Vom Kontrollstaat zur Praxis destituierender Macht

Hier in Athen[1] über das Schicksal der heutigen Demokratie nachzudenken, ist irgendwie verunsichernd, weil es dazu zwingt, das Ende der Demokratie an dem Ort zu begreifen, an dem sie entstand. Tatsächlich möchte ich die Hypothese vorbringen, dass das Regierungsmodell, das heute in Europa vorherrscht, nicht nur undemokratisch ist – man kann es auch nicht als politisch betrachten. Ich will deshalb versuchen zu zeigen, dass die europäische Gesellschaft heute keine politische Gesellschaft mehr ist. Sie ist etwas ganz Neues – etwas, wofür uns die richtigen Begriffe fehlen und wofür wir deshalb eine neue Strategie zu entwickeln haben.

 

Beginnen wir mit einem Begriff, der seit dem September 2001 jeden anderen politischen Begriff verdrängt zu haben scheint – Sicherheit. Die Formel »aus ­Sicherheitsgründen« fungiert heute in allen Bereichen, vom Alltagsleben bis hin zu internationalen Konflikten, als ein Deckwort zur Durchsetzung von Maßnahmen, die die Menschen mit guten Gründen nicht akzeptieren würden. Ich will versuchen zu zeigen, dass der eigentliche Zweck von Sicherheitsmaßnahmen nicht in der Abwendung von Gefahren, Unruhen oder sogar Katastrophen liegt.

Permanenter Ausnahmezustand

Wir könnten die Herkunft und Geschichte dieses Begriffs in das Modell des Ausnahmezustands einordnen und ihn zurückverfolgen bis auf das römische Prinzip Salus publica suprema lex – öffentliche Sicherheit ist höchstes Gesetz. Wir könnten ihn also mit der römischen Diktatur verbinden, mit dem kanonischen Rechtsgrundsatz Necessitas non habet legem (Not kennt kein Gebot), mit den ­Comités de salut public der Französischen Revolution und schließlich mit Artikel 48 der Weimarer Verfassung – der Rechtsgrundlage des Naziregimes. Diese Genealogie ist zweifellos zutreffend. Ich glaube aber nicht, dass sich damit die Sicherheitsdispositive und Sicherheitsmaßnahmen, die wir kennen, wirklich erklären lassen.

Während der Ausnahmezustand ursprünglich als eine nur vorübergehende Maßnahme gedacht war, zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr, um die Normalität wiederherzustellen, wird er heute zur permanenten Regierungstechnik. Der einzige eindeutige Präzedenzfall war das Naziregime. Als Hitler im Februar 1933 die Macht übernahm, erließ er sofort eine »Notverordnung«, um die Grundrechtsartikel der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen. Diese Verordnung wurde nie aufgehoben. Man kann deshalb das gesamte Dritte Reich als einen zwölfjährigen Ausnahmezustand betrachten.

Was heute geschieht, ist etwas anderes. Der formelle Ausnahmezustand wurde nie erklärt. Stattdessen werden vage nichtjuristische Begriffe dazu verwendet, einen schleichenden vermeintlichen Notstand zu einem Dauerzustand zu machen, ohne dass dem eine eindeutig identifizierbare Gefahr entspricht. Ein Beispiel ist der Begriff der Krise. Neben seiner ursprünglich juristischen Bedeutung der Urteilsfindung begegnen sich in diesem Begriff – der aus dem griechischen Verb kríno stammt – zwei semantische Traditionen: eine medizinische und eine theologische. In der medizinischen Tradition bezeichnet die »Krisis« den Moment, in dem der Arzt urteilen muss – in dem er also entscheiden muss, ob der Patient stirbt oder überlebt. Der Tag oder die Tage, an dem bzw. denen diese Entscheidung fällt, nennt man die krísimoi, die kritischen oder entscheidenden Tage. In der Theologie ist die Krisis das Jüngste Gericht, bei dem Christus am Ende der Tage das Urteil fällt. Das Entscheidende ist in beiden Fällen die Verbindung mit einem bestimmten zeitlichen Moment. In der jetzigen Verwendung des Begriffs wird genau diese Verbindung gekappt. Die Krisis, die Urteilsfindung, wird abgespalten von ihrem zeitlichen Index. Sie fällt zusammen mit dem chronologischen Zeitablauf, sodass die Krise – nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen – zur Normalität wird. Die Krise wird damit zu einem bloßen Regierungsinstrument. Die Fähigkeit, etwas ein für allemal zu entscheiden, geht verloren, der permanente Entscheidungsprozess entscheidet in Wirklichkeit nichts. Wir könnten sagen, dass die Regierung, die einem ständigen Ausnahmezustand begegnen muss, tendenziell die Form eines permanenten Staatsstreichs annimmt. Diese Paradoxie wäre übrigens eine Beschreibung dessen, was hier in Griechenland passiert, genauso wie in Italien, wo das Regieren zu einer Abfolge von kleinen Staatsstreichen geworden ist.

