Islamische Renaissance und arabische Linke

Was kommt nach dem kurzen Frühling?

in (02.10.2014)

Die Ereignisse des ›arabischen Frühlings‹ haben die Wahrnehmung der Region in der westlichen Öffentlichkeit verändert. Die Proteste und Aufstände in Nordafrika und im Mittleren Osten richteten sich dabei etwa in Ägypten, Bahrain, Jemen oder Libyen gegen formal sehr unterschiedlich verfasste Herrschaftsverhältnisse. Auch ihre politische Dynamik unterschied sich dementsprechend deutlich. Zum aktuellen Zeitpunkt bestimmen dort, wo die Umbrüche zunächst erfolgreich verliefen, zwei Szenarien den Ausgang der Unruhen in der arabischen Welt: Restauration oder Staatszerfall. Eine Ausnahme ist Tunesien, wo das linke sowie das liberale Lager nicht nur mit moderaten Islamisten, sondern auch mit alten Funktionären punktuell zusammenarbeiten.


Insgesamt lässt sich festhalten, dass quer durch die gesamte arabische Welt islamistische Bewegungen eine wesentliche Rolle spielen. Erklären lassen sich die Erfolge politisch-religiöser Projekte in der Region nur durch ein Verständnis für die gesellschaftlichen Binnenprozesse einerseits und ihrer Einbettung in internationale Interessenkonstellationen andererseits. Denn die politischen Akteure können – das gilt gerade im Nahen und Mittleren Osten – nicht ohne ihre externen Verbindungen, ohne ihren globalen Bezüge diskutiert werden.

Restauration oder Staatszerfall

In Ägypten hat die Wahlinszenierung von General Abd al-Fattah al-Sisi eine Phase der Restauration vorläufig abgeschlossen. Der Westen akzeptiert wohlwollend, dass der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes die von den Muslimbrüdern geführte, rechtmäßig gewählte Regierung stürzte. Ahmed Maher (2014), einer der Gründer der Bewegung 6. April, schreibt aus dem Tora-Gefängnis: »Ägypten wird von einer Militärdiktatur regiert.«
Obwohl die demokratischen und sozialen Rechte gegenwärtig drakonischer unterdrückt werden als selbst in den letzten Jahren der Mubarak-Diktatur, akzeptiert ein relevanter Teil der ägyptischen Bevölkerung bisher diesen Zustand. Er verspricht nach einer Phase großer innenpolitischer Unsicherheit Stabilität. Selbst Jugendliche, die sich 2011 an der Protestbewegung beteiligten, unterstützten in Form der Graswurzelbewegung Tamarod 1 die Machtübernahme der alten Elite. An erster Stelle nannte die Kampagne in ihrem Misstrauensvotum gegen Präsident Mohamed Mursi die fehlende öffentliche Sicherheit als Abwahlgrund. Offensichtlich müssen erfolgreiche politische Kräfte in einer derartigen Umbruchsituation schnell in der Lage sein, eine stabile öffentliche Ordnung herzustellen.
