Venezuela: Maduros Schicksalsjahr

Vor 25 Jahren, am 27. Februar 1989, gingen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Benzinpreiserhöhungen und neoliberale Reformen zu demonstrieren. Die damalige Regierung von Carlos Andrés Pérez schlug die Proteste brutal nieder, 3000 Menschen wurden dabei nach inoffiziellen Schätzungen getötet. Der Tag ging als „Caracazo“ in die Geschichte ein und sollte das politische Erweckungserlebnis des damaligen Offiziers und späteren Präsidenten Hugo Chávez werden. In gewisser Weise markierte der Tag damit auch den Anfang vom Ende der neoliberalen Ära in Venezuela.

Heute, gut ein Jahr nach Chávez’ Tod, machen Zehntausende Regierungsgegner gegen dessen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ mobil. Unter dem Slogan La Salida – der Ausgang oder der Aufbruch – protestieren sie für die Absetzung von Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro. Seit am 12. Februar nach einer Großdemonstration zwei Gegner und ein Anhänger der Regierung erschossen wurden, spitzt sich die Lage immer weiter zu. Fast täglich gehen landesweit Regierungsgegner wie -anhänger auf die Straße. Nach offiziellen Angaben sind bisher im Zusammenhang mit den Protesten 29 Menschen gestorben – unter ihnen Oppositionelle und Chávisten, Polizisten und Unbeteiligte.[1] Und ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht. Heinz Dieterich, ehemaliger Chávez-Berater und „Erfinder“ des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, orakelte bereits Anfang März im „Spiegel“: „Er [Maduro] wird keine acht Wochen mehr an der Regierung sein“.[2]

Tatsächlich ist die gegenwärtige Eskalation für die Regierung bedrohlich – und damit für das chávistische Projekt insgesamt. Zwar sind die Proteste nicht unbedingt größer als frühere Mobilisierungen der Opposition, wohl aber unterscheiden sie sich in Dauer und Intensität. Zudem treffen sie die Regierung in einer empfindlichen Situation. Denn ein Jahr nach Chávez’ Tod treten viele Widersprüche des Chávismus offen zu Tage.

Präsident ohne Charisma

Mit Chávez hat die bolivarische Revolution ihre zentrale Integrationsfigur verloren. Obwohl der populäre Comandante seinen bedingungslosen Unterstützer Nicolás Maduro als Wunschkandidaten für seine Nachfolge empfahl, konnte dieser die Wahlen nur mit hauchdünner Mehrheit gewinnen. In seiner knapp einjährigen Amtszeit ist es Maduro nicht gelungen, aus Chávez’ Schatten herauszutreten und ein erkennbares eigenes Profil zu entwickeln. Stattdessen versucht er, seinen Vorgänger und dessen polemische Ausfälle zu kopieren – und wirkt dabei oft unbeholfen. Dem ehemaligen Gewerkschafter fehlt es an Charisma, das Chávez im Übermaß besaß. Auch wenn es derzeit keine ernsthaften Anzeichen für ein Auseinanderbrechen der Regierung gibt, zweifeln manche, ob er die heterogenen Strömungen und Gruppen des Chávismus – Basisbewegungen, Militärs, linke Gewerkschafter und Teile der Mittelschichten – auf Dauer zusammenhalten kann.

Hinzu kommen weitere, gravierende Probleme. Zum einen hat die Gewaltkriminalität in der Amtszeit von Maduro noch einmal deutlich zugenommen – 2013 kamen in Venezuela nach Angaben der Organisation „Venezolanisches Observatorium der Gewalt“ fast 25 000 Menschen gewaltsam zu Tode, das entspricht 79 Toten pro 100 000 Einwohner – eine der höchsten Mordraten der Welt. (Zum Vergleich: In Deutschland lag die Mordrate 2012 bei 0,8 auf 100 000).

Zum anderen hat sich die wirtschaftliche Situation im letzten Jahr merklich verschlechtert. So kommt es regelmäßig zu Versorgungsengpässen bei Waren des täglichen Bedarfs wie Milch oder Toilettenpapier. Ein weit größeres Problem ist jedoch die hohe Inflation, unter der trotz steigender Mindestlöhne vor allem die ärmeren Schichten leiden. Lag sie unter Chávez durchschnittlich bei 22 Prozent, ist sie 2013 auf ein Rekordhoch von 56 Prozent angestiegen.

