolution“ bezeichneten Ansätze praktischer Überwindung von Entfremdung, selbst als partielle „deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen“ bezogen sind, weil sie eine Aufhebung der Trennung vom wahren Gemeinwesen des Menschen – dem Wesen lebendiger menschlicher Subjektivität – intendieren, kann auch Wissenschaft für ihre analytischen und theoretischen Aussagen nur dann Allgemeinheit beanspruchen, wenn sie, einem kategorischen Imperativ folgend, einen so ausgewiesenen Standpunkt des Ganzen einnimmt.

 

In welche Denktraditionen stellt ihr eure Position?

 

Helga Cremer-Schäfer: Mit Michael teile ich die Bezugnahme auf „ältere“ Denkweisen. Ich beziehe mich aber bei Analysen von Sozialer Arbeit als „Vermittlungsinstanz“ auf eine etwas andere Kombination von Denkmodellen als Michaels Zusammenführung des „frühen“ Karl Marx, früher Kritischer Theorie und Alltagskritik in der Tradition Lefebvre. In „Schlagworten“ von Bibliothekskatalogen ausgedrückt nutze ich bis heute: Denkweisen und Analyseperspektiven der interaktionistischen und reflexiven Soziologie, die sowohl Alltag (Regeln von Interaktion und Strategien des Alltagshandelns) wie die Definitions- und Interventionsmacht von gesellschaftlichen Institutionen thematisiert. Verallgemeinert und in Begriffe von Herrschaftsanalyse übersetzt finde ich im Interaktionismus Theorien der Etablierung, Verwaltung und Anwendung der Kategorisierung und Etikettierung von Menschen. Herrschaftsanalysen kommen ohne Gesellschaftstheorie und ohne die Perspektive der „Dialektik der Aufklärung“ nicht aus. Diese Denkfiguren und Begriffe finde ich in der (älteren) Kritischen Theorie. Da ich mich für gesellschaftlich organisierte Ausschließung interessiert habe, für wissenschaftliche Theorien, die diese ermöglichen und organisierte soziale Kontrolle, ihre Aporien und Widersprüche (eingeschlossen die Form der Disziplinierung) untersuchen wollte, zudem und auch noch den Umgang der Leute mit Etikettierung, lagen beiden Denktraditionen nahe. Beiden Formen des Nachdenkens über Gesellschaft und institutionalisierte Herrschaft haben „Aktualität“ für Analysen von Institutionen sozialer Ausschließung behalten und von solchen, die (in den Worten einer schönen Stelle von Erving Goffman) versuchen, einen „kulturellen Sieg über Menschen zu erringen“, sprich: Leute norm(a)lisieren, ihnen eine Zwangsidentität verpassen oder anbieten und ermöglichen. Wichtig waren Ergänzungen (unverzichtbar der Foucault der Disziplinierung) und Weiterentwicklungen (so die von Heinz Steinert vorgeschlagene Verbindung von Etikettierungstheorien und Kritischer Theorie zu einer Kritik von Verdinglichung durch Kategorisierung).

Bei Denktraditionen kommt es mir auf ihr Potential, zur Selbstaufklärung von Wissenschaft beizutragen, an. Ich setze damit wohl einen anderen Akzent als Michael, der „Formen praktischer Kritik von Herrschaftsverhältnissen“ betont, „die letztlich auf eine Aufhebung der Entfremdung von Menschen“ hinwirken. Ich denke über die Möglichkeit der Aufhebung von Herrschaftsverhältnissen pessimistisch: Bisher hatten wir bei allen „Befreiungsfortschritten“ regelmäßig auch einen Fortschritt der Herrschaftstechniken zu beobachten. Ich denke in gewissem Sinn bescheiden, was die emanzipierenden Wirkungen von Wissenschaft angeht, aber keinesfalls resigniert. Wissenschaft kann (frei nach Günther Anders) die „Veränderungen der Welt interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns“. Die Möglichkeiten, durch kritische Wissenschaft Verdinglichungen aufzuklären, wäre eine Form der Bearbeitung von Grenzen und mindestens, die eigenen Verdinglichungen abzuschaffen. Die Konkretisierung von „radikaler Reflexivität“, die Fabian zuvor „Grenzbearbeitung“ genannt hat, würde mir als Name für diese Wissens-Arbeit gut gefallen.

Das gemeinsame Element reflexiver Sozialwissenschaften mit der älteren Kritischen Theorie liegt darin, durch die Arbeit an institutionell verwalteten Kategorien und Kategorisierungsprozessen das im Definierten und Identifizierten systematisch Verkannte, Übersehene, Missachtete und Unterdrückte sichtbar zu machen. In Begriffen von Adorno wäre dies das „Nicht-Identische“. Formen von Herrschaft und ihre Entwicklung („Dialektik der Aufklärung“, „instrumentelles Denken“, „Ticket-Denken“, „Entfremdung“, „Identitäts-Zwang“, „Ende des bürgerlichen Individuums“) werden durch die Theoriekombination nicht als allgemeine Zustände von Gesellschaft und einer „verwalteten Welt“ erkennbar, sondern auf einer konkreteren Ebene analysierbar und als Ergebnis der breiten Zu- und Mitarbeit von Wissensarbeiter*innen sichtbar. Das macht die theoretischen Perspektiven und Denkweisen auch relevant für Kritik und Reflexivität in der Sozialen Arbeit, und zwar weil sie aus Alltags- und Institutionenperspektive, insbesondere nach den erfolgten Modernisierungen von Herrschaftsinstanzen, als „unplausibel“ und „unpraktisch“ gelten.