Bis heute wird das tragische Scheitern der ägyptischen Protestbewegung von der europäischen Linken kaum konsequent eingeordnet. Zu sehr bedienen die Bilder vom Tahrir-Platz ein weit verbreitetes Bedürfnis nach bunten und offenen – und damit zwangsläufig unbestimmten – sozialen Bewegungen. Als einer der wenigen kritisierte Asef Bayat bereits im Frühjahr 2013 die Rede von der Multitude und sprach von »selbst-beschränkten Revolutionen«, welche die Gelegenheit verpasst hätten, alternative Machtorgane zu etablieren. »Die Revolutionäre blieben außerhalb der Strukturen der Macht, weil sie nicht planten, den Staat zu übernehmen; aber in den späteren Stadien, als sie erkannten, dass sie ihn benötigten, fehlten ihnen die politischen Ressourcen – Organisation, Führung, strategische Visionen.« (Bayat 2013) Diese wären jedoch nötig gewesen, um sowohl dem alten Regime als auch den ›Trittbrettfahrern‹, das heißt den Muslimbrüdern oder den Salafisten, die eine begrenzte Rolle im Aufstand gespielt hatten, die Kontrolle zu entreißen. Diese seien dagegen organisatorisch bereit gewesen, die Macht zu übernehmen.
Wie wichtig die Fähigkeit ist, eine neue politische Ordnung auch praktisch durchzusetzen, unterstreicht das zweite Szenario im Ausgang der Revolten. Der Jemen, Libyen und Syrien, wo die Konflikte sehr viel stärker durch ausländische Interventionen geprägt sind, stehen am Rande des Staatszerfalls beziehungsweise haben diesen Punkt wie in Libyen bereits klar überschritten. Dort zeigt sich auch am deutlichsten das Phänomen, dass eine organisierte Linke in den aktuellen Prozessen keine sichtbare Rolle spielt, es sei denn, wie in Libyen als anonymer ›grüner Widerstand‹ von Anhängern der sozialistischen Volksjamahiria.2
Dieser Umstand beschreibt ein Problem, das in dieser Form auch für die anderen beiden Länder sowie für den Irak und sicher auch für Algerien gilt: Der Blick auf die autoritären, teilweise diktatorischen Strukturen in diesen Ländern übersieht, dass die dortigen Regime – im Fall von Jemen die Volksdemokratische Republik im Süden – nicht nur symbolisch eng mit den Traditionen des arabischen Sozialismus verbunden waren, sondern aus egalitären Motiven tatsächlich einen enormen Modernisierungsschub in den postkolonialen Gesellschaften organisiert hatten. Das Verhältnis zwischen Verantwortungsträgern der alten Staaten und den neuen oppositionellen Linken, die bisher häufig auf einen Horizont von Protest und Widerstand beschränkt sind, ist jedenfalls facettenreicher, als von außen oft angenommen.

