André Gorz und die philosophischen Voraussetzungen des Politischen[1]

André Gorz (1923–2007) gilt gemeinhin als einer der Vorläufer und Wegbereiter linker ökologischer Politik. Ich möchte – nicht zuletzt aufgrund einer langen persönlichen Bekanntschaft und Freundschaft mit Gorz – gegenüber dieser Einschätzung zeigen, dass die Basis für seine politischen Theorien, die sich mit der Zeit und durch jeweils neue Umstände änderte, eine philosophische, gar eine ontologische, war. Die These erachte ich als wichtig, um Gorz zu verstehen und sein politisches Denken von Schablonen und Fehlinterpretationen zu befreien.

Bereits Gorz' Biographie spiegelt die Behauptung des Primats der Philosophie. Als Sohn eines österreichischen Juden, der in die Schweiz geschickt wurde, um dem Wehrmachtsdienst zu entgehen, entschied er sich unter dem Einfluss Jean-Paul Sartres, sein Wesen neu zu gestalten; er beabsichtigte, französischer Philosoph zu werden. Dieser Selbstentwurf kam nur langsam zustande. Seine entscheidenden Jahre verbrachte er in der Schweiz, später als staatenloser Bürger in Frankreich, wo er als Tagelöhner und Übersetzer arbeitete. Neun Jahre lang tüftelte er an einer Moralphilosophie, die er für notwendig hielt, um die existentielle Ontologie von Sartres „L’être et le néant“ (1943) fertigzustellen. Sein umfangreiches Manuskript, „Fondements pour une morale“ (1955), wurde von seinem Lehrer nicht ernst genommen und blieb für lange Zeit unveröffentlicht. Im Anschluss an dieses Scheitern veröffentlichte Gorz „Le traître“ (1958), ein bemerkenswertes Buch, das mit einer großartigen Einleitung Sartres versehen ist.2 Die Schrift, vorgestellt als phänomenologische Autobiographie, war seine öffentliche Selbstbestätigung als Autor und Philosoph. Seine Zusammenarbeit mit Sartre war viel mehr als nur eine politische oder journalistische. Beispielsweise lassen sich Spuren seiner zweiten Publikation „La morale de l’histoire“ (1959) in Sartres „Critique de la raison dialectique“ (1960a) finden. In den folgenden Jahren gewann Gorz an Popularität als Journalist und Mitbegründer der einflussreichen Wochenzeitung „Le Nouvel observateur“, in der er unter dem Pseudonym Michel Bosquet den Wirtschaftsteil leitete. Jedoch verleugnete er seine Philosophie nicht.

Mitte der 1960er Jahre, als ich Gorz zum ersten Mal traf, war er bekannt als ein führender Theoretiker der Gewerkschaftsbewegung und als Vertreter einer radikalen politischen Theorie. Seine Theorie baute auf der Idee „revolutionärer Reformen“ auf.3 Man assoziiert sie heute – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland – mit der Neuen Linken der 1960er.4 Obwohl Gorz keine umfangreichen ontologisch-moralischen Bücher mehr schrieb, bewahrte er eine theoretische Kontinuität, die seine politische Entwicklung begleitete. Der entscheidende Referenzautor, neben Sartre, war dabei Karl Marx. Gleichwohl, der Marx, zu dem er immer wieder zurückkehrte, war nicht der versteinerte Stalinist der Kommunistischen Partei; es war der Theoretiker der Entfremdung, der Kritiker der politischen Ökonomie, der Warenform und des Werts, und das in dem Sinne, als Marx ein Gesellschaftssystem anprangerte, das die Tauschwerte, unter Missachtung der Gebrauchswerte, huldigt; es war der Marx der „Grundrisse“ (1858), der die Irrationalität der Logik des kapitalistischen Produktivismus hervorhob. Bei dieser Deutung von Marx blieb Gorz stets Existentialist, gerade wie es Sartre im langen einleitenden Essay zur „Critique de la raison dialectique“ sagte: Der Marxismus „bleibt also die Philosophie unserer Epoche: er ist noch nicht überlebt, weil die Zeitumstände, die ihn hervorgebracht haben, noch nicht überlebt sind“ (Sartre 1960b: 27 f.).5 So betrachtet, lässt sich bemerken, dass die Entwicklung von Gorz’ politischem Denken – das mit revolutionären Reformen einherging, als bevorzugte Adressaten Gewerkschaften und soziale Be­we­gungen ansprach und ihnen Vorschläge zur Selbstverwaltung, zum Grundeinkommen und zur ökologischen Wende zutrug – auf dem Boden seiner philosophischen Konzepte gedieh. Diese Konzepte boten ihm eine fundierte Basis, die mehr eine Denkeinstellung als ein begriffs-theoretischer Apparat war, mit dem er die neuen Umstände eines technologisch voranschreitenden, finanziell dominierten, globalen Kapitalismus erforschen und kritisieren konnte.6

Meine 35 Jahre dauernde Korrespondenz mit Gorz hinterlässt vor allem eine Frage, die in Bezug zu der hier interessierenden philosophischen Basis steht: Wie gestaltet sich die Verbindung zwischen der philosophischen Grundlage und den praktischen, politischen Interventionen, die Gorz in seinen Schriften vorschlug? Selbstverständlich ist damit das bekannte Problem des Verhältnisses der Theorie zur Praxis angesprochen. Hier handelt es sich um die Frage der Beziehung vom Politischen zur Politik, oder besser, von Moralität zur Politik. Ich hatte oftmals den Eindruck, dass seine Analysen zu den Widersprüchen der kapitalistischen Realität den Leser mit dem zurückließen, was Marx nach Hegel mit der Formel hic Rhodus, hic salta wiedergab. So wird von Gorz stets ein existentielles Dilemma beschrieben, dass nur durch eine Entscheidung, einen Sprung oder durch den Zusammenfall des Systems gelöst werden kann – was insgesamt den Eindruck erweckt, das System stolpere von einer Krise in die nächste. Bald wird dann ein neues Buch von Gorz erscheinen, das nicht nur eine überzeugende Erklärung bietet, warum dies nur eine vorläufige Wiederholung in einem sich selbst widersprechenden System der sozialen Reproduktion ist, sondern auch neue Quellen der Unzufriedenheit, Rebellion und Ablehnung aufzeigt. Fortwährend, von Buch zu Buch, suggeriert Gorz entweder erste Anzeichen eines neuen Sprungs oder eines radikalen Zusammenbruchs.

Obwohl das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis, Moralität und Politik über die Jahre immer präsent in all unseren Diskussionen war, habe ich nie auf seine frühen philosophischen Schriften zurückgegriffen. Erst als ich vor kurzem zwei Menschen begegnete, die über Gorz’ Leben und Werk forschen – eine Französin, Françoise Gollain und ein Deutscher, André Häger –, war ich angehalten, seine alten Bände aus den Regalen zu holen. Beide Forscher waren im IMEC (Institut Mémoires de l‘Edition Contemporaine), wo einiges der Korrespondenz zwischen Gorz und mir aufbewahrt wird.7 Ferner fühlte ich mich nach der Lektüre des beeindruckenden Essay-Bandes, der von Christophe Fourel (2012) zusammengestellt wurde, ermutigt, zu den alten Thematiken von Gorz zurückzukehren. Dieses Lesen und Wiederlesen half mir, eine Dimension seines Denkens zu erkennen, die ihm selbst vermutlich kaum bewusst war und die ich im Folgenden herausdestillieren möchte.

Die ersten Hinweise

Die ersten Hinweise fand ich im „Lettre à D.“ (2006), einem kurzen Essay, den Gorz an seine Frau gerichtet schrieb. Die kleine Schrift ist die Biographie eines Paares, die Geschichte eines gemeinsamen Abenteuers, eine Meditation über ein Zusammensein, eine ewige Liebeserklärung. Hinsichtlich der biographischen Momente erinnert der Text an „Le traître“, Gorz’ erste Publikation. In dieser phänomenologischen Autobiographie beschreibt der Erzähler seine Transformation von einem Objekt („ER“) zu einem Subjekt, das nach langem Winden in der Lage ist, in der ersten Person („ICH“) zu sprechen. Aber warum hat Gorz, neben dieser Autobiographie, den intimen Brief geschrieben? Und warum genau hat er ihn veröffentlicht? Der „Lettre à D.“ erhält zusätzlich Bedeutung durch den Freitod, den Gorz im September 2007  gemeinsam mit seiner Frau Dorine wählte. Sie ertrugen die Vorstellung nicht, dass der eine ohne den anderen allein im Leben zurückbleibt.

Am kathartischen Wendepunkt im „Lettre à D.“ erinnert sich Gorz, von einer ungeheuren Schuld überkommen zu sein. Im Winter 2005 las er zum ersten Mal seit fünfzig Jahren erneut „Le traître“. Mit Bestürzung bemerkte er, dass er den Anfang seiner lebenslangen Liebe mit seiner Partnerin und Komplizin so beschrieb, als wäre es nur ein existentielles „Projekt“ gewesen, gerade wie seine Entscheidung Franzose zu werden.8 Eine Entscheidung, die völlig subjektiv und zufällig war. Und genau das, so erklärt der „Lettre à D.“, war diese Liebe nicht. Warum ich diese Liebe leiblich nenne, werde ich im Kontext seines philosophischen Verständnisses genauer erklären. Für den Augenblick genügt der Hinweis, dass diese Liebe seine Rettung war, die Möglichkeitsbedingung „Ich“ sagen zu können. Gorz selbst erörtert sein ungeniertes Fehlverhalten gegenüber Dorine als eine Art Schludrigkeit. Er las seine Manuskripte nicht nochmals und achtete bei der eigentlichen Korrektur nur auf richtige Absätze. Als Mann der Schrift, der sich durch sein Schreiben definiert, ging er sofort zum nächsten Buch über. So gesteht er im „Lettre à D.“, dass er schon über die Politik nachdachte, über Marx, Lenin und die Revolution. Für jemanden, der sich mit revolutionärer Politik befasst, kam es ihm zu bourgeois und banal vor, sich nicht nur als Geliebter, sondern als jemand, der liebt, zu porträtieren. Dies war Gorz’ Geisteszustand zu dieser Zeit, aber das erklärt nicht wirklich, warum er sich gezwungen sah, zu diesem Zustand nach 50 Jahren zurückzukehren und sich dafür zu entschuldigen. Genau deshalb ist es geboten, wie er, den offenkundigen philosophischen Anfang seines Schaffens aufzusuchen, um Spuren zu ermitteln.