Am Umgang mit „Devianz“ wird das besonders deutlich: Ich kenne keine modernisierte sozialstaatliche Institution, die ohne die verdinglichende Annahme auskommt, dass abweichendes, anormales, verrücktes, kriminelles, verwahrlostes, aggressives, hilfebedürftiges Verhalten nach Merkmalen des Verhaltens und daher objektiv feststellbar wäre. Somit können die strafenden, pädagogischen, therapeutischen, erziehenden, korrigierenden Reaktionen wegen der Veränderungsbedürftigkeit von Personen erfolgen (und eben nicht von Verhältnissen der Produktions- bzw. der Lebensweise). Auch Soziale Arbeit begreift sich weitgehend als Reaktion auf „schwierige Adressaten“ und „Lösung der Probleme, die Leute machen, weil sie Probleme haben“. Das Denkmodell des Interaktionismus kehrt die Analyseperspektive um: Institutionen der Grenzziehung erzeugen sich den Gegenstand ihrer Praxis in einem doppelten Sinn: Sie entwickeln erstens Systeme der Kategorisierung und Klassifikation von Menschen und sie wenden „Reaktionen“ an, die soziale Akteure zu einem Objekt machen: Adressaten werden definiert, diagnostiziert, etikettiert, klassifiziert, Maßnahmen unterworfen. Die Prämisse und das Ergebnis von interaktionistischen Analysen, jedes Handeln, auch das abweichend kategorisierte, könne nur als eine kollektive Handlung, als eine Folge und Geschichte von Interaktionen begriffen werden, erweist sich für Institutionen als extrem „unpraktisch“ und daher als „unplausibel“. Die Praxis von Institutionen besteht darin, Interpunktionen zu setzen, auf die Subjekte zuzugreifen, Verantwortlichkeit und/oder Schuld zuzuschreiben. Akteure eindeutig, durch eine Zwangsidentität oder „Normalform-Typisierung“ zu definieren und sie wie ein Objekt zu behandeln, braucht Interpunktion. Institutionelle Praxis ist darauf angewiesen, die Legitimität dieser Interpunktion auch wissenschaftlich bestätigt zu bekommen. Damit können interaktionistische Perspektiven nicht dienen. Sie machen das Gegenteil zum öffentlichen Wissen. Jede Form institutionalisierter Herrschaft „präpariert sich ihr Objekt“ (Aaron Cicourel). Ich will sicher herunterspielen, dass „Op-Position“ zu machtvollen Instanzen im wissenschaftlichen Feld zunehmend prekär wird, wie das Fabian ausgeführt hat. Völlig verschwunden sind Nischen der Möglichkeiten von „reflexiver Kritik“ nicht. Und Theorie-Ressourcen gibt es – wenn auch oft „fast vergessene“.

Zum Schluss muss ich aber auch die Nähe zu dem Begriff der „praktischen Kritik“ bzw. der „Aufhebung von Entfremdung“ thematisieren: Kritische Wissenschaft als Selbstaufklärung über die eigene Mitarbeit an Herrschaft durch Verdinglichung zu betreiben, ist eine notwendige Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung für die Aufhebung von verdinglichenden Herrschaftsverhältnissen. Der Pessimismus macht es nötig, die Mitarbeit an der Produktion verdinglichender Kategorisierungen zu reflektieren; sie danach nicht einzustellen wäre zynisch. Das kritische Moment liegt im „unpraktisch“ Bleiben für institutionalisierte Herrschaft – an der jede gesellschaftliche Institution teilnimmt.

 

Albert Scherr: Zu wissenschaftlichen Denktraditionen muss man sich glücklicherweise nicht in gleicher Weise zuordnen wie zu Religionen oder Fußballvereinen, sich also nicht als Gläubiger oder loyaler Fan verhalten. Denn unterschiedliche Denktraditionen haben ihre je eigenen Erkenntnisvorteile, aber auch ihre Einschränkungen und insofern bin ich erklärter Anhänger der Auseinandersetzung mit heterogenen Denktraditionen, die das eigene Denken in je eigener Weise ermöglichen und herausfordern. Für mich waren biografisch Marx und die Frankfurter Spielart der Kritischen Theorie wichtige, auch heute noch bedeutsame Ausgangspunkte. Dies gilt auch für einige inzwischen fast vergessene Theoretiker wie Ernst Bloch und Peter Brückner. Die Grenzen des Neomarxismus bei der Betrachtung soziokultureller Phänomene habe ich dann aber nach einer gründlichen Beschäftigung mit Alfred Schütz, Georg Simmel und Max Weber verstanden. Zwischenzeitlich, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, habe ich mich intensiv mit Pierre Bourdieu befasst, dann allerdings auch mit den erheblichen Problemen seiner Theoriekonstruktion und bin nicht zum Bourdieu-Schüler geworden. Für eine Analyse von Rassismus jenseits der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung habe ich bei Norbert Elias sowie Herbert Blumer wichtige Grundlagen gefunden. Mit Helga Cremer-Schäfer teile ich Sympathien für den Versuch, neomarxistische Gesellschaftstheorie und symbolischen Interaktionismus zu verbinden und würde alle Schriften von Ervin Goffman als Lektüre empfehlen. Da ich gleichwohl der Überzeugung bin, dass es in Varianten neomarxistischer Gesellschaftstheorie – trotz Antonio Gramsci und E.P. Thompson – nicht zureichend gelingt, aus dem ökonomisch verengten Gesellschaftsdenken des Marxismus herauszukommen, betrachtete ich die Luhmannsche Systemtheorie als einen bedeutsamen Rahmen, der eine hinreichend komplexe und zugleich in sich konsistente Gesellschafts- und Sozialanalyse ermöglicht. Eine entscheidende Stärke der Luhmannschen Theorie sehe ich weiter darin, dass sie sich einem Denkmodell verweigert, das die Ursachen aller Probleme in letzter Instanz in der Ökonomie vermutet. Luhmann fordert dagegen dazu auf, die Problemgeneratoren in allen Funktionssystemen sowie in ihrem chaotischen Zusammenwirken zu suchen. Als wichtige zeitgenössische Inspirationsquellen, die ich nicht vermissen möchte, kann ich – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – z.B. auf aktuelle Autoren wie Zygmunt Bauman, Etienne Balibar, Raewynn Connell, Michele Lamont, Jean-Francois Lyotard, Martha  Nussbaum, Richard Rorty oder Loic Wacquant hinweisen.

Eine Zuordnung zu klar abgegrenzten Denkschulen versuche ich also zu vermeiden und ich habe auch wenige Sympathien für Bemühungen, diese in Kategorien wie kritisch/traditionell oder kritisch/unkritisch einzusortieren. Mein theoretisches Interesse besteht darin, die Grenzziehungen zwischen Theorieschulen zu überschreiten.

 

Teilt Ihr den in der vorherigen Frage unterstellten Zusammenhang von Kritik und Reflexivität?