Europäisches Ressentiment und Dimensionen des Religiösen

In Europa findet die Beschäftigung mit dem Islam fast ausschließlich vor dem Hintergrund kriegerischer Eskalation statt. Mit dem 11. September 2001 gelangte der Umstand, dass in weiten Teilen der muslimischen Welt eine Reislamisierung abläuft, plötzlich in das Bewusstsein größerer Teile der Weltbevölkerung. Tatsächlich setzte dieser Prozess bereits in den 1970er Jahren ein und feierte erste Höhepunkte mit der islamischen Revolution im Iran und mit dem Kampf der Mudjahedin in Afghanistan. In Europa schlug der offene Angriff auf den Westen unmittelbar in eine Freund-Feind-Logik um, die bereits Mitte der 1990er Jahre von den Clash-of-Civilisations-Propagandisten angelegt worden war. Diese hatten sich aber keineswegs neue Erklärungsmuster erdacht, sondern knüpften nahtlos an koloniale Bilder von der muslimischen Welt an, in denen sie einerseits als starr, fortschrittsunfähig, irrational und schicksalshörig und andererseits als kriegslüsternd ­konstruiert wird.
Ein Nachdenken über den Islam muss zunächst den darin ausgeblendeten Dimensionen von Religion3 gerecht werden. Die großen Religionen sind untrennbar mit den Alltagskulturen in ihren Gesellschaften verbunden. Von ihren unmittelbar materiellen Ausdrucksformen – seien es Bauten, Kleidungsnormen, musikalische oder kulinarische Regeln – bis hin zu rituellen Formen der Religionsausübung stellt Religion ein spezifisches Symbolsystem dar, das über weite Strecken als synonym für regional typische Kultur behandelt werden muss. Narrative Figuren und doktrinale Verbindlichkeiten beinhalten zudem handlungsleitende Mythen, welche die jeweils dominante Vorstellungswelt weit über das unmittelbar Religiöse hinaus prägen.
Das europäische Ressentiment ordnet nicht nur diese vielfältigen kulturellen Aspekte der Diskussion um ausgewählte ethische und rechtliche Normen des Islam unter. Weder der erfahrungsmäßige und emotionale Handlungsrahmen der jüngeren Geschichte noch die besondere soziale und institutionelle Verfasstheit seiner religiösen Autoritäten spielen in pauschalen Abwertungen des Islam eine Rolle. Der dunkle Vorbehalt wählt Teilaspekte der Realität aus, die sich einfach negativ beschreiben lassen, insbesondere den militanten Islamismus, und setzt sie, Pars pro Toto, für das Ganze.
Wie wenig repräsentativ dieser Teilaspekt in quantitativer Hinsicht ist, wird etwa an der Ausdehnung der muslimischen Welt deutlich. Nur ein verschwindend geringer Teil der 1,7 Milliarden Muslime – der Publizist Jürgen Todenhöfer sprach kürzlich auf seiner Facebook-Seite von den 0,002 Prozent der »inneren Feinde des Islam« – kann als Anhänger eines aggressiven Islamismus gelten. Hingegen übt die Alltagskultur des Westens einen ungebrochen starken Einfluss auf die muslimischen Gesellschaften aus. Dabei geht es nicht nur um materielle Elemente des westlichen Lebensstils: Die Versprechen von bürgerlichen Freiheiten, Gleichheit vor dem Gesetz und sozialer Gerechtigkeit, welche die westliche Außenpolitik nicht nur in der muslimischen Welt immer mit Füßen getreten hat, waren und sind ein wichtiger Motor für die aktuellen Umbrüche in der Region.