Für Menschen, die nicht mit „Le traître“ vertraut sind, bedarf es einiger Worte, um das Buch ins Bild zu setzen. Es gliedert sich in vier Kapitel. Ihre Titel bilden die Schablone einer Phänomenologie. Diese Phänomenologie benutzt der Autor, der zugleich deren Objekt ist, um existentiell eine Evolution vom Nichts des Seins (des Subjekts) zum Sein des Nichts (des Autors) zu vollziehen. Anders ausgedrückt, das Buch beschreibt, wie das Projekt des Individuums in einer warmen familiären, aber zugleich erdrückenden Welt des „Wir“, in die das Individuum ohnmächtig und ohne Ausübung von Kontrolle geworfen ist, Form annimmt. Es beschreibt weiter, wie das Individuum im Versuch scheitert, sich selbst unter den Anderen („Sie“) zu etablieren, bevor es hinter den Lebenswelten familiärer und weltlicher Alterität ein geliebtes „Du“ antrifft. Durch die Gegenseitigkeit der Liebe findet das Subjekt sich selbst bestätigt, um endlich „Ich“ sagen zu können.

Jeder Moment dieser existentiellen Phänomenologie bewegt sich von – zuweilen harschen, aber immer flüssigen – Beschreibungen des Subjekts zu objektiven Beobachtungen hin. Letzteres wird vermittelt durch die Stimme der dritten Person Singular eines externen Beobachters. Dieser Beobachter versucht den Punkt zu erhellen, an dem der Autor realisiert, dass eine Diskrepanz zwischen dem besteht, was „Er“, das beobachtete Subjekt, tut, und dem, was das „Ich“, die erste Person Singular, wünscht oder sich gewünscht hätte zu tun. Diese phänomenologische Methode wechselt zwischen Beschreibungen der dritten und ersten Person. Ferner, zwischen der Vergangenheit (dritte Person) und der Gegenwart (erste Person). Gorz wendet diese doppelte Perspektive in späteren Werken in einer eher soziologischen Weise an, um dadurch die gegensätzlichen Imperative der Reproduktion des Systems beschreiben zu können. So kommt er einerseits einem unverkörperten, unbeteiligten Beobachterpunkt nah, dessen Perspektive den funktionalen Bedürfnissen und der Aufrechterhaltung der Ordnung Rechnung trägt. Andererseits dringt er vor zum Freiheitsdrang der Individuen, verkörpert durch Teilnehmer in der Lebenswelt, welche mit der bestehenden Ordnung in Konflikt steht, da den Individuen ihre Intentionen und Handlungen fremd und undurchschaubar erscheinen.

Persönliche Erfahrung

Bevor ich zu seinen späteren, mehr soziologischen Schriften komme, möchte ich einige politische Fragen aufwerfen, die Gorz implizit in seiner philosophischen Autobiographie artikuliert hat. Ich werde mir die Freiheit nehmen, diese Fragen anhand meiner persönlichen Begegnungen mit Gorz in über drei Jahrzehnten Freundschaft zu illustrieren.9

In einem Text über die Theorie der „neuen Arbeiterklasse“ von Gorz und Serge Mallet, den ich in „The Unknown Dimension: European Marxism since Lenin“ (1972) veröffentlichte, betonte ich das Theorem der „revolutionären Reformen“, das Gorz bereits 1964 in seinem Buch „Stratégie ouvrière et néocapitalisme“ antizipierte. Mit der Ausarbeitung dieses Theorems fuhr er in „Le Socialisme difficile“ (1967) fort. Ich rechtfertigte meine Lesart durch einen Rekurs auf die philosophischen Argumente des 1959 erschienenen Essays von Gorz „La morale de l’histoire“. Zudem durch die Artikulation der Marxschen Entfremdungstheorie als direkter Kritik des Stalinismus. Dies veranlasste Gorz zu einer lapidaren Einleitung für eine amerikanische Neuauflage der „Stratégie ouvrière et néocapitalisme“. Hier stellte er fest, dass im modernen Kapitalismus eine revolutionäre Politik nicht mehr auf der Verelendungsthese fußen kann. Stattdessen würden „neue Bedürfnisse“ ein revolutionäres Potential in sich bergen.10 Um diese neuen Bedürfnisse politisch zu übersetzen, lehnt Gorz eine synkretische Politik ab, die versucht, eine externe Einheit einer Vielfalt verschiedener Konflikte aufzuzwingen. Jedoch befürwortete er eine synthetische Strategie, die das immanente Potential der neuen Arbeiterklasse weiterentwickelt. Die Kohärenz dieser Gedanken wurde mir durch meine eigenen Erfahrungen im Mai 1968 in Paris sowie durch die August-Invasion der sowjetischen Truppen und ihrer Verbündeten in die Tschechoslowakei bewusst. Ich sah jedoch nicht, und ich denke Gorz auch nicht, dass diese neuen Bedürfnisse ihren Ursprung in einer unhintergehbaren Lebenswelt haben, die die Imperative des kapitalistischen Systems prinzipiell nie stillen können. Mit anderen Worten: Gorz’ politisches Argument unterstellt eine philosophische Basis.

Es überraschte mich nicht, dass Gorz 1969, als ich meine Schilderung der Theorie der neuen Arbeiterklasse darzulegen gedachte, die Schrift „Stratégie ouvrière et néocapitalisme“ erneut veröffentlichte, und zwar in einem neuen Band unter dem Titel „Réforme et Révolution“ (1969), zusammen mit dem gleichnamigen Kapitel – „Réforme et Révolution“ – aus „Le Socialisme difficile“ und einer neu konzipierten Einleitung, in der die Implikationen des Mai 1968 aufgenommen sind.11 Bei diesem Band war für mich das einschließende „und“ gegenüber dem ausschließenden „oder“ bedeutend. Eine der Lektionen, die ich durch die Politik der Neuen Linken erhielt, war ironischerweise eine alte. Sie wurde 1936 durch Maurice Thorez, Kopf der Kommunistischen Partei Frankreichs, berühmt: „il faut savoir terminer une grève“ („man muss einen Streik beenden können“). Revolution ist demnach nicht eine ein für allemal feststehende Neubewertung aller Werte, was ebenso Gorz, auch in anderen Kontexten, immer wieder unterstrich. Zudem ist erwähnenswert, dass Gorz im April 1970, zunehmend durch Ivan Illich beeinflusst, ein Editorial in der „Les Temps modernes“ mit dem Titel „Détruire l’université“ (1970) veröffentlichte. Dieser radikale Aufruf mag eine allzu menschliche Reaktion auf die Aufregungen des Mai 1968 gewesen sein, aber darüber hinaus offenbart sich hier das Kernproblem von Gorz’ Argument, dass der Sozialismus nur auf einer synthetischen Politik immanenter Kritik basieren kann. Die Wurzel für dieses Problem liegt, so denke ich, darin, dass Gorz durchweg Philosoph in der Tradition existentieller Phänomenologie war.12 Ich will erklären, wie diese Philosophie verstanden werden kann und warum sie, mit all ihren Problemen, im Herzen von Gorz’ scharfsinniger politischer Sensibilität lag.

Die Umsetzung der Philosophie: „Le traître“

Am Anfang von „Le traître“ schaut der Autor aus dem Fenster, als er einen gewissen „Morel“ in Begleitung eines Redakteurs aus einem dunklen Türeingang kommen sieht. Morel – ein Pseudonym für Sartre – wurde „das Zeug“ vorgelegt. Es ist ein gewaltiges Manuskript, an dem Gorz neun Jahre lang gearbeitet hat. Der Autor ahnt, instinktiv, dass die Veröffentlichung abgelehnt wird. In seinem Vorwort suggeriert Sartre, dass dieser Instinkt, Gorz’ Selbstverständnis als ein Nichts, zu dessen innerer Motivation werden wird, „Le traître“ zu schreiben.13 Während der Arbeit an dem „Zeug“ schlug Gorz Pfade ein, die zur existentiellen Theorie der Moralität führten. Genauer: Gorz widmete sich dem Problem der existentiellen „Konversion“, die Sartre in „L’être et le néant“ ungeklärt gelassen hatte. Die Herausforderung bestand darin, den Dualismus – das „oder“ – zu überwinden. Dieses „oder“ separiert die tote Materialität des An-sich (oder des Seins) von der aktiven verneinenden Praxis des Für-sich (oder des Nichts). Gorz führt die praktisch-historischen Implikationen seiner Theorie in „La morale de l’histoire“ zur selben Zeit aus, als Sartre zu diesem Problem in „Critique de la raison dialectique“ zurückkehrt. Seine scheinbare Zustimmung zu Sartres Behauptung, dass der Marxismus „die Philosophie unserer Epoche“ (Sartre 1960b: 27) bleibt, und die Ähnlichkeit seiner Theorie der Entfremdung zu Sartres Konzept des „Praktisch-Inerten“, ließen mich im Nachwort zur zweiten Ausgabe der „Marxian Legacy“ (1988) die Behauptung vertreten14, dass Gorz ein Sartrianer ist und sogar stichhaltiger und philosophischer als Sartre selbst wirkt.15 So war für Sartre das „Praktisch-Inerte“ ein Ausdruck der Entfremdung in einer von Knappheit dominierten Welt. Diese Entfremdung der freien Praxis des Für-sich hält Individuen davon ab, frei miteinander zu kooperieren und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Der Ausweg aus dieser Verdinglichung der individuellen Praxis offenbart sich im Moment der „fusionierenden Gruppe“, die nach Sartre durch einen „totalisierenden Dritten“ ermöglicht wird, der als politische Partei (bzw. durch ihren Anführer) auftritt.