 

Albert Scherr: Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Kritisch – im Sinne von Erkenntniskritik – sind solche Theorien, die eine reflexive Auseinandersetzung mit bis dato unhinterfragten Kategorien und Denkweisen ermöglichen.

 

Fabian Kessl: Ja, den Zusammenhang teile ich, wie ich eben in den zitierten gemeinsamen Überlegungen mit Susanne Maurer zu verdeutlichen versucht habe.

 

Helga Cremer-Schäfer: Ich will es nicht ganz so kurz machen: Den Zusammenhang von Reflexivität und Kritik würde ich als gegenseitige Ermöglichung fassen: Mit kritischer (Fach-) Wissenschaft ist zumindest in der Denktradition der älteren Kritischen Theorie das Projekt verbunden, die Aufgabe aller in der Institution Wissenschaft arbeitenden Wissensarbeiter*innen vom Motiv der Befreiungen von Herrschaft aus zu denken. Ich will das in Tätigkeiten übersetzen.

Kritische Wissenschaft setzt nicht Autonomie, sondern Analysen voraus, wie Wissenschaft in ihren Untersuchungsgegenstand „eingeschlossen“ ist. Die zur Analyse notwendigen Tätigkeiten lesen sich wie Ideologiekritik: Fragestellungen, Worte, Begriffe und Theorien, die im gesellschaftlichen Austausch an Wissenschaft (und jede andere intellektuelle Praxis) herangetragen werden, werden nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sie werden hingenommen, nicht naiv benutzt. Begriffe sind vielmehr auf die Interessen zu untersuchen, für die sie nützlich sind und aus denen sie entstehen. Damit meine ich nicht nur die unmittelbaren Interessen (z.B. die Minderung oder Verschärfung von Konkurrenz, der Erfolg in der Kulturindustrie), sondern Interessen an der Aufrechterhaltung oder Veränderung von bestimmten Ausprägungen des Klassenverhältnisses, der Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Interessen an der Veränderung oder Konservierung von Formen der Arbeitsteilung, Interessen an mehr oder weniger autoritären politischen Verhältnissen, Interessen an der mehr oder weniger ungleichen Verteilung von Anerkennung sowie, materialistischer, der Verteilung „negativer Güter“ (wie Strafe, Armut, Pariapositionen, Verachtung, Fungieren als Projektionsfläche, Internierung) an die „üblichen Verdächtigen“. Wissenschaftlerinnen habe keine Position außerhalb dieser Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse, sondern in ihnen. Wenn Du, Albert, dies mit „hinterfragen“ meinst, sind wir uns sehr einig. Über solche, die eigene und fremde Position klärende Analyse hinaus würde ich das Adjektiv „kritisch“ nur für Denkmodelle, Begriffe und die Sozialforschung gebrauchen, die sich dem Motiv der Befreiungen von Herrschaft verpflichten oder ein entsprechendes Potential implizieren. Ohne eine materialistische Gesellschaftstheorie, die den Kontext von kapitalistischen Produktionsweisen und Herrschaft durch Warenförmigkeit und Bürokratieförmigkeit sowie die Widersprüche institutionalisierter Konflikte einbezieht, wird Selbstaufklärung unvollständig bleiben.

 

Michael May: In meinen Ausführungen zu Kritik habe ich mich ja bisher nicht explizit auf Reflexivität bezogen. Darin drückt sich eine gewisse Skepsis meinerseits gegenüber diesem, in der Disziplin ja gerade sehr gehypten Begriff aus, mit der ich an Hegel anschließe. Sicher lässt sich Hegels Idee der „reinen Anerkennung“ auch als eine Reflexionsform lesen, in der sich der freie Wille auf sich selbst bezieht: Die Autonomie eines jeden einzelnen wird zur Bedingung der Autonomie aller anderen. Darüber hinaus hat Adorno selbst Hegels Kritik an der Reflexion als eine Form der Selbstreflexion gedeutet, in der das philosophisch-wissenschaftliche Denken bereits auf das stößt, was er selbst dann später mit Horkheimer zusammen als Kritik der instrumentellen Vernunft ausformuliert hat. So hat schon Hegel in seiner Kritik der Reflexionsphilosophie verdeutlicht, dass Selbsterkenntnis keine Gegenstandserfahrung bedeutet, als würde ein Subjekt sich selbst zum Objekt von Reflexion machen und sich dabei gleichsam im Spiegel betrachten können. Er zeigt sogar, dass das, was wir Selbst, Ich oder Subjektivität nennen, nicht erst als Produkt angesonnenen „Sichselbstdenkens“ entsteht, sondern sich bereits mit dem vollzieht, was heute wohl als Selbstwirksamkeitserfahrung bzw. Kompetenzerleben bezeichnet würde. Das Ich wird damit bereits bei Hegel nicht als eine Tatsache, sondern als Tathandlung gefasst. Von einem daran anschließenden Standpunkt menschlicher Verwirklichung ausgehend, ist dann sowohl in der Theoretisierung wie der praktischen Pädagogik anzuerkennen, dass jedes einzelne menschliche Organ – einschließlich des Gehirns – nicht für Funktionen entsteht, sondern in ihrem Funktionieren. So bilden sich alle menschlichen Wahrnehmungs- und Handlungsorgane in der Reibung an der objektiven Realität äußerer Objekte, die dabei möglicherweise auch verändert, auf jeden Fall jedoch dadurch zu menschlichen Objekten werden. Meinetwegen kann diese Form des Entstehens der Organe und Sinne menschlich-gesellschaftlicher Subjektivität in Auseinandersetzung mit äußeren (gesellschaftlichen) Objekten dann auch als reflexiv bezeichnet werden.

Diesem Entstehen menschlicher Sinnlichkeit über entsprechende Funktionen ist aber nicht nur in diesem Sinne Reflexivität, sondern in gewisser Weise auch schon Kritik inne. Dies bezieht sich vor allem auf Vermögen, wie Kreativität, Sensibilität, Empathie oder mimetische Vermögen, die sich nur selbstreguliert verwirklichen. Zwar lassen diese sich durchaus auch für hypothetische Imperative in Dienst nehmen. Da sie jedoch nicht bewusst steuerbar sind, manifestiert sich in ihnen eine lebendige Kritik an jeglicher Selbst- wie Fremdregierung, und ich würde solche Vermögen auch als „objektive Vernunft“ im Sinne von Horkheimer und Adorno interpretieren.