Historische Bedingungen der religiösen Renaissance

Das Gewicht, das die westliche Moderne auch in den muslimischen Gesellschaften hat, wird dabei oft übersehen. Die Befreiung von der europäischen Kolonialherrschaft erfolgte von Pakistan bis zur Sahara in traditionell-feudalistischen Gesellschaften mit weitgehend agrarischen Strukturen. Dieser Prozess verband sich mit einem europäisch geprägten Versprechen der Modernisierung, das in den Kernländern der arabischen Welt fast durchgehend säkular und sozialistisch inspiriert war. Der arabische Sozialismus – das Baath-Projekt – erreichte in zahlreichen Ländern eine eigene Form der Moderne; ein moderner Zentralstaat wurde eingesetzt, und es wurde den Bürgern erstmals Zugang zu öffentlichen Basisleistungen unabhängig von Stand und Herkunft ermöglicht. Gleichzeitig spielte der Islam im Alltag bis in die 1970er Jahre hinein eine immer geringere Rolle. Selbst Länder wie die Türkei, Pakistan oder Bangladesch orientierten sich als westliche Verbündete mit säkularen bürgerlichen Staaten an einem entsprechend geprägten Entwicklungsmodell. Theokratische feudale Regime konnten sich nur in einigen wenigen Ländern – Marokko, Jordanien, Nordjemen und in den Golf-Staaten – an der Macht halten.
Obgleich diese europäisch geprägten Modernisierungswege sowie der Sonderweg des islamischen Sozialismus in Libyen für alle muslimischen Länder langfristig betrachtet enorme Verbesserungen im Lebensniveau mit sich brachten, stießen sie spätestens Mitte der 1970er Jahre an volkswirtschaftliche Grenzen. Der Westen beantwortete die erfolgreiche antiimperialistische Offensive in der Dritten Welt erstens mit einer Flexibilisierung des Währungs- und Finanzsystems sowie zweitens mit Druck auf die Rohstoffpreise, allen voran auf den Ölpreis. Diese waren durch die Unabhängigkeitsprozesse in den Ländern der Dritten Welt zunächst so dramatisch angestiegen, dass die Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer in ernsthafte Probleme gerieten.
Sinkende Exporterlöse und steigende Auslandsverschuldung führten dazu, dass ohnehin vorhandene autoritäre und vetternwirtschaftliche Tendenzen in den 1980er und 1990er Jahren weiter gestärkt wurden. Einzelne Länder gaben eigenständige Entwicklungsansätze unter dem Druck von IWF und Weltbank vollständig auf. Dies trifft insbesondere auf nicht erdölfördernde Staaten wie Pakistan, die Türkei, Tunesien und Ägypten zu.
Das erste Paradox im Verhältnis von muslimischer Welt und dem Westen besteht also darin, dass an westlichen Vorbildern orientierte Modernisierungsansätze in der muslimischen Welt dabei versagten, ihr Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit dauerhaft zu erfüllen. Dass dieses Scheitern wesentlich durch westliche Strategien verursacht wurde – Stichwort: Verschuldungskrise und Interventionismus –, ist Teil des Handlungsrahmens, der eine ›kulturelle Rückbesinnung‹ ermöglicht. Ihre dramatische Bestätigung findet diese Enttäuschung darin, dass der Westen, angeführt von den USA, seit 25 Jahren einen permanenten Krieg gegen muslimische Länder führt. Zwar richtet sich dieser Krieg in der Sache vor allem gegen die vormals sozialistisch geprägten und erdölproduzierenden Länder, vor allem gegen den Irak. Er wird jedoch als allgemeiner Angriff auf die islamische Welt verstanden.