Gorz zeigt die antipolitischen Konsequenzen, die im Zusammenhang mit dem externen Dritten in Form der Partei bei der Entstehung der fusionierten Gruppe bestehen. Um ihre Einheit zu bewahren, muss die Gruppe so etwas wie eine moderne Bürokratie ausrufen, womit spezialisierte Funktionen, die Trennung von Person und Aufgabe sowie des Persönlichen vom Privaten einhergehen. Darin kommt eine entfremdete Politik zum Ausdruck. Von französischen kommunistischen Apologeten wurde eine solche Politik als Mittel zur Rechtfertigung eines glorreichen Zwecks akzeptiert. Aber das ist nicht die „Moral“, die Gorz sich zu analysieren vornahm, als er „La morale de l’histoire“ verfasste. „Für uns“, so schrieb er kursiv in den abschließenden Seiten dieses Essays, ist Sozialismus nicht ein Wert für Mitglieder einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft. „Für uns“, wieder kursiv, ist er nicht identisch mit jeder möglichen Gesellschaft; „für uns“, betont er weiter, ist der Sozialismus das Projekt, eine menschliche Welt und eine menschliche Person zu schaffen, die die Herrschaft von Bedarf und Notwendigkeit überwinden wird. „Für uns“ lässt sich der Wert nicht finden, wenn er schon entstanden ist, da es ja gerade auf „uns“ ankommt, ihn zu erschaffen (vgl. Gorz 1959: 278 f.).16 „Uns“ benutzt Gorz als redaktionelle Stimme, es ist der Autor in Person aller Menschen oder mit anderen Worten, die existentielle Stimme des Philosophen. Diese Stimme ist aber kaum wahrnehmbar. Sie wird zu diesem Zeitpunkt noch übertönt von der kollektiven Phantasie eines marxistischen Proletariats.

Erst als Gorz „adieux“ zum Proletariat sagt, wird die Stimme des Philosophen wieder deutlicher wahrnehmbar. Obwohl dieser „Abschied“ das Motiv der ersten beiden Teile von „Adieux au prolétariat“ (1980) ist, lässt sich dennoch ein Echo des Marxismus im dritten Teil „Jenseits des Sozialismus“ vernehmen (vgl. Gorz 1980: 59-108). Dessen erstes Kapital präsentiert den „Tod und [die] Wiederauferstehung des historischen Subjektes [als] die Nicht-Klasse der nachindustriellen Proletarier“ (ebd.: 61). Anklang findet er hier bei Alain Touraines Theorie der post-industriellen Gesellschaft (und natürlich auch bei Marx). Gorz argumentiert, dass Mitglieder dieser „Nicht-Klasse“ keineswegs von der Qualität der Arbeit, die sie verrichten, definiert werden, sondern von der routinierten, gleichgültigen, abstrakten Arbeit, die sie im Austausch für einen Lohn ausführen. Dies hat zur Folge, dass ihr Selbstverständnis und Selbstsinn nur von ihrer eigenen Subjektivität abhängen. Die subjektive Freiheit der „Nicht-Klasse“ wird im Prinzip durch ihre Verneinung der Imperative des kapitalistischen Systems repräsentiert. Die Verneinung ist aber nicht nur eine Ablehnung des Kapitalismus, sie ist darüber hinaus das, was Hegel eine „bestimmte Negation“ nannte, d. h. eine immanente Kritik, die eine Aufhebung auf einer höheren Stufe fordert. Gorz rekurriert, wie bei der früheren Suche nach den „neuen Bedürfnissen“, auf eine immanente Kritik. Die Bedürfnisse werden nun aber außerhalb des Arbeitsprozesses und der Erfahrungen des Proletariats situiert. Mit der Niederschrift von „Adieux au prolétariat“ hatte Gorz seine Hinwendung zum Themenfeld der Ökologie bereits vollzogen. Diese Hinwendung ist von seiner Kapitalismuskritik nicht zu trennen, jedoch wiederholt er dabei nicht eine Variante des alten sozialistischen Traumes.17

Notwendigkeit der Philosophie

Wie kann das Prinzip der Subjektivität, welches durch die „Nicht-Klasse“ verkörpert wird, eine aktive Kraft der Befreiung werden? In existentiellen Worten: Wie kann die „Nicht-Klasse“ ein Akteur „für sich selbst“ werden – also ein Subjekt, das die Kraft der Verneinung des Proletariats ersetzt, das im Laufe der Zeit jegliche emanzipatorische Stoßrichtung verloren und sich in Passivität transformiert hat? Gorz erkennt zwei mögliche Entwicklungen.

Erstens entstehen Freiheitsformen außerhalb der Grenzen der kapitalistischen, bürokratischen oder systemischen Notwendigkeiten. Beispielsweise wird in „Adieux au prolétariat“ davon gesprochen, wie der Feminismus den Wert von Intimität bekräftigt. Bezug genommen wird dabei auch auf Illitchs Idee von „Tools for Conviviality“ (1973). Bei derlei Freiheitsformen handelt es sich jedoch nicht nur um private Fluchtversuche ohne Konsequenzen für die Gesellschaft. Vielmehr kommt darin eine Verneinung der bürokratischen Reproduktion des Systems zum Ausdruck. Gorz geht aber noch weiter. In seinen folgenden Werken untersucht er die beginnenden Herausforderungen der herrschenden (Un)Ordnung. So auch in seinem letzten Text, in dem er auf die „Hacker-Ethik“ und die „Aneignung der Technologien“ in südafrikanischen Townships oder brasilianischen Favelas verweist.18 Es gibt allerdings zwei Probleme mit dieser von Gorz aufgezeigten ersten Entwicklung, der zufolge freie Subjektivität die entfremdete Rationalität einer post-industriellen Gesellschaft verneinen kann. Einerseits ist sich Gorz bewusst, dass unvermittelter Kommunitarismus zu einer Bedrohung der subjektiven Freiheit werden kann, beispielsweise, wenn er die Form des Tribalismus annimmt. Andererseits bleibt unklar, ob es einen „tipping point“ gibt, und wenn ja, wo, wie und wann er effektiv wird. Letzteres kulminiert in der Frage: Handelt es sich um einen existentiellen Sprung oder gibt es Raum für Politik?

Die zweite Entwicklung, mittels derer das Prinzip der subjektiven Freiheit realisiert werden kann, stützt sich auf die Erkenntnisse von Marx (besonders der „Grundrisse“), die auch Sartre betonte: Die Knappheit muss überwunden werden, bevor die Freiheit realisiert werden kann.19 Nur wenn die „Springquellen“ des Reichtums frei fließen, wie Marx sagt, kann die Opposition von Freiheit und Notwendigkeit überwunden werden. Selbst wenn die kulturelle Veränderung eintreten würde, die sich Gorz von der ersten Entwicklung verspricht, würden die freien Individuen immer noch dem Klima der Knappheit ausgesetzt sein. Diese Schwierigkeit bringt Gorz dazu, eine „dualistische Gesellschaft“ vorzuschlagen, die zwischen den Sphären von Heteronomie und Autonomie sowie den Imperativen einer technischen Rationalität und der freien Wahl von moralischen Werten unterscheidet. Diese beiden Domänen sind weder vordefiniert, noch hermetisch verriegelt. Beide können und müssen sich gegenseitig beeinflussen. Die Art und Weise, wie sie sich beeinflussen, definiert das Politische, das aus diesem Grund keine substanzielle, autonome Sphäre ist.20 Die freien Subjekte mit ihren moralischen Bedürfnissen hinterfragen die technischen Imperative der systemischen Reproduktion, gleich ob hinsichtlich der Art der Produktion oder in Hinblick auf die Regulierung sozialer Beziehungen. Derlei Hinterfragen könnte sich so äußern: Sollen Roboter lebendige Arbeitskräfte ersetzen? Um welchen menschlichen Preis sind Produktivitätssteigerungen wünschenswert? Das sind keine objektiven oder technischen Fragen, sie sollten vielmehr in Bezug auf politische Entscheidungen verstanden werden.21

In einem derart dualistischen Rahmen ist der moralisch freie politische Akteur mit dem Fakt der Notwendigkeit konfrontiert. Das Ersetzen des selbstregulierenden Marktes durch den regulativen Staat besagt, dass nun Notwendigkeit in Gesetzen neue Formen findet, die grundsätzlich für jeden Bürger individuell gültig sind. Obwohl die eigentliche Sorge des Staates auf der Reproduktion des Systems beruht und wenngleich die Rechtsverwaltung eine Instanz der Heteronomie zur Beschränkung der subjektiven Freiheit ist, erkennt Gorz die Allgemeingültigkeit dieser Gesetze an. Gesetze schützen die Rechte der Individuen und ermöglichen somit den politischen Kampf, der die Sphäre der Notwendigkeit definiert. Gorz sagt es wie folgt: „Die Politik ist der Ort, an dem die Gesellschaft sich ihrer Produktion als eines Gesamtprozesses bewusst wird und versucht, deren Ergebnisse zu beherrschen und deren Zwänge zu kontrollieren“ (Gorz 1980: 106).22 Der politische Kampf ist demnach inhärent pluralistisch; Interessen stehen im Wettbewerb miteinander, während moralische Ansprüche öffentlich debattiert werden. Dies bedeutet: „Die wesentliche Zwecksetzung des Politischen ist also nicht die Machtausübung. Seine Rolle ist im Gegenteil Abgrenzung, Orientierung und Kodifizierung der Aktionen der Macht, Bezeichnung ihrer Mittel und Ziele, Kontrolle, damit sie den Rahmen ihrer Tätigkeit nicht überschreitet“ (ebd.: 106 f.). Ihre formale Rolle ermöglicht substanzielle, individuelle Freiheiten. Man könnte diese Definition des Politischen auch als Neufassung französischer republikanischer Theorien verstehen, die eine implizite Geringschätzung für eine partizipatorische Demokratie aufweist. Ich schlage indessen vor, sie als Ausdruck für Gorz’ Sorge zu lesen, moralische Forderungen könnten innerhalb der sozialen Reproduktion entstehen und laut werden. Es bleibt daher zu fragen, was die Aufgabe des Politischen ist und wie sich die Beziehung zwischen dem Politischen und moralischen Werten gestaltet.