Demgegenüber lassen sich andere Sinne und Vermögen für hypothetische Imperative  geradezu – wie Marx es im Kapital nennt – „treibhausmäßig“ züchten. Wie Marx dort weiter ausführt, geht dies aber zwangsläufig mit der „Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen“ einher. Allerdings lassen sich selbst die aufgrund solch „treibhausmäßiger Züchtung“ oder anderer Gründe unterdrückten Anteile gesellschaftlich ausgebildeter Eigenschaften und Vermögen von Menschen auch nicht einfach – um mit Foucault zu sprechen – „dermaßen regieren“, sondern reagieren mit eigensinnigem Protest. Dieser artikuliert sich dann beispielsweise in arbeitsökonomisch überflüssigen Schnörkeln, die sich selbst durch die gewieftesten Strategien eines Scientific Management und Industrial Engineering zur Optimierung des Arbeitsaufwandes nicht wegtrainieren lassen. Von daher brauch es auch keiner – wie Foucault dies für Kritik behauptet – spezifischen „Kunst, um sich nicht dermaßen regieren zu lassen“. Wohl aber benötigt es „Kunst“, um solche menschliche Sinne und Vermögen trotz ihrer Blockierung unter herrschaftlichen Verhältnissen als Selbstzweck zu verwirklichen.

Korrespondierend mit den skizzierten empirischen Befunden der Arbeitsökonomisierung hat die Psychoanalyse – vor allem in der dissidenten Tradition von Wilhelm Reich – gezeigt, wie unterdrückte Anteile von Eigenschaften und Vermögen sich immer wieder über Umwege Bahn zu brechen versuchen, ohne sich dabei jedoch angemessen verwirklichen zu können. Auch sind diese in ihren Verdrehungen dann oft nicht mehr einer „objektiven Vernunft“ zuzurechnen. Foucault, wenn er von der „Hypothese Reich“ spricht, scheint allerdings bloß den Aspekt der Unterdrückung im Blick gehabt zu haben. Angesichts der von Foucault in seiner Rezeption der „Hypothese Reich“ nicht mit berücksichtigten unkalkulierbaren Auswege und Ausbrüche unterdrückter Anteile lebendiger Sinnlichkeit sind jedoch jegliche Abtrainierungsversuche Sozialer Arbeit nicht nur dahingehend zu kritisieren, dass sie hypothetischen und keinen kategorischen Imperativen folgen. Sie scheinen zudem schlicht wenig erfolgsversprechend.

Allerdings ist es notwendig, immer wieder die historisch gesellschaftliche Konkretisierung eines kategorischen Imperativs – sowohl als Maßstab wissenschaftlicher Kritik wie professioneller Praxis – selbstkritisch danach zu befragen, ob er als Maßstab und Imperativ trotz situativer Spezifizierung nach wie vor den „Standpunkt des Ganzen“ repräsentiert. Und selbstverständlich lässt sich auch dieses selbstkritische Hinterfragen als Reflexion oder vielleicht sogar besser: als Reflexion der Reflexion beschreiben. In jedem Fall ist das Problem wissenschaftlicher Verallgemeinerbarkeit nicht unabhängig von Rousseaus Problem der Demokratie zur Ausbildung einer politischen Allgemeinheit, in welcher der freier Wille der Einzelnen ebenso wie ihre anerkennenden Interaktionen mit ihrerseits selbständigen Anderen unterstützt und nicht untergraben wird, zu lösen.

 

Albert Scherr: Michael Mays Ausführungen verwischen den Unterschied zwischen dem, was auf der Ebene kleiner Gruppen und Solidarzusammenhänge möglich ist, oder jedenfalls manchmal möglich ist, und dem, was gesellschaftlich möglich ist. Auch Rousseau hat dieses zentrale Problem ja nicht gelöst. Wie soll man sich eine Gesellschaft, und sei es nur die kleine Nationalgesellschaft Deutschland, vorstellen, für die gilt, dass die Autonomie eines jeden einzelnen (…) Bedingung der Autonomie aller anderen ist? Dass dies eine schöne Utopie ist, möchte ich nicht bezweifeln. Deshalb würde ich bescheidener argumentieren: Gesellschaftsgestaltung sollte darauf ausgerichtet sein, ein Maximum an sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit zu ermöglichen; Gesellschaft besteht auch aus nicht aufhebbaren Abhängigkeiten und Einschränkungen.

 

Michael May: Jetzt drohst Du ja selbst in einen methodologischen Nationalismus zurückzufallen. Ich bin froh, nicht Gesellschaftswissenschaften betreiben zu müssen, weil ich keine Ahnung hätte, wie ich deren Gegenstand heute eingrenzen bzw. theoretisieren soll. Dass die Luhmannsche Variante – alles in Kommunikation aufzulösen – eine Kopfgeburt ist, entpuppt sich allein daraus, dass durch Kommunikation allein Menschen nicht lebensfähig wären, sie müssen sich ja ihre Lebensmittel zum überwiegenden Teil selbst produzieren. Aber es geht ja nun in der Diskussion um eine veränderte gesellschaftliche Praxis: Wieso – wenn ich mir denn eine konkrete Utopie erlauben darf – lässt sich nicht soziales Leben in kleineren autonomen Gesellschaften organisieren, die ihre Lebensmittel selbst oder genossenschaftlich produzieren und für die darin nicht herstellbaren Objekte bzw. Beziehungen untereinander andere demokratische Verkehrsformen entwickeln? Ich messe dieser Idee, die ja objektiv möglich wäre, wie dies John Cobb oder der alternative Nobelpreisträger Herman Daily gezeigt haben, unter den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen und immer wieder neuen Formen kapitalistischer Restituierung aus den sogenannten Krisen, die ja – wie schon Marx dargelegt hat – zentraler Bestandteil des Kapitalismus sind, keine großen Verwirklichungschancen bei. Sie ist für mich aber sehr wohl eine Perspektive von Gemeinwesenarbeit in von der kapitalistischen Entwicklung abgehängten Quartieren und Regionen. In Griechenland werden aus der Not solche Experimente ja gerade in breiterem Maßstab entwickelt.