Das Regieren der Folgen

Daher ist das Modell des Ausnahmezustands nicht ganz angemessen, um zu begreifen, unter welcher Form von Gouvernementalität wir leben. Ich werde deshalb der Anregung Foucaults (2006, 52ff) folgen und die Entstehung des Begriffs der Sicherheit in den Anfängen der modernen Ökonomie untersuchen – bei François Quesnay und den Physiokraten, deren Einfluss auf die moderne Gouvernementalität kaum zu überschätzen ist (vgl. ebd.). Nach dem Westfälischen Frieden führten die großen absolutistischen Staaten in ihren politischen Diskurs den Gedanken ein, dass der Herrscher für die Sicherheit seiner Untertanen zu sorgen hat. Quesnay war aber der erste, der Sicherheit (sûreté) zum Grundbegriff einer Theorie der Regierung machte – und zwar auf sehr eigentümliche Weise.

Eines der Hauptprobleme, das die Staaten damals zu bewältigen hatten, war das der Hungersnöte. Vor Quesnay war die übliche Methode zur Abwendung von Hungersnöten die Einrichtung staatlicher Kornkammern und das Verbot von Getreideexporten. Beide Maßnahmen wirkten sich negativ auf die Produktion aus. Der Gedanke von Quesnay war, den Spieß umzudrehen: Statt Hungersnöte verhindern zu wollen, solle man sie eintreten lassen und durch die Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels dazu in der Lage sein, sie zu steuern. Gouverner, »steuern«, hat hier noch seine etymologische, »kybernetische« Bedeutung: Ein guter kybernétes, ein guter Steuermann, kann Stürme nicht abwenden, aber wenn der Sturm aufzieht, muss er das Schiff steuern können, indem er die Kräfte von Wind und Wellen zur Navigation benutzt. Das ist der Sinn des bekannten Mottos laissez faire, laissez passer – es ist nicht nur das Schlagwort des Wirtschaftsliberalismus, es ist auch ein Regierungsmodell, das die Sicherheit (sûreté, mit dem Begriff von Quesnay) nicht als Prävention von Störungen begreift, sondern als die Fähigkeit, diese Störungen, sobald sie auftreten, zu steuern und in die richtige Richtung zu lenken.

Diese Umkehrung bedeutet einen epochalen Wandel in der Vorstellung des Regierens, mit dem das traditionelle Verhältnis von Ursache und Folge auf den Kopf gestellt wird. Da es schwierig und kostspielig ist, die Ursachen zu regieren, ist es sicherer und sinnvoller, die Folgen zu regieren. Ich würde behaupten, dass dieses Theorem von Quesnay das Grundaxiom moderner Gouvernementalität ist. Das Ancien Régime wollte die Ursachen beherrschen; die Moderne beansprucht, die Folgen zu kontrollieren. Das gilt für alle Bereiche, von der Ökonomie bis zur Ökologie, von der Außen- und Militärpolitik bis hin zu den Maßnahmen der inneren Sicherheit. Wir müssen erkennen, dass die europäischen Regierungen heute alle Versuche aufgegeben haben, die Ursachen zu beherrschen. Sie wollen nur die Folgen regieren. Das Theorem von Quesnay macht auch verständlich, was ansonsten unerklärlich wäre – das heutige paradoxe Zusammentreffen eines absolut liberalen Modells in der Ökonomie mit einem beispiellosen, genauso absoluten Modell der Staats- und Polizeikontrolle. Wenn das Regieren auf die Folgen statt auf die Ursachen zielt, muss es die Kontrolle ausweiten und vervielfachen. Ursachen müssen erkannt werden. Folgen lassen sich nur eindämmen und kontrollieren.