Gorz warnte eindringlich davor, das Politische mit der Ausübung von Macht zu verwechseln. Deutlich wird dies vor allem im Übergang von der Betonung post-industrieller, subjektiver Freiheit in „Adieux au prolétariat“ zu der sozialen Vision, die er in „Les chemins du paradis“ (1983) beschrieb. Dieses Werk, ironischerweise „Wege ins Paradies“ betitelt, lehnt die alte, revolutionäre Vision ab, die verheißt, Macht könnte in einem Moment ergriffen werden und im nächsten Moment dazu dienen, sozialen Beziehungen Freiheit aufzuerlegen, um die Zwänge der Notwendigkeit zu überwinden. Tatsächlich würde das das Ende des Politischen bedeuten. Das Politische würde hier als Mittel zum Zweck verstümmelt, der zudem in weiter Ferne liegt und keine substantielle moralische Basis aufweist. Demgegenüber macht Gorz deutlich: Das Politische „ist der Ort der Konfrontation zwischen moralischen Forderungen und äußeren Notwendigkeiten. Dies wird so lange andauern, bis das Bewusstsein, nach Hegels Ausspruch, der Welt nicht mehr ‚als einem für sich bestellten Garten‘ begegnet. Beständigkeit und Offenheit der Konfrontation allein können die Sphäre der Notwendigkeit aufs äußerste reduzieren und die Autonomiesphäre aufs äußerste erweitern“ (ebd.: 108). Während seine Kritik des inhärenten Modells der Revolution überzeugend ist, gibt es zugleich eine Unklarheit in Gorz’ dualistischer Theorie. Diese Theorie könnte nämlich sogar als linke Version von normativen bzw. deontologischen Theorien missverstanden werden, die im Anschluss an John Rawls’ „Theory of Justice“ (1971) aufkamen. Jedoch, liest man Gorz in diesem Licht, so vergisst man nicht nur den Fakt, dass er Philosoph war, sondern vielmehr, dass er ein moralischer Philosoph war. Obgleich man weder Philosophie, noch Moralität als „Garten“ im hegelianischen Sinne verstehen darf. Die Philosophie, wie die Moral, ist von der leiblichen Umarmung des Subjektes und der Welt nicht zu trennen.

Die Kritik der Normativität

Es ist wichtig, Gorz’ moralische und politische Theorie von den Debatten rund um die normative Theorie von Rawls, besonders von linken Rawlsianern, zu separieren. Gorz befasste sich zwar intensiv mit dieser Art von normativen Fragen, besonders aber mit jenen, die Jürgen Habermas mit der Unterscheidung von System und Lebenswelt neu formulierte. Gorz distanzierte sich etwas von den postmodernen Theorien à la Alain Touraine und wurde von Habermas’ Kritik des modernen Kapitalismus angezogen. Habermas hingegen sah Gorz wohl als jemanden, der zwischen den Imperativen systemischer sozialer Reproduktion und der Protektion der Lebenswelt gefangen war. Dieses Dilemma hatte Habermas früher als „Legitimationsproblem“ konzeptualisiert. Nun, in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), erhält das Problem eine andere Wendung und eine zusätzliche, normative Dimension. Politiktheoretisch wird die Problematik allerdings erst in der Diskurstheo­rie demokratischen Rechts in „Faktizität und Geltung“ (1992) ausgearbeitet. Ich werde mich bei diesem Problem und dessen Implikationen allerdings mehr auf eine politische Debatte konzentrieren, in der Gorz gleichwohl auch Teilnehmer war, statt auf meine persönliche Diskussion mit ihm. Ziel der Ausführung ist zu verdeutlichen, was Gorz unter Philosophie und politischer Moralität versteht.23

Nachdem die postmarxistische Linke sich von einer Politik verabschiedete, die auf der Idee der Arbeiterselbstverwaltung beruhte, und sich zu einer breiteren Vision der Autonomie – sowohl als Mittel als auch zum Zweck radikaler Politik – bekannte, wurde die Forderung nach dem Recht auf ein garantiertes Einkommen für alle Bürger laut, welches man als Voraussetzung für die Realisierung der Autonomie erkannte.24 Ein solches Recht, so wurde argumentiert, würde das Individuum vom entfremdenden System der Lohnarbeit befreien und somit die autonome Entwicklung persönlicher und sozialer Freiheiten ermöglichen. Das Problem war jedoch die Rechtfertigung eines solchen Rechtes. Speist es seine Legitimation lediglich aus dem Zwang zur Reproduktion eines zunehmend „immateriellen“ Systems, wie Gorz es in seinem 2003 erschienen Buch „L’immatériel“ beschreibt? Oder ist dieses Recht ein normativer, deontologischer, „rawlsscher“ Anspruch, der auf dem Vorrang der Vernunft basiert? Einer der führenden Teilnehmer in dieser Diskussion war Philippe Van Parijs. In einem schönen Text über Gorz, der nach dessen Tod veröffentlicht wurde, kehrt Van Parijs zu dieser Debatte zurück. Er erinnert sich an seine Begegnungen mit Gorz, an ihre Freundschaft und beschreibt sowohl ihre inhaltlichen Übereinstimmungen als auch ihre Divergenzen. Die lesenswerten Ausführungen zeigen, wie Van Parijs und Gorz sich mühselig darauf einigen konnten, dass eine Politik auf einem Grundeinkommen für alle Bürger beruhen muss. Begleitet werden die Ausführungen von Zitaten aus einem persönlichen Schreiben vom 7. November 1990, in dem Gorz Van Parijs erklärt, dass sie trotz ihres praktisch politischen Einvernehmens, sich in den philosophischen Grundsätzen, die eine solche Politik rechtfertigen, unterscheiden: „Ich stimme den Schlussfolgerungen zu, aber ich empfinde ein Unbehagen, welches durch die Anhänger der angelsächsischen Denkschule hinsichtlich eines ‚Grundeinkommens‘ provoziert wird. Warum? Das Argument verbleibt auf einer quasi-algebraischen Logik und Gerechtigkeit kann nie auf eine solche Dimension allein reduziert werden. Gerechtigkeit basiert ebenfalls auf einem normativen Sinn, welcher all ihren möglichen Rationalisierungen vorausgeht. Man kann von einer normativen zu einer logischen und juristischen Formalisierung übergehen, aber der umgekehrte Weg ist nicht möglich. Was fehlt, sind die unübersetzbaren lebensweltlichen Interessen und Zusammenhänge (die Interessen und Beziehungen, die in der Lebenswelt bestehen), die es dem Individuum ermöglichen, sich in seinem sozialen Raum ‚zu Hause‘ zu fühlen“ (Van Parijs 2007: 175).25

Diese Passage ist mit Vorsicht zu lesen. Normen, deren Basis der sozialen Rationalisierung vorausgehen, können beispielsweise in Rechten oder in politischen Institutionen eine rationale Form finden. Aber Rechte oder politische Entscheidungen, die auf einer rationalen Ebene als Imperative für die Reproduktion des Systems gerechtfertigt werden, können nicht die subjektive Einwilligung der partizipierenden Bürger sicherstellen. Dies ist das praktische Dilemma, mit denen die Vertreter einer deontologischen, normativen und auf Rechten basierenden politischen Theorie konfrontiert sind. Wie kann gewährleistet werden, dass das, was (aus systemischen Gründen) getan werden muss, tatsächlich getan wird? Gorz führt zwei miteinander verwobene und sich gegenseitig ergänzende Argumente bezüglich des Problems ins Feld. Das erste Argument ist Bestandteil dessen, was er in „Adieux au prolétariat“ als das Politische definiert. Vorausgesetzt ist dabei ein universeller Rechtsschutz, und somit auch individuelle Rechte, die sicherstellen, dass die Bürger sich und ihre Interessen verteidigen können. Das Politische wird hier von der externen Perspektive des Beobachters her definiert, der die Systemreproduktion analysiert. Das zweite Argument von Gorz rekurriert auf Gerechtigkeit, ein Wert, der hinter (formalen) Rechten besteht, weil Gerechtigkeit ihre Rechtfertigung ist. Gerechtigkeit, so Gorz, hat ihre Wurzeln in der Lebenswelt des Individuums und in der Gesellschaft. Diese Unterscheidung deutet an, dass der Satz von Gorz, in dem er auf der Gerechtigkeit beharrt, in seinem Brief an Van Parijs wie folgt gelesen werden sollte: „Gerechtigkeit basiert auch auf einem [gelebtem] normativen Sinn, der all ihren möglichen [systemischen] Rationalisierungen vorausgeht.“ In diesem Sinne ergänzt das zweite Argument das erste, dessen Definition des Politischen nur auf einer systemischen Ebene verweilt.