 

Wo seht Ihr aktuell und in naher Zukunft die Orte für Kritik und Reflexivität in und in Bezug auf die Soziale Arbeit und benachbarter Felder? Und: Was braucht eine kritische und reflexive Praxis in Profession und Wissenschaft/welche Bedingungen der Möglichkeit, welche sozialen Orte, welche Bündnisse sind notwendig?

 

Helga Cremer-Schäfer: „Orte“ vermag ich nicht zu benennen, eher Verhältnisse, Arbeitsbündnisse, Arbeitsformen. Negativ lässt sich festhalten, dass die Universität, die Hochschulen insgesamt, bestimmt nicht der förderliche Ort für die Entwicklung von Herrschaftskritik geworden sind. Zum Kampf um Anerkennung von Sozialer Arbeit als „gute“ und für Gerechtigkeit sorgende Macht passt reflexive Kritik auch nicht sonderlich. Denkweisen, durch die wir uns über die Beteiligung und die Inhalte von Herrschaftswissen aufklären können und mit denen wir uns Ordnungsinstitutionen und den Widersprüchen, die sie hervor treiben, entgegenstellen, können wir in diesen beiden Institutionen jedoch immer noch vergleichsweise leicht aufgreifen und weiterentwickeln. Solange „Pluralität“ nicht abgeschafft wird.

In den Ruhestand versetzt zu werden, habe ich übrigens als sehr förderlich erfahren, um an „älteren“ theoretischen Perspektiven und Widerständigkeit gegen Institutionen festzuhalten. Die Aktualität ergibt sich ja auch aus Aktualisierungen von theoretischen Perspektiven, aus Darstellungen, mit welchen Begriffen und Denkfiguren wir Situationen analysieren können, die denen in einer „totalen Institution“ ähneln. 

Mit einiger Freistellung in einer Dissertation über Ordnungsinstitutionen nachzudenken und zu forschen (und nicht „für“ die Rationalisierung derselben), erbringen nach meiner Erfahrung eindrucksvolle Beispiele reflexiver und kritischer Analysen. Aus der Forschungsorientierung und dem Promotionsboom ließe sich eventuell eine Nische entwickeln. Das ginge auch mit dem Willen zur Theoriearbeit – insofern auch ein Interesse an der einen oder anderen „Flaschenpost“ und dem theoretischen Pessimismus besteht.

In Nischen werden aber nur Leute glücklich, die damit zurechtkommen, dass sie praktisch für irrelevant gehalten werden. Vielleicht ist ja auch „Irrelevanz“ und das Unzeitgemäße der Ort, an dem herrschaftskritische Gedanken zu finden sind, wo sie angeeignet werden können und sich weiter entwickeln. Für Wissenschaft finde ich die Einsicht, dass die Universität keine Exklusivität in Sachen Kritik und Aufklärung besitzt, insofern heilsam, als weder eine angebliche Autonomie noch der Standpunkt der Beobachtung von außen noch Objektivität durch Methode als Begründung von Überlegenheit angeführt werden kann.

 

Michael May: Marx hat in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ vielleicht etwas zu naiv postuliert, dass die Theorie dann fähig sei, die Massen zu ergreifen, sobald sie „ad hominem demonstriert“ und radikal die Sache an der Wurzel fasst, die für den Menschen nichts anderes als der Mensch selbst sei. Von naiv spreche ich deshalb, weil die wissenschaftliche Kritik und Reflexivität in Bezug auf Formen einer Bildung des Sozialen, wie sie in und neben professioneller Sozialer Arbeit erfolgt, aufgrund der Verhältnisse, unter denen sie gerade heute als über Kopfarbeit hoch akkumulierte, spezialisierte wissenschaftliche Erfahrung produziert wird, eben nicht zur Organisatorin eines über eine Bildung am Sozialen erfolgenden Produktionsprozesses gesellschaftlicher Erfahrungen werden kann, um auf diese Weise auch den Bruch zwischen theoretischer und politischer Allgemeinheit zu kitten. Letzteres erfordert – wie ich schon angedeutet habe – meiner Ansicht nach, diese Produktionsverhältnisse wissenschaftlicher Kritik und Reflexivität nicht bloß zu kritisieren. Vielmehr gilt es diese Produktionsverhältnisse dialektisch dahingehend aufzuheben, dass auch Kritik und Reflexivität sich als ein Bildungsprozess am Sozialen vollziehen kann, um diesen kollektiven Bildungsprozess schließlich mit dem Projekt einer Bildung des Sozialen als kollektiv solidarischer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens dialektisch zu vermitteln, wie dies Timm Kunstreich und ich einmal im Anschluss an den sozialistischen Kantianer Paul Natorp zu skizzieren versucht haben. Nur so scheint es mir auch möglich, der von mir angesprochenen Gefahr einer Reproduktion des Gegensatzes zwischen „kritischer Kritik“ und Dummheit der Masse zu entgehen.

Aktuell und in naher Zukunft wird sich eine solche dialektische Aufhebung der Produktionsverhältnisse wissenschaftlicher Kritik und Reflexivität jedoch nicht verwirklichen lassen. Von daher bleibt einstweilen nur der mühsame kollektive Erfahrungsaustausch zwischen denjenigen, die innerhalb disziplinärer Kontexte wissenschaftliche Kritik und Reflexion Sozialer Arbeit betreiben, denjenigen die Kritische Soziale Arbeit zu leisten beanspruchen und den eigentlichen Produzierenden von mehr oder weniger partiellen Formen „sozialer Revolution“ im Marxschen Sinne, die wir in der Widersprüche Redaktion als „Produzierenden-Sozialpolitik“ bezeichnet haben. An den Konfrontationsstellen der unterschiedlichen Formen der Erfahrungsorganisation und ihrer jeweiligen Inhalte wird sich zwar nach wie vor nicht „Ächtes“ vom „Unächten“ scheiden lassen, wie dies Goethe als Aufgabe von Kritik bezeichnet hat. Vermutlich aber lässt sich Aufklärung als Ausgang aus der jeweils in spezifischer Weise selbst mitgetragenen Unmündigkeit in einem solchen über die wechselseitige Reibung hinausgehenden Versuch einer neuen Koproduktion von Erfahrung weit eher realisieren als in den bisherigen, gesellschaftlich und institutionell getrennten Produktionsprozessen von Erfahrung in und in Bezug auf Soziale Arbeit.