Entpolitisierung der Bürgerschaft

Dieser Wandel ist so tief greifend, dass wir mit Recht fragen können, ob die Gesellschaft, in der wir leben, noch eine demokratische ist – aber auch, ob sich diese Gesellschaft noch als eine politische betrachten lässt.

Christian Meier hat gezeigt, dass es im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen einen Wandel im Begriff des Politischen gab, der auf etwas beruhte, was er als »Politisierung« der Bürgerschaft bezeichnet. »So entstand eine spezifisch griechische, die politische Identität jener Bürgerschaften. Die Erwartungen an die Bürger, sich ›bürgerlich‹, also im griechischen Sinne ›politisch‹ zu betätigen, institutionalisierten sich.« (Meier 1980, 289f)Die wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten oder die religiösen Zugehörigkeiten wurden zweitrangig. Indem die Bürger sich dem politischen Leben hingaben, verstanden sie sich als Teilhaber an der Polis. Polis und politeía, Stadt und Bürgerschaft konstituierten und bestimmten sich wechselseitig. Bürgerschaft wurde damit zu einer Lebensform. »Die Polis wurde als Bereich zwischen den Bürgern deutlich geschieden vom Haus, Politik vom ›Reich der Notwendigkeit‹.« (ebd. 290f) Dieser spezifisch griechische Prozess der Politisierung wurde auf die westliche Politik übertragen. Bürgerschaft blieb in ihr das entscheidende Element.

Meine Hypothese ist, dass dieser grundlegend politische Faktor in einen unumkehrbaren Prozess eingetreten ist, den wir nur als zunehmende Entpolitisierung begreifen können. Was zu Beginn eine Lebensweise war, eine wesentlich und unabdingbar aktive Situation, ist zu einem passiven Rechtsstatus geworden, in dem sich Handeln und Untätigkeit, Privates und Politisches zunehmend ­vermischten und ununterscheidbar werden.

Aufstieg des Kontrollstaats

Das Modell der Sicherheit und der Sicherheitsdispositive hat in diesem Prozess eine entscheidende Rolle gespielt. Die räumliche Materialisierung dieser Grauzone ist die Videoüberwachung unserer Straßen und Plätze. Einmal mehr wurde dabei ein für die Gefängnisse konzipiertes Dispositiv auf öffentliche Räume übertragen. Ein videoüberwachter Platz hat offenbar aufgehört, eine Agora zu sein; er wird zu einem Ineinander von Öffentlichem und Privaten, zu einer Grauzone zwischen Forum und Gefängnis.

Heute ist das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern durch Verdächtigung, polizeiliche Registrierung und Überwachung bestimmt. Das unausgesprochene Prinzip, das unsere Gesellschaft beherrscht, lässt sich so formulieren: Jeder Bürger ist ein potenzieller Terrorist. Aber was ist ein Staat, der von einem solchen Prinzip beherrscht wird? Können wir ihn noch als einen demokratischen Staat begreifen? Können wir ihn überhaupt als etwas Politisches betrachten? In was für einem Staat leben wir heute?

Der Staat, in dem wir leben, ist nicht mehr der Disziplinarstaat. Deleuze (1993) nannte ihn den État de contrôle, den Kontrollstaat, weil es ihm nicht um Befehl und Gehorsam geht, sondern um Verwaltung und Kontrolle. Die Definition von Deleuze ist richtig, weil Verwaltung und Kontrolle nicht notwendigerweise zusammenfallen mit Ordnung und Disziplin. Niemand hat es so deutlich ausgesprochen wie jener italienische Polizeioffizier, der nach den Unruhen von Genua im Juli 2001 erklärte, dass es nicht Aufgabe der Polizei sei, die Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern die Unordnung zu bewältigen.