Gorz’ Berufung auf das Gerechtigkeitsideal lässt ihn zu den Erkenntnissen seiner früheren Werke, die die Entwicklung seiner politischen Theorie begleiteten, zurückkehren. Deshalb beharre ich darauf, dass Gorz durchweg ein Philosoph war. Auch wenn er die Sprache eines normativen, politischen Theoretikers benutzt, die anscheinend Anleihen bei Habermas nimmt. Im Kern folgt er Husserls Denklinie, wenn er die phänomenologisch-dialektische Methode von „Le traître“ anwendet, um zu zeigen, wie und warum die objektivierende Perspektive der dritten Person durch eine subjektive Evaluation der Lebenswelt – in der sich die Teilnehmer „zu Hause“ fühlen – einer ersten Person ergänzt werden muss. Gerechtigkeit gehört zu einer präreflexiven Lebenswelt. Es ist die existentielle Erfahrung, die in der letzten Instanz der entscheidende Faktor im Übergang vom Prinzip der subjektiven Freiheit zu ihrer Realisierung in Form von Rechten ist. Diese Rechte bleiben trotz ihrer Institutionalisierung umstritten, weshalb sie innerhalb des politischen Prozesses zugleich erhalten und in Frage gestellt werden.26 Diese prärationale, subjektive Sensibilität gegenüber Gerechtigkeitsforderungen ist weder immanent, noch ist sie unberührt von der Welt, in der sie auftaucht. Es ist diese „Moralität“, deren Basis Gorz suchte, als er sich dem „Zeug“, den „Fondements pour une morale“, widmete. Ihre praktische Gestalt formulierte Gorz „für uns“, als Wert des Sozialismus, in „La morale de l’histoire“. Es ist auch die praktische Motivation der „Chemins du paradis“ und der Sinn der modernen „Métamorphoses du travail“ (1988) sowie der „Reichtum des Möglichen“, der die „Misères du présent“ (1997) kontrastiert. Dies klingt wieder an in seinem letzten Text aus dem Jahr 2007, „La sortie du capitalisme a déjà commencé“. Hier beschreibt er die systemischen Veränderungen die begonnen haben und schließt, indem er äußert: „Ich sage nur, dass wir zum ersten Mal hoffen dürfen, dass sie Wirklichkeit werden“ (Gorz 2007: 29). Gegen diese Schlüssigkeit, und vielleicht gerade weil seine Darstellung und Kritik der systemischen Imperative des modernen Kapitalismus so überzeugend und eindringlich sind, ist nicht klar, warum Gorz anscheinend sicher ist, dass Gerechtigkeit letztendlich erreicht wird, da das System sie ja nicht allein verordnen kann. Es muss also einen Grund in der Erfahrung der modernen Lebenswelt geben, der diese Sicherheit zu erklären imstande ist.

Rückkehr zu „Le traître“

Es ist fraglich, ob es Gorz jemals geschafft hat, seinen zuweilen theoretischen Pessimismus mit seinem praktischen Optimismus in Einklang zu bringen und schlüssig zu erklären. Er sagt nicht, warum er sich dazu entschloss, „Le traître“ 2005 neu zu veröffentlichen, nachdem er seit Jahrzehnten nicht mehr gedruckt wurde. Und seine Erklärung, einen Text mit dem Titel „Le vieillissement“27, der erstmalig in „Les Temps modernes“ im Dezember 1961 und Januar 1962 erschien, anzuhängen, scheint im Widerspruch zu seinem Beharren auf einer präreflexiven Lebenswelt als Ursprung für ein tiefes Verlangen nach Gerechtigkeit zu stehen. Gorz fragt hier: „Wie kann man in diese Gesellschaft eintreten, ohne auf die Möglichkeiten und die Wünsche zu verzichten, die man in sich trägt?” (Gorz 1961/62: 359). Selbst 40 Jahre später besteht er darauf, dass diese Frage noch relenvant ist. Aber er erwähnt nicht, warum sie noch gültig ist. Natürlich kehrt Gorz nicht zu der klassischen Argumentation Rousseaus zurück. Weder nimmt er an, dass das freie, individuelle Subjekt außerhalb einer Gesellschaft besteht, der es nachträglich gezwungenermaßen beitritt, noch kann er die klassische Vertragstheorie aktualisieren, um die Rechte – die von zeitgenössischen normativen Theoretikern angenommen werden – vor ihrer deontologischen Wiederbelebung des Gesellschaftsvertrages zu verteidigen. Die plausibelste Lesart – so denke ich – sollte bei der Unterscheidung von System und Lebenswelt ansetzen. Diese Unterscheidung ist aber genauso künstlich wie jene zwischen der Perspektive der dritten und der ersten Person, die er in „Le traître“ anwendet. Demnach ist die moralische Forderung nach Gerechtigkeit nicht in purer Subjektivität begründet, sie ist vielmehr ein leibliches, ein erfahrbares Bedürfnis. Sie ist genauso leiblich, wie die Philosophie von Gorz, ja, wie dieser Philosoph selbst, als er bei seiner Relektüre von „Le traître“ mit Schrecken erkannte, mit welcher unglaublichen légerté er die Liebe seines Lebens behandelt hatte. Die Entdeckung dieser Ungerechtigkeit sprang ihn an wie eine Aggression; es war seine Lebenswelt, sein Sinn, seine ureigenen Werte, die ihrer Grundlage beraubt wurden.

Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass „Le vieillissement“ eine moralische Verwandlungskrise ähnlich der aus „Lettre à D.“ präsentiert. Dennoch gilt: Obwohl Gorz normalerweise vordergründig ein nüchterner Autor war, beschreibt er in diesem Text seinen Schock, als er realisierte, dass er gealtert ist. Er benutzte dieselben Methoden, die er schon zuvor in „Le traître“ zur Anwendung brachte. Erneut beschrieb er sich selbst in der dritten Person, als ein zu studierendes Objekt. Jedoch wechselt er in den entscheidenden Momenten zurück in die erste Person, um zu erklären, was nun evident geworden sei. Die wichtigsten Aspekte des Textes seien hier kurz erwähnt: Altern ist kein physiologischer, sondern vordergründig ein sozialer Prozess. Das Kind an sich hat kein Alter, es altert aber, indem es verschiedene Ebenen durchläuft, die letztendlich zu dem führen – bzw. das fabrizieren28 –, was die Gesellschaft als Erwachsensein festlegt. Ein Aspekt dieses Erwachsenseins ist der Verlust einer Freiheit, die nur den Jungen gebührt. Die Jugend wird von den Anderen als ein Bündel von Möglichkeiten angesehen. Die mit der Jugend verbundene Freiheit ist aber nicht nur von außen „situiert“. Sie ist zudem das Produkt von Nicht-Handlungen. Obwohl Sartre und sein ehemaliger Kommilitone Paul Nizan das Ideal der Jugend als bourgeoise Illusion verworfen haben, beharrt Gorz darauf, dass es selbst in einer klassenlosen Gesellschaft einen Generationenkonflikt geben wird, wenn die Alten die Institutionen verlassen und Erwartungen in die Jungen sozialisiert werden, denen sie aber nicht entsprechen.

Gorz entwickelte diese These im Alter von 36 Jahren. Er war zu seiner Zeit ein anerkannter Autor mit einem gesicherten Arbeitsplatz. Es gibt Menschen, die zu ihm aufschauen und gewisse Erwartungen an ihn haben, z.B. soll er kritisch über die Politik schreiben und so einer gesellschaftlichen Rolle gerecht werden. Er ist stolz auf seine Errungenschaft, zugleich davon aber auch angewidert und sieht resigniert dieses Schicksal als eines von „jedermann“ an. Er ist „jemand“ geworden. Aber jemand zu sein, bedeutet ein Ding geworden zu sein. Gorz beschreibt dies in der dritten Person, indem er sagt: „Er erlebte diese Erfahrung als die eines Absturzes“ (Gorz 1961/62: 385). Der einst freie Jugendliche mit seinen unendlichen Möglichkeiten, weil er nichts war, hat nun Verpflichtungen und eine Karriere. Als Ergebnis formuliert er: „Du wirst nicht mehr unterdrückt, du unterdrückst dich selbst“ (ebd.: 387). Und alsbald ist man jemand, der „sein Anderssein ‚personalisiert‘, als wäre er der Andere-in-Person“ (ebd.: 388). Aber gibt es überhaupt eine andere Möglichkeit als die verdinglichte Subjektivität des Erwachsenseins?29 Man könnte, wenn man so wollte, sagt er, sich selbst als Ergebnis seiner Handlungen ansehen, also als Abenteurer, Heiliger oder auch nur als Ästhet, der voll im Moment lebt. Dies war seine eigene Entscheidung als er jung war und an „dem Zeug“ arbeitete. Tatsächlich analysiert das lange zweite Kapitel der „Fondements pour une morale“ den Preis solcher Versuche des Subjekts, seine Subjektivität zu erhalten. Es zeigt, dass der Preis Selbstaufgabe, Scheitern und vor allem Erfolglosigkeit ist, die die Validität aller moralischen Werte verneint, so wie es die „Axiologie“ des letzten Abschnittes des Werkes demonstriert (vgl. Gorz 1955: 249-429, 499-591).