 

Albert Scherr: Zunächst eine konkrete Antwort: In den lokalen Zusammenhängen, in denen ich im Bereich der Solidaritätsarbeit mit Flüchtlingen aktiv bin, gelingt es, Bündnisse zwischen einzelnen Sozialarbeiter/innen, menschenrechtlich und politisch engagierten Bürger/innen sowie kritischen Wissenschaftler/innen herzustellen; Bündnisse, die beschreibbare, wenn auch begrenzte Wirkungen auf die Kommunalpolitik und die Landespolitik haben. Wie weit das reicht, wird sich in diesem Jahr am Fall drohender Abschiebungen zeigen. Die Frage, warum und wie dies gelingt, kann ich hier nicht ausführlich beantworten, sondern dazu nur einen Hinweis geben: Jede solidarische Zusammenarbeit basiert auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitigen Respekt, und beides entsteht nicht von selbst, sondern muss entwickelt werden.

Der Versuch, verallgemeinerbare Antworten auf diese Fragen zu geben, ist problematisch. Zumindest ein Aspekt ist aber offenkundig: Organisationen der Sozialen Arbeit, die stark von politischen Entscheidungen und Geldzuweisungen abhängig sind, sind nur begrenzt in der Lage, Kritik zu üben. Sozialarbeiter/innen, die relativ vereinzelt in solchen Organisationen ihren Beruf ausüben, auch nicht. Deshalb sind solidarische Zusammenhänge außerhalb der beruflichen Praxis eine wichtige Ermöglichungsbedingung von Kritik. Hilfreich wäre es natürlich auch, wenn endlich mal ein verbindlicher Ethikkontext für die Soziale Arbeit festgelegt würde, der fachlich begründeter Kritik Rückhalt bietet.

 

Fabian Kessl: Tony Judt beendet den Epilog zu seiner Abschiedsrede an der New York University, die er ein knappes Jahr vor seinen Tod zur Frage einer Notwendigkeit und Zukunft der Sozialdemokratie hielt, mit den Worten: „Es wäre also ein schöner abschließender Gedanke, dass wir an der Schwelle des neuen Zeitalters stehen und die egoistischen Jahrzehnte hinter uns liegen. Aber waren meine Studenten in den Neunziger und später tatsächlich so egoistisch? Von allen Seiten wurde ihnen versichert, dass radikale Veränderungen eine Sache der Vergangenheit seien, und nirgends gab es Vorbilder, interessante Debatten, lohnende Ziele. Wenn das Lebensziel der Menschen ringsum nur darin besteht, voranzukommen und Erfolg zu haben, dann wird das eben auch das Lebensziel der jungen Leute, wenn sie nicht gerade sehr unabhängig sind“. Judt markiert hier die tief in unser Denken und Tun eingedrungene Individualisierung. Um es einmal an zwei sozialen Polen zu symbolisieren: Die einen grenzen sich von oben gegenüber einer suggerierten Unterschicht ab, um sich ihres privilegierten Status zu vergewissern (neues Bürgertum) – Heitmeyer spricht zu Recht von „sozialer Vereisung“, die anderen werden unter der Überschrift „Aktivierung“ auf ihr individuelles Engagement verpflichtet, wenn sie öffentliche Leistungen noch beanspruchen wollen (neues Prekariat). Dieses individualisierte Denken und Tun zu überwinden und die damit verbundene Ideologie, Leistung stelle ebenso wie Scheitern nur das Ergebnis eines individuellen Engagements dar, das scheint mir die Aufgabe unserer Zeit zu sein. Die Frage, die wir neu stellen müssen, ist also die Frage der Kollektivität – wissenschaftlich wie professionell, aber auch in unserem sonstigen Alltag. Als „linker Arm des Staates“, um es einmal mit Bourdieu zu sagen, stellt sich der öffentlich verfassten Instanz „Soziale Arbeit“ diese Frage in besonderem Maße. Schließlich ist Öffentlichkeit ohne Kollektivität nicht zu haben, und damit eine öffentlich verfasste Dienstleistungsinstanz, wie die Soziale Arbeit auch nicht.

 

Abschließend: Welche Folgen hat das Denken von Kritik und Reflexivität für das fachliche Tun in den Feldern der Sozialen Arbeit eurer Einschätzung nach? Und: Welche Konsequenzen ergeben sich für fach- und gesellschaftspolitische Positionierungen und welche für die wissenschaftliche Praxis?

 

Helga Cremer-Schäfer: Wissenschaft kann sich nur dann als ein Moment des Emanzipierungsprozesses erhalten, wenn sie „praxisfern“ denkt und an einem „Eigenrecht von Kritik“ festhält. „Praxisferne Wissenschaft“ irritiert und enthält mindestens drei Zumutungen. Erstens Wissenschaft behält nur dann Kritikfähigkeit und Selbstreflexivität, wenn sie das Ansinnen von „konstruktiver Kritik“ und Theoriebildung nach den Interessen von Institutionen oder sozialen Bewegungen zurückweisen kann: Ohne von der Vorstellung einer „Problemlösungswissenschaft“ abzugehen, lassen sich wahrscheinlich die Widersprüche vergangener Modernisierungen und Rationalisierungen der institutionellen Praxis nicht aufklären. Die Umdefinitionen von Konflikten in lösbare soziale Probleme sind ein Teil davon. Zweitens ist nicht nur über Widersprüche nachzudenken, sondern in Widersprüchen zu denken. Zum Dritten schließlich sind Privilegien zu nutzen, um das anti-autoritäre und das gegengesellschaftliche Potential sowohl der unscheinbaren Nonkonformität wie verpönter Dissidenz und Devianz gesellschaftlich zur Sprache verhelfen. Und daher können sich kritische Praxis und kritische Wissenschaften als verwandte, aber nicht identische Praxen wählen. Was noch fehlt sind die Arbeitsbegegnungen. 

 

Fabian Kessl: Die schwierige Gleichzeitigkeit von Positionierung und Dezentrierung: Akteur*innen müssen Positionen der Kritik in Bezug auf die Soziale Arbeit und aus der Sozialen Arbeit heraus einnehmen.