Dezentrale Institutionalität des Islam

In diesem Zusammenhang steht das zweite und sehr viel offensichtlichere Paradox in Sachen religiöser Renaissance: Der wichtigste Verbündete des Westens, um eine eigenständige Modernisierung in der Region zu verhindern, ist seit mehr als 60 Jahren der militante politische Islam. Der Befreiungsnationalismus – der Baathismus wie auch bürgerlich säkulare Modernisierungsprojekte – konfrontierte die traditionellen Sektoren der muslimischen Gesellschaften mit ungeheuren soziokulturellen Umbrüchen. Die daraus entstehende lebensweltliche Opposition wurde vom Westen systematisch zu einer politischen Kraft gegen die Regierungen in denjenigen Ländern aufgebaut, die sich wirtschaftlich und politisch an der Sowjetunion orientierten beziehungsweise den Verwertungsinteressen des globalen Kapitals entgegenstanden.
Ausgehend von der Operation Ajax – dem Sturz der Regierung Mossadegh im Iran 1953 –, über den Bürgerkrieg im Jemen, die Aufrüstung der Mudjahedin und die Aufstände der Muslimbrüder in Syrien bis 1982, bis zum Krieg der Libyschen Islamischen Kampfgruppe gegen Muammar al-Gaddafi, und selbst in den Tschetschenien-Kriegen: Der Aufschwung und die Kontinuität des militanten Islamismus können nicht ohne westliche Instrumentalisierungsstrategien verstanden werden.
Neben einer gewissen ideologischen Präferenz für einen strukturellen Konservatismus eröffnet vor allem die dezentrale Verfasstheit islamisch-religiöser Autoritäten ein Einfallstor für derartige Strategien. Anders als das Christentum, das ausgehend vom 5. Jahrhundert über 1 000 Jahre von einer zentralstaatlichen Organisation, der römisch-katholischen Kirche, verbreitet wurde, entwickelte sich der Islam in der Verantwortung lokaler Gelehrter, der Ulama. Erst Ende des 18. Jahrhunderts entstanden mit der Formierung von Nationalstaaten und in Konfrontation mit dem Kolonialismus übergreifende Konzepte wie der Gedanke des Kalifats, auf den sich die neofundamentalistischen Bewegungen wie der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) heute beziehen.
Die weltweite muslimische Gemeinschaft, die Umma, blieb in sich jedoch vielfältiger und heterogener als irgendeine der anderen großen Religionen, wobei einzelne Strömungen sich regional eng mit staatlicher Macht verbanden. Das wichtigste Beispiel dafür ist sicherlich Saudi-Arabien. Der Machtanspruch der Familie Saud gründet sich im Wesentlichen auf einen Treueschwur gegenüber Abd al-Wahhab, einen islamischem Gelehrten, der den Islam als eine mit dem Pietismus vergleichbare diesseitige Erfüllungsbewegung verstand.
Anfang des 20. Jahrhunderts veranlasste der Gründer des heutigen Saudi-Arabien, Abd al-Asiz ibn Saud, den Aufbau einer besonderen Schule, der Ikhwan (Bruderschaft), die den Wahhabismus verbreiten sollte. Im Jahr 1932 gründete sich Saudi-Arabien als ›konsultative Monarchie‹. Die Shura (Konsultation) bedeutet im Falle Saudi-Arabiens die politische Einbeziehung von Konsultativräten aus den Reihen der Ulama.
Diese Konstruktion macht den Wahhabismus zu einem politischen Instrument des saudischen Königshauses. Die Bedeutung ist nicht zu unterschätzen: Saudi-Arabien ist nicht nur Hüter der heiligen Städte der Muslime, Mekka und Medina, wo sich jährlich Millionen Muslime aus aller Welt einfinden, sondern auch Sitz der wichtigsten internationalen islamischen Organisationen. Gleichzeitig ist das saudische Königshaus seit 1945 einer der bedeutendsten Alliierten der USA und einer der wichtigsten Ölproduzenten weltweit.
Bis heute gilt das Memorandum des US-amerikanischen State Department von 1951, das das Ziel vorgibt, »die strategischen Vorteile zu sichern, die sich aus Saudi-­Arabiens geografischer Lage, seinen Erdölreserven und der fortgesetzten Abneigung der Saudis gegen den Kommunismus ergeben« (zit. n. Berg 2012). Im Gegenzug sei die saudische Souveränität mit allen Mitteln zu schützen. Mitte der 1970er Jahre sorgten die Saudis etwa dafür, dass das Ölembargo der OPEC gegen den Westen fiel und infolge keinerlei Preissteigerungen mehr stattfanden – selbst in den 1980er und 1990er Jahren nicht, als die sinkenden Ölpreise sogar auf den saudischen Lebensstandard drückten.
Vor dem Hintergrund der Reislamisierung ist vor allem die Operation Cyclone beispielgebend, offiziell die längste, teuerste und erfolgreichste CIA-Operation aller Zeiten. Zwischen 1978 und 1992 wurden in diesem Rahmen mehr als 100 000 Gotteskrieger in Pakistan und Afghanistan ausgebildet. Da die USA dabei schlecht selbst auftreten konnten, übernahmen saudische Partner offiziell die Finanzierung und Rekrutierung und die pakistanischen Partner die Ausbildung. Dieses Modell einer multinationalen Söldnerbewegung unter religiöser Flagge bestimmt aktuell die innenpolitische Dynamik im Irak, in Libyen, Syrien, Jemen oder auch in Nigeria. Dabei lässt die US-Sicherheitspolitik den islamistischen Söldnern scheinbar weitgehend freie Hand, soweit sie sich auf die Zerstörung der dortigen Gesellschaften konzentrieren. Aktionen gegen die USA und ihre Verbündeten werden hingegen mit dem Tode bestraft.