Resümierend bemerkt Gorz, dass man später nicht zu den unendlichen Möglichkeiten der Jugend zurückkehren kann. Man ist in einem Netz gefangen, dass man sich selbst gestrickt hat. Jeden Tag verstärkt man es, selbst wenn man sein Leben in einer Art von „dynamischer Konformität“ reproduziert. Manchmal, zwischen den Zeilen, scheint es aber so, als fordere Gorz dazu auf, zu den unendlichen Möglichkeiten, die einem einst offen lagen, zurückzukehren. Rückkehr also zu dem Stadium, als man ein Nichts war, weil die eigenen Handlungen noch keine Spuren hinterlassen haben. Den Preis des eigenen Erfolgs jedenfalls formuliert Gorz so: „Man muss akzeptieren, endlich zu sein: hier und nirgendwo anders zu sein, dies und nicht jenes zu tun, jetzt und nicht nie oder immer; nur hier, nur dies, nur jetzt – nur dieses Leben zu haben“ (Gorz 1961/62: 391).

Diese nüchterne Erkenntnis ist verwirrend. Ist sie ein Ausdruck von Resignation? Vielleicht. Aber die Abwendung des Subjekts von seinen Projekten ist nicht fatalistisch. Im Gegenteil. Es ist die Erkenntnis, dass Projekte immer im gelebten Leben situiert sind und dass der Wert eines jeden Projekts durch Beurteilungen bestimmt wird. Einen ähnlichen Punkt machte Gorz bereits im letzten Abschnitt von „Le traître“. Hier heißt es: „Man muss wollen, dass die Handlung über ihre Absicht hinausgeht, denn ihre Realität hat diesen Preis“ (Gorz 1958: 354). Aber, so fährt er fort, es ist notwendig „die Gesamtsituation [zu] erkennen, in welche die begonnene Handlung sich einschreiben wird; das Feld und die Richtung [zu] erkennen, in der man verpflichtet werden möchte“ (ebd.). Unter diesen Bedingungen sei er bereit „verraten“ zu werden, in dem Sinne, dass seine Handlungen Folgen für die haben, deren Werte er teilt. Und das heißt, so schließt er ab, „weiter gebracht zu werden, als ich selber gehen kann“ (ebd.).

Diese Schlussfolgerung lässt die Vermutung zu, dass Gorz seinen Essay über das Altern „Le traître“ beifügte, um seine engagierte Philosophie zu unterstreichen. Dabei hinterlässt er jedoch zwei offene Fragen, die ihn durchweg in seinem intellektuellen Schaffen beschäftigten: Wie ist das Verhältnis von den Grenzen systemischer Reproduktion der Gesellschaft zu der Freiheit des Subjekts, das sich in der Lebenswelt „zu Hause“ fühlt? Und welchen Einfluss hat dieser eher grundlegende Konflikt auf die politische Dynamik, die durch die Gegensätze der kapitalistischen – oder weiter gefasst, industriellen – Reproduktion in Bewegung gesetzt wurde? Gorz versuchte anscheinend auf diese Fragen eine Antwort zu finden, und zwar in dem Entwurf einer neuen Einleitung zu „Le traître“. Der Titel des Manuskriptes ist regelrecht programmatisch: „Nous sommes moins vieux qu’il y a vingt ans“ („Wir waren vor 20 Jahren älter, als wir es jetzt sind“).30 Gorz kehrt mithin zur Rezeption seines Essays über das Altern zurück, in deren Folge er Einladungen zu Diskussionen in der Gruppe um Sartre, insbesondere durch Beauvoir, erhielt: „Jede Person kämpft gegen eine Ordnung, die sie unterdrückt, zu deren Erhalt und Bestärkung sie jedoch selbst beiträgt“ (Fourel 2012: 271).31 Er erinnert sich an die Zeit, als er den Text schrieb und die Hoffnung auf der „Jugend“ Algeriens, Kubas und Brasiliens beruhte, sowie in Vertreter der Befreiungstheologie gesetzt wurden. „Ich war also, wie viele zu dieser Zeit, ein Anhänger der Dritte-Welt-Bewegungen, allerdings nur für eine kurze Zeit“ (ebd.: 273).32 Diese Hoffnung scheint bei Gorz auf ganz anderem Wege wiedergekehrt zu sein, und zwar aufgrund eines industriellen Kapitalismus, der an seine Grenzen stößt und Erwachsene produziert, die aber eigentlich Jugendliche bleiben. Viele „Erwachsene“ können sich nicht mit ihrer Arbeit identifizieren, während andere durch prekäre Arbeitsverhältnisse – respektive durch deren Nichtexistenz – im Zustand der Jugend verweilen. Die Hoffnung besteht nun darin, dass sich für sie neue Möglichkeiten ergeben. Und, so schließt Gorz ab: „Ich konnte das nicht vorhersehen, als ich 36 Jahre alt war. Ich konnte nicht sagen, dass ich mit 60 Jahren noch ein zweites Leben mit der Gefährtin beginnen würde, mit der ich für immer vereint war” (ebd.: 274).

Diese Anspielung auf „Lettre à D.“ bietet einen Einblick in die Tiefen von Gorz’ moralischer Philosophie, also in die Vision einer Lebenswelt, die tiefer und komplexer – aber auch intuitiver – ist, als er es je zugegeben hat. Ich nenne sie aufgrund ihrer Verkörperung in der Natur und dem Menschen leiblich. Patrick Viverets systemischer Versuch, die Lehren des „Lettre à D.“ hinsichtlich der „emotionalen“ Elemente sozialen Wandels zu formulieren, zeigt eine ähnliche Interpretation der Art, dass eine unausformulierte, intuitive Beziehung zur Lebenswelt einen Ersatz zur transformativen Kritik des sozialen Systems darstellt (vgl. Viveret 2009). Eine andere Version dieser Intuition lässt sich am Anfang der „Fondements pour une morale“ finden. Gorz gesteht hier, dass er nicht nur in Sartres Schuld steht, sondern auch in der Maurice Merleu-Pontys und dessen Theorie der Leiblichkeit.33 Aus diesem Grund befassen sich die ersten Kapitel des Buches mit der Natur und dem Leib in der Natur. Derselbe Impuls kehrt in der entscheidenden Diskussion der „Axiologie“ im dritten Teil zurück (vgl. Gorz 1955: 431-591, bes. 550, 556). Mittels der ständigen Erneuerung der Moralität durch die „Natur“ im Prozess der Ablehnung des Naturgegebenen, entsteht implizit der Bedarf, die Passivität der Natur zu überwinden. Diese Intuition, die in der leiblich präreflexiven Lebenswelt verankert ist, war, obgleich nie vollends thematisiert, in Gorz’ täglichem Leben evident. Ich möchte mit zwei persönlichen Beispielen abschließen, die eher erlebt als theoretisch sind, und die das soeben Gesagte unterstreichen.

Ich kann mich noch an seine instinktive Reaktion vor 40 Jahren erinnern, als wir auf einer von dem Journal „Telos“ organisierten Konferenz in Buffalo (New York) waren. Zur Diskussion standen die frühen amerikanischen Versuche, Feminismus und Marxismus zu assimilieren, indem der Bedarf eines „Lohns für Hausarbeit“ geäußert wurde. Gorz erwiderte scharf, dass dies die persönliche und unmittelbare Intimität des menschlichen Miteinanders zerstöre und einen Schatten auf alle Visionen einer gerechten, moralischen Beziehung zwischen den Geschlechtern werfe. Diese instinktive Reaktion erklärte und erkundete er später in seiner Demonstration der systemischen Schädigung durch die kapitalistische Verdinglichung persönlicher Dienstleistungen in eine Industrie, die zerstörend auf alle Zustände wirkt, die notwendig sind, um menschliche Beziehung herzustellen. Das zweite Beispiel ist etwas persönlicher und was ich damit ausdrücken möchte, wird denen, die das Glück hatten, André Gorz kennenzulernen, bekannt sein. Als ich Gérard34 und Dorine vor 20 oder 25 Jahren besuchte, fuhr Gorz mit mir in einen kleinen Wald. Er führte mich zu einem besonderen Baum, der noch lebte, obwohl er ein völlig ausgehöhltes Inneres hatte. Er war umzingelt von vier Baumstämmen, die sich zum Himmel aufrichteten. „Fühle diese Stämme, du wirst merken, dass in ihnen das Leben pulsiert“, gab er mir streng zu verstehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es seine befehlende Sicherheit war oder ob der Lebenssaft tatsächlich in dem Baum pulsierte. Aber ich fühlte etwas, es war körperlich, lebendig. Auch bin ich mir nicht sicher, ob wir – wie er in seiner letzten Veröffentlichung nahelegt – einen „zivilisierten Ausweg aus dem Kapitalismus“ finden (Gorz 2007: 28). Ich weiß jedoch sicher, dass ich will, dass wir einen solchen Ausweg finden und dass André Gorz mir geholfen hat, meine eigenen Intuitionen zu verstehen.

Aus dem Englischen von André Häger

 

Anmerkungen

1   [Anm. d. Ü.] Für die Unterstützung bei der Übertragung des Textes aus dem Englischen danke ich Matthis Hegewisch.

2   „Le traître“ erschien bei Éditions du Seuil. Die Schrift wurde äußerst positiv aufgenommen, nicht zuletzt aufgrund des Vorworts von Sartre. Die englische Übersetzung – aus dem Französischen von Richard Howard – wurde 1959 bei Simon & Schuster unter dem Titel „The Traitor“ veröffentlicht.

3   [Anm. d. Ü.] Den Ausdruck „revolutionäre Reformen“ prägte Gorz in „Stratégie ouvrière et néocapitalisme“ (1964), er nahm damit den „alten“ Dualismus zwischen Revolution und Reform auf. Anhand des Begriffes versuchte er die Vermittlung zwischen den beiden Momenten neu zu bestimmen und sie den Bedingungen der Zeit anzupassen. Dem Begriff „revolutionäre Reformen“ ist kategorial eingeschrieben, dass es in Westeuropa nicht mehr um die Möglichkeit der Revolution allein gehen kann, da sie ihre unmittelbare Notwendigkeit verloren hat, d.h. keine Voraussetzung für das nackte Leben mehr darstellt.