Von der Politik zur Polizei

Amerikanische Politikwissenschaftler, die den verfassungsrechtlichen Wandel analysieren wollten, der sich durch den Patriot Act und andere Gesetze nach dem 11. September 2001 vollzog, ziehen es vor, von einem Sicherheitsstaat zu sprechen. Aber was hat Sicherheit hier zu bedeuten? Während der Französischen Revolution wird der Begriff der sûreté mit dem der Polizei verbunden. Die Gesetze vom 16. März 1791 und vom 11. August 1792 führten in die französische Gesetzgebung den Begriff der police de sûreté (Sicherheitspolizei) ein, der in der Moderne eine lange Geschichte haben sollte. Wenn man die Debatten liest, die der Verabschiedung dieser Gesetze vorausgingen, sieht man, dass sich Polizei und Sicherheit wechselseitig definieren. Aber keiner der damaligen Redner (Brissot, Hérault de Séchelles, Gensonné) war dazu imstande, Polizei oder Sicherheit selbst zu definieren.

Die Debatten drehten sich um die Stellung der Polizei gegenüber der Justiz und der rechtsprechenden Gewalt. Gensonné erklärte, es handle sich um »zwei separate und unterschiedliche Gewalten«. Während die Funktion der judikativen Gewalt klar ist, lässt sich aber die der Polizei nicht definieren. Eine Untersuchung der Debatte zeigt, dass die Stellung und Funktion der Polizei unbestimmbar ist und auch unbestimmbar bleiben muss, weil die Polizei nicht mehr existieren könnte, wenn sie wirklich in der rechtsprechenden Gewalt aufginge. Diese Unentscheidbarkeit ist die Ermessensgewalt, die bis heute das Handeln des Polizeibeamten bestimmt, wenn er bei einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit sozusagen wie ein Souverän agiert. Aber auch dann, wenn er diese Ermessensgewalt ausübt, trifft er keine wirkliche Entscheidung. Er bereitet auch nicht, wie es so schön heißt, die richterliche Entscheidung vor. Eine Entscheidung bezieht sich auf die Ursachen. Die Polizei aber beschäftigt sich mit den Folgen, die definitionsgemäß unentscheidbar sind.

Dieses unbestimmbare Element ist nicht mehr, wie noch im 17. Jahrhundert, die »Staatsräson«. Es sind die »Sicherheitsgründe«. Der Sicherheitsstaat ist ein Polizeistaat, aber wieder ist die Polizei in der Rechtstheorie ein schwarzes Loch. Wir können nur sagen, dass sie in der »Polizeiwissenschaft«, die im 18. Jahrhundert auftaucht, auf ihre etymologische Herkunft aus dem griechischen Wort politeía zurückgeführt und in einen Gegensatz zur Politik gestellt wird. Erstaunlich ist aber, dass »Polizei« nun zusammenfällt mit der eigentlich politischen Funktion, während der Begriff Politik der Außenpolitik vorbehalten bleibt. In seinen Grundsätzen der Policeywissenschaft (1756) bezeichnet von Justi (1782, 8) Politik (»Staatskunst«) als das Verhältnis eines Staates zu anderen Staaten, während er als »Polizei« das Verhältnis eines Staates zu sich selbst bezeichnet. Polizei ist das Verhältnis eines Staates zu sich selbst – es lohnt sich, über diese Definition nachzudenken.

Meine Hypothese ist, dass der moderne Staat, der im Zeichen der Sicherheit steht, die Politik in ein Niemandsland abschiebt, dessen Geografie und Grenzen noch unbekannt sind. Der Sicherheitsstaat, dessen Name auf mangelnde Fürsorge verweist (securus kommt von sine cura), sollte uns dagegen besorgt machen um die Gefahren, die er für die Demokratie mit sich bringt. Ein politisches Leben ist darin unmöglich geworden, während Demokratie gerade die Möglichkeit eines politischen Lebens meint.