Die dritte Partei

Insofern handelt es sich möglicherweise um einen gefährlichen Trugschluss, wenn etwa Tomasz Konicz (2014) angesichts des ausufernden Staatszerfalls in der Region eine unumkehrbare Krise des globalen Kapitalismus ausruft. Zwischen postulierten Zielen der Konfliktparteien und ihrer konkreten Funktion zu unterscheiden, bedeutet, anzuerkennen, dass es sich bei der Herrschaft der Islamisten, wie in den vergangenen Jahren in Ägypten, um eine Interimsphase handelt, die den Boden für eine übergeordnete Ordnungsfunktion bereitet. Der islamistische Terror wäre dann nur der Vorbote einer Restauration imperialistischer Interessen in der muslimischen Welt. Die umkämpften Ressourcen – namentlich das Erdöl – gewinnen jedenfalls an Wert, je länger sie nicht gefördert werden, was einen expliziten Anreiz darstellt, auf langfristige Strategien und Abnutzungseffekte beim politischen Gegner zu setzen.
Bei aller Dringlichkeit der Auseinandersetzung, die etwa im Nordosten Syriens von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) konsequent und erfolgreich auf militärischem Weg entschieden wurde, darf nicht übersehen werden, dass die moderne muslimische Identität insgesamt in Opposition zu den Kolonialmächten sowie – besonders im schiitischen Islam – gegen die eigenen Eliten geformt wurde. Dieser ­doppelte Antagonismus sowie der außerordentliche Stellenwert der Gerechtigkeitsverpflichtung machen die muslimischen Gesellschaften zu einem Ort, an dem linke Politik zahlreiche lebensweltliche Bezugspunkte finden kann. Auch die Geschichte des islamischen Sozialismus und des Baathismus stellt nur vordergründig einen Ballast dar.
Wenn linke und liberale Bewegungen wie die Bewegung 6. April in Ägypten sowohl mit oppositionellen Muslimen als auch mit der baathistischen Linken zusammenarbeiten, dann hoffentlich auch, weil sie hinsichtlich Organisationserfahrung, sozialer Reichweite und institutioneller Stabilisierung viel von diesen lernen können. Ein drittes politisches Projekt jenseits von Islamisten und Militärs, wie es etwa im Third Square Movement, in der Dritten Volksströmung um Hamdin Sabahi oder selbst in der neuen Verfassungspartei von Mohammed el-Baradei angelegt ist, hätte zumindest realistische Chancen, langfristig eine neue, sozial gerechtere und demokratischere Ordnung durchzusetzen. Vorausgesetzt, das linke und liberale Spektrum schafft es, zunächst seine inneren Verhältnisse und persönlichen Konkurrenzen zu ordnen.

Literatur

Berg, Manfred, 2012: Ziemlich beste Freunde, Die Zeit 19/2012, www.zeit.de/2012/19/Saudi-Arabien-USA
Bayat, Asef, 2013: Revolution in Bad Times, in: New Left Review 80, März-April 2013, http://newleftreview.org/II/80/asef-bayat-revolution-in-bad-times
Konicz, Tomasz, 2014: Gescheiterte Staaten: Leben im Zusammenbruch, www.heise.de/tp/artikel/42/42001/­1.html
Maher, Ahmed, 2014: What really happened to the Egyptian revolution, in: Washington Post, 3.6.2014, www.washingtonpost.com/opinions/ahmed-maher-what-really-happened-to-the-egyptian-revolution/2014/06/03/4b6dbf26-d7b3-11e3-8a78-8fe50322a72c_story.html
Smart, Ninian, 1998: Dimensions of the Sacred: An Anatomy of the World’s Beliefs, Berkeley

Anmerkungen

1    Tamarod (Rebellion, Aufstand) ist der Name einer Graswurzelbewegung und Petition, die den Rücktritt des damaligen ägyptischen Präsidenten Mursi sowie Neuwahlen forderte. Die Kampagne wurde unterstützt von der
Armee unter General As-Sisi.
2    Das Regierungssystem in Libyen von 1977 bis 2011 wurde als sozialistische Volksjamahiria bezeichnet. Es basierte auf Prinzipien der direkten Demokratie. Etwa 2 700 direkt gewählte Delegierte aus kommunalen Gliederungen und Gewerkschaften bestimmten im Rahmen eines jährlichen Allgemeinen Volkskongresses die libysche Gesetzgebung und das Kabinett. Politische Parteien existierten nicht.
3    Exemplarisch aufgeführt etwa in Smart (1998).

 

Erschienen in: »Oh Gott!« – Luxemburg 2/2014, S. 40ff.

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