Der florierende Schwarzmarkt

Heftig umstritten ist indes, wer für die aktuelle Situation verantwortlich ist. Die Opposition wirft Maduro wirtschaftspolitisches Versagen und eine bürokratische Gängelung der Unternehmen vor, die die Produktion abwürge. Die venezolanische Regierung hingegen bezichtigt die Oberschicht, die Wirtschaft aus politischen Gründen zu sabotieren, etwa durch Währungsspekulation auf dem Devisenschwarzmarkt, Schmuggel oder das Horten von Waren.

Nach Ansicht des Soziologen und Venezuela-Experten Gregory Wilpert steckt in beiden Versionen ein Stück Wahrheit. Paradoxerweise habe die Finanz- und Währungspolitik der Regierung jene wirtschaftlichen Probleme mit hervorgebracht, die sie jetzt zu bekämpfen versucht. 2003, also noch unter Chávez, wurde ein Wechselkurssystem eingeführt und der Währungshandel durch den Staat streng kontrolliert. US-Dollar werden seither nur reglementiert, für bestimmte Zwecke, ausgegeben, was einen boomenden Währungsschwarzmarkt hervorgebracht hat. Heute kostet ein Dollar dort das Zehnfache des offiziellen Werts von 6,3 Bolívares. Mit dieser enormen Differenz lassen sich lukrative Geschäfte machen. So werden Bolívares zum offiziellen, günstigen Kurs gegen Dollar eingetauscht, um diese dann auf dem Währungsschwarzmarkt für das Zehnfache zu verkaufen. Oder man importiert Waren zum offiziellen Dollarkurs und bietet sie dann in Venezuela zu Schwarzmarktpreisen an.

Solche Geschäfte heizen die Inflation immer weiter an und verschärfen außerdem die Warenknappheit. Zudem verstärkt das System der Währungskontrollen die Korruption der Staatsangestellten.

Präsident Maduro versucht, diese Praxis durch Preisdekrete zu bekämpfen, wofür er sich im November vom Parlament für ein Jahr Sondervollmachten verleihen ließ. Auch erwägt die Regierung, das System der Währungskontrollen zu lockern und Handel mit Devisen wieder in begrenztem Maße zu erlauben.

An den zentralen Problemen der venezolanischen Wirtschaft, der fast vollständigen Abhängigkeit vom Ölexport, ändern diese Maßnahmen jedoch nichts. Die Ölwirtschaft generiert praktisch die gesamten Exporterlöse und macht etwa ein Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes aus. Wie bereits Chávez, so ist es auch Maduro nicht gelungen, das Geld aus den Öleinnahmen produktiv in die Wirtschaft zu investieren – und es erfolgreich etwa für den Ausbau der Industrie oder die Modernisierung der Ölanlagen einzusetzen. Zwar ist die landwirtschaftliche Produktion in den letzten Jahren gestiegen, sie hält jedoch nicht mit der ebenfalls gestiegenen Nachfrage Schritt, die durch die unter Chávez eingeführten, umfangreichen Sozialprogramme entstanden ist. Venezuela muss deswegen rund 70 Prozent seiner Lebensmittel importieren. Immerhin plant die Regierung inzwischen, die milliardenschwere Subvention der Benzinpreise zu drosseln.

Wer protestiert?

Dennoch sind keineswegs alle Venezolaner gegen die Regierung. Es sind in erster Linie wohlhabende Studierende, die aufgrund der ausufernden Kriminalität, Versorgungsengpässe und Korruption auf die Straße gehen. Auch wenn sie nur einen Teil von Venezuelas sehr großer Studierendenschaft ausmachen, sind ihre Anliegen durchaus ernst zu nehmen. Sie alle pauschal als Faschisten zu bezeichnen und die Proteste in Gänze als einen US-gesteuerten Putschversuch abzutun, wie die Regierung dies tut, wird der Realität sicherlich nicht gerecht.

Allerdings kann auch von einer rein friedlichen Massenbewegung nicht die Rede sein. Wenngleich die meisten Menschen gewaltfrei protestieren, randalieren immer wieder kleinere Gruppen, etwa gegen öffentliche Gebäude oder Fahrzeuge des staatlichen Bussystems, errichten Straßenblockaden und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, die ihrerseits Tränengas und Gummigeschosse einsetzt.