Wiederentdeckung einer Lebensform

Wenn der Staat, den wir vor uns haben, der beschriebene Sicherheitsstaat ist, müssen wir über die traditionellen Strategien politischer Konflikte neu nachdenken. Was sollen wir tun? Welchen Strategien sollen wir folgen?

Das Sicherheitsmodell impliziert, dass jeder Dissens, jeder mehr oder minder gewaltsame Versuch, die Ordnung zu stürzen, zu einer Gelegenheit wird, diese ­Aktionen in eine nützliche Richtung zu lenken. Das zeigt sich in der Dialektik, die Terrorismus und Staat in einer endlosen Teufelskreis miteinander verbindet. Seit der Französischen Revolution hat die politische Tradition der Moderne radikale Veränderungen als einen revolutionären Prozess aufgefasst, der als pouvoir constituant agiert, als »konstituierende Gewalt« einer neuen Gesellschaftsordnung. Wir müssen uns von diesem Modell verabschieden und versuchen, so etwas wie eine puissance destituante zu denken, eine rein »destituierende Macht«, die sich nicht in die Sicherheitsspirale hineinziehen lässt.

Es handelt sich um eine destituierende Macht, wie sie Benjamin in seinem Essay Zur Kritik der Gewalt vorschwebt, wenn er versucht, eine reine Gewalt zu denken, die dazu imstande wäre, die falsche Dialektik von »rechtssetzender« und »rechtserhaltender Gewalt« (deren Beispiel Sorels proletarischer Generalstreik ist) zu durchbrechen. Am Schluss des Artikels schreibt er: »Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsformen auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet sich ein neues geschichtliches Zeitalter.«(Benjamin 1977, 202) Während eine konstituierende Gewalt das Recht nur bricht, um es in neuer Gestalt wiederherzustellen, kann eine destituierende Gewalt – die das Recht ein für allemal »entsetzt« – eine wirklich neue historische Epoche einleiten.

Es ist nicht leicht, eine solche wirklich destituierende Macht zu denken. Nichts ist so anarchisch wie die bürgerliche Ordnung, hat Benjamin einmal ­geschrieben. Im gleichen Sinne ließ Pasolini in seinem letzten Film einen der vier Herren von Salò zu seinen Sklaven sagen: »Wahre Anarchie ist die Anarchie der Macht.« ­Gerade weil sich heute die Macht durch die Einbeziehung und Vereinnahmung von ­Anarchie und Anomie konstituiert, ist es so schwer, an diese Dimensionen unmittelbar heranzukommen. Es ist schwierig, heute so etwas wie wirkliche ­Anarchie oder Anomie zu denken. Ich glaube, dass eine Praxis, die die Anarchie und Anomie wirklich freisetzen könnte, die in den gouvernementalen Sicherheitstechniken vereinnahmt wird, als eine rein destituierende Macht auftreten müsste. Eine wirklich neue politische Dimension wird erst dann möglich, wenn wir die Anarchie und Anomie der Macht erfassen und entsetzen. Das ist keine nur theoretische Aufgabe. Es bedeutet zuallererst eine Lebensform wiederzuentdecken und Zugang zu gewinnen zu einer neuen Gestalt jenes politischen Lebens, dessen Erinnerung der Sicherheitsstaat um jeden Preis auslöschen will.

Aus dem Englischen von Thomas Laugstien

Literatur

Benjamin, Walter, 1977: Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/M, 1921

Deleuze, Gilles, 1993: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Unterhandlungen, Frankfurt/M, 254ff

Foucault, Michel, 2006: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M

Meier, Christian, 1980: Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr., in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M, 275ff

von Justi, Johann Heinrich Gottlob, 1782: Grundsätze der Policeywissenschaft, 3. Ausg., Göttingen



[1] Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Giorgio Agamben am 16. November 2013 in Athen gehalten hat. Auf Englisch erschien er zuerst im Chronos Magazine auf www.chronosmag.eu.

 

Erschienen in "Gespenst Europa", LuXemburg 1/2014, S. 26ff. Jetzt kostenlos bestellen unter www.zeitschrift-luxemburg.de