4   Unsere erste Begegnung war nicht vielversprechend. Ich hatte einen Essay über die neue Amerikanische Linke geschrieben und der „Les Temps modernes“ vorgelegt. Ich erhielt eine Zusage von Claude Lanzmann, einem Herausgeber der Zeitschrift. Kurz darauf, im Sommer 1966, kam ich in Paris als Student an und war darauf gespannt, meinen Artikel in den Bücherläden zu finden, der aber nicht gedruckt wurde. Ich erfuhr später von Gorz, dass unsere Unstimmigkeiten der Beweggrund für die Nichtveröffentlichung waren. Leider erinnere ich mich nicht an diese Unstimmigkeiten. Aber ich erinnere mich daran, sehr wenig über Marx und den Marxismus in jenen Tagen gewusst zu haben, ebenso wenig wie über die Politik. Dies geschah in einer Zeit, in der Gorz Beziehungen zu kritischen Stimmen innerhalb der Studentenbewegung (UNEF) pflegte und Veröffentlichungen in der „Les Temps modernes“ von Studentenführern, z. B. Marc Kravetz, befürwortete.

5   In einem Brief vom August-September 1986 schreibt Gorz mir, dass, trotz meiner Kritik an Marx, er diesen für sehr fruchtbar halte, weil Marxens Schriften viele lose Enden aufweisen würden und es möglich sei, Marx gegen sich selbst auszuspielen. „I derive great pleasure in doing this“, bemerkt Gorz hier. (Ich danke Françoise Gollain, die die Korrespondenz zwischen Gorz und mir gesichtet und mich an diese Passage erinnert hat).

6   Gorz’ letzter Text „La sortie du capitalisme a déjà commencé“ kann als Antizipation der Kapitalismuskrise gelesen werden, die noch nicht vorüber ist. Siehe Gorz 2007.

7   Ich sollte ergänzen, dass im IMEC nicht der Großteil meiner Korrespondenz mit Gorz zu finden ist. Es gibt eine nahezu vollständige Version in meinen Archiven, die in der Library of the Stony Brook University lagern. Sie enthalten auch nicht im IMEC archivierte Briefe von Gorz, die oft mit handgeschriebenen Bemerkungen versehen sind.

8   [Anm. d. Ü.] „Lettre à D.“ ist gewissermaßen der Versuch, das Bild, das Gorz von Dorine in „Le traître“ skizziert hat, zu korrigieren. Er veranlasst, dass eine Nachbemerkung in allen Neuauflagen der Schrift eingefügt wird. Diese folgt den „elf Zeilen Gift“ (Gorz 2006: 61) und enthält die ersten Sätze des „Lettre à D.“ Siehe Gorz 2006: 5 f., Gorz 1958: 310 f. Auf den wenigen Seiten, wo von Dorine, hier Kay genannt, in „Le traître“ die Rede ist, skizziert Gorz eine unsichere und schwache Person, die in völliger Abhängigkeit von ihm lebte. So heißt es hier: „Kay, die krank war und niemanden kannte, die kein Wort Französisch sprach und um ein Quäntchen seiner Zeit bettelte.“ Und ein paar Zeilen weiter: „Kay, die sich für ihn in Stücke hätte reißen lassen und die sich, auf die eine oder andere Weise […] zugrunde gerichtet hätte, wenn er sie hätte fallen lassen“ (Gorz 1958: 295). Solche Zeilen wird Gorz später bitter bereuen. In „Lettre à D.“ bittet er Dorine um Verzeihung und bemerkt: „Wer war ich, als ich diese Zeilen geschrieben habe? Ich fühle das schmerzliche Bedürfnis, […] zurückzudenken an diejenige, die Du in Wahrheit für mich gewesen bist“ (Gorz 2006: 61).

9   Ich werde mich größtenteils auf meine eigene Erinnerung stützen, anstatt auf die vielen Briefe, die wir über die Jahre ausgetauscht haben (obwohl Françoise Golain mir ihre detaillierten Notizen zu unserem Austausch gezeigt hat, die nicht nur Gorz’ Werke betreffen, sondern auch die Lektüre meiner Briefe – aber diese Ausführungen befassen sich mit Gorz, nicht mit mir).

10 [Anm. d. Ü.] Zur Theorie der Bedürfnisse vgl. Gorz 1964: 97-125.

11 Es sollte gesagt werden, dass sich das neue Material nicht mit der sowjetischen Invasion befasst, obwohl es die Politik des Leninismus und der französischen kommunistischen Partei kritisiert. In „Réforme et Révolution“ versucht Gorz die Natur und Funktion einer neuen revolutionären Partei zu skizzieren und merkt an, dass dieses Kapitel bereits 1966 geschrieben wurde [Anm. d. Ü.: Die hier besprochene Neuauflage der „Stratégie ouvrière et néocapitalisme“ gibt es so in deutscher Sprache nicht. Für das hier erwähnte Kapitel „Réforme et Révolution“ siehe Gorz 1966]. In einem Brief an mich von 2003, nachdem ich ihm mein Buch „The Specter of Democracy“ (2002) geschickt habe, betont Gorz drei Positionen, die wir gemeinsam haben: Das Schreiben in drei Sprachen, die Wichtigkeit immanenter Kritik und unser Beschluss Anti-Politik zu denunzieren. Aber, nachdem er meiner Kritik des „Realsozialismus“ zustimmte, fügte er hinzu, dass die neo-liberalen Antipolitiken seine Hauptsorge sind.

12 Dies machte Gorz auch in einem langen Interview deutlich, welches im Rahmen eines dreitägigen Treffens des Deutschen Gewerkschaftsbundes entstand. Das Interview wurde in der Zeitung „Gewerkschaftliche Monatshefte“ im Januar 1984 veröffentlicht [Anm. d. Ü.: Auch zugänglich im Protokoll der dreitätigen Arbeitstagung, siehe DGB 1983:163-199]. Gorz schickte mir eine Kopie, die entweder verloren gegangen ist oder in meinen Archiven liegt. Die französische Übersetzung tauchte in „Autogestions“ auf und wurde neu veröffentlicht in Fourel 2012: 249-267. Am Anfang des Interviews erklärt Gorz: „Je me vois comme un philosophe naufragé qui, à travers des essais en apparence politiques ou philosophiques, essaie de faire passer en contrebande des réflexions originellement philosophiques” (Fourel 2012: 250) [Anm. d. Ü.: „ich empfinde mich als einen verunglückten Philosophen, der seine ursprünglich philosophischen Überlegungen über scheinbar politische oder soziologische Themen einzuschmuggeln versucht“ (DGB 1983: 163)]. M. W. ließ Gorz „Détruire l’université“ nie neu auflegen. Eine weitere, ähnliche Inkonsistenz, mit wahrscheinlich gleichen Motiven, lässt sich in seiner kurzen „Dritten-Welt-Duselei“ finden, die er in dem Brief „Au camarade Che Guevera“ offenbart. Der Brief erschien in „la Casa de las Americas“ in Havanna Anfang 1968 und wurde kürzlich nachgedruckt, siehe Fourel 2012: 247 f.

13 Als Gorz bereits ein bekannter Autor war, publizierte er „das Zeug“ unter dem Titel „Fondements pour une morale“. In der 1977 verfassten Einleitung erklärt er, dass der Großteil seiner Theorie, die er in „Le traître“ und in „La morale de l’histoire“ niederschrieb, bereits in diesem Manuskript zu finden ist, vgl. Gorz 1955: 18 f.

14 [Anm. d. Ü.] Das hier erwähnte Nachwort „Afterword to the second edition“ findet sich in Howard 1988: 297-307.

15 Gorz war auch wesentlich scharfsinniger als Sartre in seiner Wahrnehmung der sozialen Transformationen. Seine Theorie der Entfremdung ging weit hinter die Kritik der entfremdeten Arbeit zurück und zeigte, dass Entfremdung den Arbeiter in einen völlig abhängigen Konsumenten verwandelt. Diese Einsicht öffnete David Riesman und C. Wright Mills den Weg in die französische Linke.

16 Ein Unterschied zwischen Gorz’ Lesart von Sartre und meiner eigenen betrifft die Rolle der Dritten Partei. Gorz scheint keinen Einwand gegen ihre revolutionäre Rolle zu haben. Was ihn sorgt, sind die entfremdenden und bürokratischen Konsequenzen, wenn diese Gruppe an die Macht kommt. Meine Kritik an Sartre dreht sich eher um die antipolitische Logik, in der der Sartresche Dualismus nur durch die fusionierende Gruppe überwunden ist. Anders ausgedrückt, meine Kritik ist politisch, während Gorz sich mit den sozialen und persönlichen Kosten einer Antipolitik befasst. Bezüglich meiner Interpretation von Sartre siehe Howard 1988.

17 Gorz’ Hinwendung zur Ökologie ist dokumentiert in „Écologie et politique“ (1975) und „Écologie et liberté“ (1977). Da diese Hinwendung integraler Bestandteil seiner Kapitalismuskritik ist, werde ich hier keine separate Diskussion zu Gorz’ ökologischen Theorien führen.

18 [Anm. d. Ü.] Gemeint ist „La sortie du capitalisme a déjà commencé“, siehe Gorz 2007.