Und bereits diese Formulierung von „der“ Sozialen Arbeit weist auf die Notwendigkeit einer (selbst)kritischen Perspektive hin: Zwar lässt sich das Ganze der Sozialen Arbeit analytisch durchaus als solches fassen, z.B. als Netz organisierter Hilfen, wie es Albert Scherr gemeinsam mit Michael Bommes funktionstheoretisch beschrieben hat, oder als spezifische Form der aktiven Beeinflussung und geplanten Unterstützung alltäglicher Lebensführung, wie ich das machtanalytisch tun würde. Doch aus einer gesellschafts- und herrschaftskritischen kann nicht von „der“ Kritischen Sozialen Arbeit ausgegangen werden. Ganz im Gegenteil. Aus einer kritisch-reflexiven Perspektive sind die internen Kräfteverhältnisse in den Blick zu nehmen, die Differenz- und Konfliktlinien gerade auch innerhalb der Sozialen Arbeit: Wo werden unter dem Deckmantel einer „diakonischen“ oder „caritativen“ Haltung gegenwärtig neue Formen der Almosenverteilung als Ersatz für sozialrechtliche Leistungen legitimiert (Stichwort „neue Mitleidsökonomie“)?; Wo skandalisieren Sprecher*innen der Wohlfahrtsverbände Prekarisierungsprozesse und etablieren zugleich Beschäftigungsverhältnisse unter den Bedingungen von Quasi-Leiharbeit oder von Werkverträgen im eigenen Haus (Stichwort „prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse“)?; Wo wird das symbolische Kapital der Akademie missbraucht, um Träger oder Kommunen mit konzeptionellen Heilsversprechen zu versorgen, und dabei Profit aus der politischen Delegitimation bisheriger Angebote zu ziehen – sei dies nun in Form der Vermarktung unbestimmter Fachkonzepte an freie wie öffentliche Träger oder in Form leicht modifizierter kollegialer Fallbearbeitungsprozesse an öffentliche Träger (Stichwort „Beraterkapitalismus“)?; Wo wird akademisch auf Kritik gepocht, ohne dass derartige Positionierungen zu mehr führen als zu einer allgemeinen Kulturkritik? Aber auch umgekehrt: Wo werden akademische Positionen kritischer Reflexivität zurückgewiesen, weil sie keine direkten Konsequenzen für das professionelle Tun ausformulieren? Damit ist auch eine kritische Rückfrage an die uns hier gestellte letzte Frage formuliert.

Kritische Reflexivität heißt immer auch eine Anerkennung der Differenz zwischen Theorie und Praxis – bei gleichzeitiger Verwiesenheit aufeinander, die aber nie in ein Ableitungsverhältnis führen kann und darf. Kritische Reflexivität ist also im Modus der Theorie – als kritische Wissenschaft – und im Modus der Praxis – als kritische Professionalität – in Verweisung aufeinander und doch zugleich different voneinander zu realisieren. Und diese Realisierung ist nur dann kritisch-reflexiv angemessen auszugestalten, wenn sie selbstkritisch bleibt: Sie darf sich also ihrer selbst nie zu sicher sein. Spätestens im Moment ihrer allzu selbstverständlichen Positionierung hat sie bereits wieder die Frage der Dezentrierung zu stellen: Wie kommt es, dass bisherige fachliche Konzepte, die sich selbst als kritisch beschrieben haben, nun zum Mainstream geworden sind?; Wie kommt es, dass Soziale Arbeit in Zeiten der Delegitimation des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungs- und Versorgungssystems personell massiv gewachsen ist?; Wie kommt es zu der vehementen Spezialisierung und Differenzierung in der Kategorisierung von Nutzer*innen?; …Derartige Fragen sind zu stellen und zu bearbeiten. Das scheint mir die Konsequenz aus einer kritisch-reflexiven Perspektive.

 

Albert Scherr: Die Konsequenz liegt meines Erachtens darin, Bemühungen in der Sozialen Arbeit zu ermutigen und zu unterstützen, die konsequent auf Anwaltschaft für und Solidarität mit den Adressat/innen Sozialer Arbeit ausgerichtet sind. Dazu trägt Theorie dann bei, wenn sie die Alternativlosigkeit sowie die Rechtfertigbarkeit von etablierten Formen der Ausgrenzung, Beschämung, Demütigung, Degradierung, Sanktionierung und Stigmatisierung ebenso hinterfragt wie das Ausmaß der sozialen Ungleichheiten.

Politisch liegt die entscheidende Herausforderung in der Verteidigung des Sozialstaates gegen seinen weiteren Abbau unter Bedingungen  globaler Standortkonkurrenz. Kritische Praxis wird sich meiner Einschätzung nach auf absehbare Zeit in einer defensiven Position befinden und muss mit weiteren Angriffen auf sozialstaatliche Standards und bürgerliche Freiheiten rechnen. Eine auf’s Ganze zielende Gesellschaftskritik hilft diesbezüglich nicht weiter. Wichtiger ist es, wissenschaftlich und praktisch mit guten und überzeugenden Gründen gegen das weitere Vordringen der Weltanschauung des Ökonomismus aktiv zu werden.

 

Michael May: Bezüglich des Sozialstaates haben wir in unserem Entwurf einer „Politik des Sozialen“ in der Widersprüche Redaktion ja immer daran festgehalten, dass der Sozialstaat nicht nur zu verteidigen, sondern zugleich auch zu kritisieren und zu überwinden ist. Die Ambivalenz dessen, was wir in der Redaktion als „Sozialpolitiken der Produzierenden“ bezeichnet haben, ist, dass sie einerseits Ausdünnungen sozialer Teilhabegarantien zu kompensieren haben, zugleich aber auch in ihrer Praxis den Paternalismus des Sozialstaates nicht nur kritisieren, sondern in den Momenten, die Marx als „soziale Revolution“ bezeichnet, ihn zumindest partiell auch überwinden.

Dem was Marx als solch partielle Ansätze „sozialer Revolution“ gekennzeichnet hat, korrespondiert auf Seiten professioneller Sozialer Arbeit das, was Michael Winkler „sozialpädagogisches Ortshandeln“ nennt. In beidem geht es um die aneignende Verwirklichung menschlicher Subjektivität. Michael Winkler hat sich wohl deshalb auf Ortshandeln als pädagogisch zur Förderung von Subjektivität motiviertes zur Verfügung Stellen aneignungsfähiger Gegenstände konzentriert und das pädagogische Verhältnis eher vernachlässigt, weil es ihm um eine Theorie der Sozialpädagogik ging und er nur das Ortshandeln für Sozialpädagogik spezifisch sieht, während Fragen des pädagogischen Verhältnisses von ihm bereits der allgemeinen Pädagogik zugeordnet werden.

Im Hinblick auf eine sinnliche Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens scheinen soziale Beziehungsformen, die der Hegelschen Idee der „reinen Anerkennung“ nahekommen, die Grundlage darzustellen. Während Vermögen wie Kreativität, Sensibilität und Empathie gar nicht anders in solchen zwischenmenschlichen Beziehungen entstehen können, lassen sich jedoch andere menschlich-gesellschaftlichen Sinne und Organe durchaus „treibhausmäßig züchten“: allerdings um den Preis – wie von mir bereits unter Bezug auf Marx angedeutet – der Unterdrückung maßgeblicher Anteile, die sich dann nur über Umwege freisetzen. Dass die historisch in dieser Weise häufig lediglich zerstreut hergestellten bzw. im Prozess ursprünglicher Akkumulation mehr oder weniger gewaltsam aufgetrennten und nur als entfremdet wieder zusammengefügten Lebenseigenschaften und Arbeitsvermögen niemals in ihrer Vollständigkeit realisiert worden sind, verweist – jenseits aller hohlen Rhetorik von „Ressourcenorientierung“ in der Sozialen Arbeit – auf „objektive Möglichkeiten“, die vermittels ihrer Fokussierung zugleich auch katalytisch bzw. maeutisch in ihrer Verwirklichung befördert werden können. Anerkennende Beziehungsformen dürfen sich also nicht nur auf den Anteil menschlicher Eigenschaften und Vermögen beziehen, der unter den herrschaftlich zugewiesenen Funktionen sich historisch entsprechend manifestieren kann, sondern müssen sich – unter katalytisch/maeutischen Aspekten – gerade auf denjenigen Anteil richten, der als Disposition bisher keine gesellschaftliche Anerkennung erfahren hat bzw. dem Verwirklichungsbedingungen bisher herrschaftlich entzogen waren. Auf diese Weise ist dann auch sozialpädagogisch – wie in einer professionalisiertes Handeln überschreitenden Pädagogik des Sozialen – gerade derjenige Anteil in der Entwicklung der den materiellen Produktivkräfte entsprechenden individuellen Fähigkeiten anerkennend zu fokussieren, der ausgelassen wird, wenn diese nur unter dem Aspekt ihrer tatsächlichen Funktion in der Geschichte betrachtet werden. Zugleich findet durch die Anerkennung dieser bisher blockierten Anteile auch eine Unterstützung der Betreffenden statt, solche bei ihnen gesellschaftlich bloß angelegten, jedoch von ihnen noch nicht gänzlich verwirklichten Potenziale auch in ihrer Assoziationsfähigkeit mit weiteren Vermögen sowohl im Binnen- wie Außenverhältnis menschlichen Gemeinwesens zur Geltung zu bringen.

Um aber eine solch assoziative Verwirklichung menschlich-gesellschaftlicher Sinnlichkeit zu ermöglichen, kann es dabei auch notwendig werden, das im äußeren Verhalten nicht nur als reaktive Arbeitsleistung, sondern – wie Reich dies bezeichnet hat – auch als „sekundärer Trieb“ und „Charakterzug“ Manifestierende, erst einmal zu „dissoziieren“, wie dies Lefebvre in seinem Konzept einer sozioanalytischen Interventionsstrategie bezeichnet hat. Hier gilt es – wie Marx dies in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie so schön formuliert hat –, „diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie“ – zu ergänzen wäre: des Verhaltenszwanges – „vorsingt“. Im Hinblick auf konkrete Techniken solch praktisch dissoziativer Kritik kann angeschlossen werden sowohl an parodistische Formen, denen in Judith Butlers Dekonstruktivismus höchste Bedeutung eingeräumt wird, wie auch an in professionellen Kontexten kultivierte Interventionen paradoxer Art. Vor dem Hintergrund meiner eigenen pädagogischen Erfahrung können solche Techniken ihre Wirksamkeit jedoch nur auf der Basis von anerkennenden Beziehungen entfalten, die sich gerade auf solche Anteile menschlich-gesellschaftlicher Sinnlichkeit richten, die in den entsprechend zu dissoziieren versuchten Praxen und Charakterzügen gerade nicht zur Geltung gebracht werden können.

 

Eulenspiegel gelingt es, manche der Magdeburger Bürger zum Nachdenken anzuregen, als diese ihn, den bekannten Narren, bitten, zu fliegen. Er steigt aufs Rathausdach und tut als ob er fliegen will. Die Leute starren hinauf, wie er mit seinen Armen schwingt, und Eulenspiegel fängt an zu lachen und sagt: „Ich meinte es wäre kein Tor oder Narr weiter in der Welt als ich, doch seh' ich wohl, daß hier schier die ganze Stadt voll Toren ist. Und wenn ihr mir allzusammen gesagt hättet, daß ihr fliegen wolltet, ich hätt' es nicht geglaubt und ihr glaubtet mir als einem Toren. Wie sollt' ich fliegen können? Ich bin doch weder Gans noch Vogel, habe auch keinen Fittich, und ohne Fittich und Federn kann niemand fliegen. Nun sehet ihr offenbar, daß es erlogen war.“ Dann steigt er vom Rathausdach und verlässt Magdeburg. Die Bewohner lässt er, so wird berichtet, teils fluchend, teils lachend zurück – und sie sagen: „Das ist ein Schalksnarr, und doch hat er die Wahrheit gesagt.“ Oder haben sie vielleicht gesagt: „Das ist ein Schalksnarr, aber jetzt kommen wir auf unsere eigenen Ideen, wie wir es Leuten heimzahlen können, die uns was vormachen wollen!“



[1]Die folgenden Formulierungen sind einem gemeinsamen Text entnommen: Kessl, Fabian/Maurer, Susanne (2012): Radikale Reflexivität als zentrale Dimension eines kritischen Wissenschaftsverständnisses Sozialer Arbeit. In: Schimpf, Elke/Stehr, Johannes (Hrsg.): Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandsbereiche - Kontextbedingungen - Positionierungen - Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, 43-56.