19 Dieses Motiv wurde zunehmend wichtiger für Gorz, was in „Les chemins du paradis“ (1983) dokumentiert ist. Diesen Text schrieb Gorz ergänzend zu „Adieux au prolétariat“. Die „Les chemins du paradis“ verkünden die „Revolution der freien Zeit“, während „der wahre Reichtum“ auf der Basis neuer Technologien aufbaut. In diesem Kontext sei auf Daniel Mothé’s „L’utopie du temps libre“ verwiesen, in der eine Kritik der Thesen von Gorz enthalten ist. Ihm wird hier vorgeworfen, eine „naturalistische Ideologie“ zu verfolgen, die den „Narzissmus des Individuums“ zur Folge hat. Vgl. Mothé 1997: 19. Bemerkt sei, dass Mothés Kritik aus der Linken kommt, die diesen Individualismus entgegen einer Priorität des Allgemeinwohls ablehnt. Mothé arbeitete mehrere Jahre am Fließband bei Renault in Billancourt. Er war ein früheres Mitglied der Gruppe „Socialisme ou Barbarie“, wurde nach einem Arbeitsunfall Soziologe und schrieb unter seinem bürgerlichen Namen Jacques Gautrat. Seine politischen Schriften veröffentlichte er weiterhin unter dem Pseudonym Daniel Mothé.

20 Dies ist die Quelle eines Unterschiedes zwischen Gorz und Habermas. Habermas benutzt eine modifizierte Webersche Theorie der Moderne, deren Entwicklungen sich in einer Autonomisierung und Differenzierung bestimmter Lebenssphären ausprägen. Das Politische wird demnach, wie die Familie oder das Rechtssystem, zunehmend autonomer. Damit einher gehen Schübe einer Rationalisierung. Das Problem, wie Gorz es betont und Weber es herausgestellt hat, ist, dass Rationalität stets dahin tendiert, alles und jedes zu formalisieren. Siehe dazu die Diskussion von Françoise Gollain und Christophe Fourel, die demnächst in „La Vie des idées“ erscheinen wird.

21 Was Gorz mit dem „Politischen“ und der Verbindung zwischen tatsächlichen politischen Entscheidungen und dem Politischen meint, war häufig Thema unserer Korrespondenz. In seinem Text „L’écologie politique entre experocratie et autolimitation“, den er mir widmete [Anm. d. Ü.: Siehe Gorz 1992], gibt es eine interessante Fußnote bezüglich des Politischen. Die Fußnote nimmt Bezug auf die Einleitung in der zweiten Ausgabe meines Buchs „From Marx to Kant“ (1993) und preist „The Marxian Legacy“. Er bemerkt hier, dass er im letzten Kapitel und im Nachwort von „Adieux au prolétariat“ das Politische auf ähnliche Weise wie ich definiert [Anm. d. Ü.: Siehe Gorz 2008: 122, Anm. 8].

22 [Anm. d. Ü.] Der Ausdruck „Politik“ ist hier unglücklich gewählt, da er im Sinne des Politischen Anwendung findet.

23 Zu dieser Zeit drehte sich der Großteil meiner Diskussion mit Gorz um die Politik der Demokratie, ein Thema, dass ich hier nicht weiter ansprechen werde. Meine Interpretation der Theorie der Demokratie in „Faktizität und Geltung“, bei der ich von den Thesen Claude Leforts ausging, wurden von Philosophen und Rechtswissenschaftlern, die Teilnehmer eines internationalen Seminars der Cordozo Law School waren, nicht ernst genommen. Das machte meinen Austausch mit Gorz aber umso bedeutender. Mein Beitrag war Bestandteil der Tagungsprotokolle, wurde aber von der gebundenen Ausgabe ausgeschlossen, siehe Rosenfeld/Arato 1998. Mit ein paar Änderungen wurde der Beitrag an anderer Stelle veröffentlicht, siehe Howard 1996. In die gleiche Richtung habe ich in „Habermas’s reorientation of Critical Theory toward Democratic Theory“ argumentiert, siehe Howard 2002: 261-270.

24 Bezüglich Gorz’ Verständnisses von Autonomie und ihrem Bezug zur ökologischen Politik siehe Duverger 2013. Duverger kommt hier neben Gorz auch auf Cornelius Castoriadis zu sprechen. Der entscheidende Punkt für Gorz und Castoriadis sei, dass Autonomie das Primärattribut der Menschen ist. Die Herausforderung der Zeit bestehe für beide darin, diese zu konservieren bzw. sie angesichts der verschiedenen Formen sozialer Entfremdung zu beteuern. Ein entscheidender Unterschied, der von Duverger nicht genannt wird, ist, dass Gorz weiterhin seine Inspirationen bei Marx’ Theorie der Entfremdung und dessen „Grundrisse“ findet. Vielleicht ist es in diesem Sinne entscheidend, dass er die Verwendung des Wortes Selbständigkeit sowohl in seinen „Fondements pour une morale“ und in „Le traître“ an den entscheidenden Stellen benutzt, als wäre die Idee der Autonomie im Französischen nicht selbstverständlich!

25 [Anm. d. Ü.] Diese Übersetzung aus dem Französischen wurde vom Verfasser vorgenommen und vom Übersetzer aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.

26 Gerade weil die Gerechtigkeit, und Werte im Allgemeinen, präreflexiv sind, bedeutet das nicht, dass sie im zeitlichen Modus der Vergangenheit bestehen, der angenommenermaßen die Gegenwart leitet. Erst im dritten Teil der „Fondements pour une morale“ analysiert Gorz die praktisch-ethischen Werte, die die zukünftigen Handlungen und Projekte des Für-sich betreffen, vgl. Gorz 1955: 431-591. Neben den praktisch-ethischen Werten stellt Gorz noch zwei andere Wertdomänen vor: „attitudes vitales“, die die Existenz naturalisieren, beispielsweise im Falle des Fanatismus, der Resignation oder dem Anbetungskult einer Rasse, vgl. ebd.: 139-247 sowie die „attitudes esthétiques“, die das Reale derealisieren, so wie es der Spieler, Abenteurer, Poet oder Mystiker tut, vgl. ebd.: 249-429. Zum höchsten Werttyp, dem praktisch-ethischen, gehört die „moral conversion“ durch die Art der Selbst-Aufklärung, wie sie in „Le traître“ praktiziert wird. Weder muss eine Kongruenz zwischen den Wertdomänen bestehen noch eine Linearität. Aber auch keine dieser „attitudes“ genügt allein. Das Niedrige kann nicht das Hohe bestimmen, so Gorz, aber das Hohe hat keinen Wert, wenn es nicht realisiert ist.

27 [Anm. d. Ü.] Die deutsche Übersetzung „Über das Altern“ erschien erstmals im Jahr 2008 als Epilog von „Le traître“, siehe Gorz 1961/62.

28 Bei Gorz heißt es: „Und ich bin mir gar nicht sicher, ob dieser Widerspruch zwischen dem physiologischen Alter und dem sozialen Alter in den Industriegesellschaften behoben werden kann“ (Gorz 1961/62: 368), weil die Gesellschaften 16 Jahre brauchen, um ihre Menschen zu formen, die ihre Maschinen bedienen und ihre Institutionen verwalten können. Er fügt in diesem Kontext hinzu, dass die „Jugend“ etwas ist, das in anderen Gesellschaften nicht existiert.

29 In einer Nebenbemerkung deutet Gorz an, dass die einzige soziale Kategorie, die sich dieser Heteronomie entziehen könnte, die Kategorie „jener inneren Emigranten, das heißt der armen Studenten“ (Gorz 1961/62: 386) sei. Er entwickelt diesen Gedanken aber nicht. Man könnte das auch als andere Variante seiner Suche nach einem freien Subjekt verstehen, dem es möglich ist, das Prinzip der Gerechtigkeit in die Realität zu übersetzen. Es wäre ein Ersatz für das Proletariat oder für die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter. Erinnert sei aber an seinen cri de coeur: „Détruire l’université“!

30 Der Manuskriptentwurf der Einleitung findet sich in Fourel 2012: 268-274.

31 [Anm. d. Ü.] Diese und die zwei folgenden Übersetzungen aus dem Französischen wurden vom Verfasser vorgenommen und vom Übersetzer aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.

32 Zum Inhalt des Zitats vgl. insbesondere Fourel 2012: 247 f., die beiden Seiten seines Briefes „Au camarade Che Guevera“.

33 Gorz sparte mit Verweisen auf Merleau-Ponty nach dessen Streit und Bruch mit Sartre, dem Gorz stets treu blieb. Als ein deutscher Interviewer bemerkt, dass manche Leser das „Adieux au prolétariat“ auch als adieu an Sartre interpretieren, spricht Gorz, im defensiven Ton, Sartres „Vorstellung“ von Politik an. Natürlich hätten sie Meinungsverschiedenheiten gehabt, so in den 1950ern bezüglich des globalen Importes vom algerischem Nationalismus und besonders 1969, als Sartre zu stark mit den Maoisten und ihrer „religiös-dogmatischen Haltung“ sympathisierte. Der Maoismus war für Gorz ein „Wiederaufleben des Stalinismus“. Aber Sartre hätte ihn nie davon abgehalten, in den „Les Temps modernes“ zu publizieren. Auch gibt er zu verstehen, dass Sartre in der Tat „fundamental antipolitisch“ war. Aus politischen Gründen, sagt hier Gorz, hat Sartre nie mit jemandem gebrochen, sie waren ihm nie wirklich wichtig, vgl. Fourel 2012: 254 f. [Anm. d. Ü.: In deutscher Sprache siehe DGB 1983: 168 f.].

34 [Anm. d. Ü.] Im engsten Bekanntenkreis wurde André Gorz Gérard genannt, da sein eigentlicher Name Gérard Horst war.

 

Literatur

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Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 24 (2013) 4, S. 50-66