Zudem befinden sich unter den Demonstranten Kräfte, die Maduro – immerhin einen demokratisch gewählten Präsidenten – mit aller Macht aus dem Amt jagen wollen. So stellte sich kurz nach Beginn der Proteste Anfang Februar der radikale Flügel des Oppositionsbündnisses „Tisch der Demokratischen Einheit“ (MUD) an deren Spitze, vorneweg die Abgeordneten María Corina Machado und der inzwischen inhaftierte Leopoldo López, Vorsitzender der rechten Partei „Voluntad Popular“. Dass die beiden Politiker grundsätzlich nicht vor radikalen Methoden zurückschrecken, zeigte sich bereits 2002, als sich beide am gescheiterten Putsch gegen Chávez beteiligten.[3] Auch ist richtig, dass viele oppositionelle Organisationen, darunter auch die NGO „Súmate“ von Maria Machado, Gelder von aus dem Haushalt der US-Regierung finanzierten Stiftungen erhalten.[4]

Wie verhärtet die Fronten sind, zeigt auch das Vorgehen der venezolanischen Regierung: So verwies sie bereits Mitte Februar drei Mitarbeiter der US-Botschaft des Landes, denen sie vorwarf, Gruppen gewaltbereiter Studierender zu unterstützen. Und auch von Seiten der Polizei ist es zu gewaltsamen Übergriffen auf Demonstranten gekommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen in 25 Fällen von Menschenrechtsverletzungen und will weitere 40 Fälle prüfen, die ihr die NGO „Foro Penal“ vorlegte.

Wem gehört das Öl?

Hinter den Protesten steckt letztlich auch die Frage, wie die Einnahmen aus den immensen Ölvorkommen Venezuelas – den größten der Welt – verteilt werden sollen. Seit Chávez die staatliche Kontrolle über das Ölunternehmen PDVSA massiv ausdehnte und so auch eine Umverteilung der Ölgelder an die armen Bevölkerungsschichten ermöglichte, ist die alte Elite praktisch von den Fleischtöpfen, genauer: aus einem Großteil der staatlichen Institutionen, vertrieben und damit von der Verteilung der Ölmilliarden abgeschnitten.[5] Zwar bereichert sich, ganz wie früher die alte, so heute die neue Staatsbürokratie, die sogenannte Bolibourgeoisie, und die Korruption blüht wie eh und je. Dennoch haben, anders als früher, große Teile der Bevölkerung von der Umverteilung enorm profitiert: Armutsraten und Ungleichheit sind im letzten Jahrzehnt drastisch gesunken.

Die Mehrzahl der Wähler hält aus diesem Grund weiterhin zur Regierung, auch wenn bei vielen der Unmut über Inflation und Kriminalität wächst. Doch viele wissen aus den Erfahrungen der neoliberalen 90er Jahre, was auf dem Spiel steht, wenn die Opposition das Ruder übernimmt. In der Vergangenheit haben sie die chávistische Regierung deshalb in über einem Dutzend Wahlen bestätigt.

Offenbar hat das inzwischen auch ein Teil der Opposition erkannt: Henrique Capriles, der als Kandidat des Oppositionsbündnisses MUD die Präsidentschaftswahl im vergangenen April nur knapp gegen Maduro verlor, vertritt in der aktuellen Auseinandersetzung eine gemäßigtere Position als Machado und López. Ohne den Rückhalt der Bevölkerung aus den ärmeren Stadtvierteln hält er einen Machtwechsel nicht für möglich. Dabei hatte er zuvor den knappen Wahlsieg Maduros lange nicht anerkannt und zu Protesten dagegen aufgerufen, in deren Folge zehn Regierungsanhänger starben.

Dass in den letzten Wochen der radikale Teil der Opposition den Ton angeben konnte, hat auch damit zu tun, dass die Regierung bei den Kommunalwahlen im Dezember ihren Vorsprung wieder deutlich ausbauen konnte. Deshalb verlieren nun viele Oppositionelle die Geduld. Seit Chávez’ Amtsantritt vor 15 Jahren ist es ihnen nicht gelungen, den Chávismus auf demokratischem Wege zu besiegen; die nächste Möglichkeit dafür bietet sich erst wieder bei den Kongresswahlen im nächsten Jahr oder nach der Hälfte von Maduros Amtszeit im Dezember 2015 – laut Verfassung besteht dann die Möglichkeit eines Abwahlreferendums. Diesen Weg scheint auch die Mehrheit der Venezolaner zu befürworten. Laut einer Umfrage des privaten Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces ist eine große Mehrheit von fast drei Viertel der Befragten der Meinung, dass eine Entscheidung über einen Regierungswechsel nur auf dem Weg demokratischer Wahlen getroffen werden sollte.[6] Doch darauf wollen zumindest Teile der Opposition offenbar nicht warten. Der Ende Februar von der Regierung initiierten Friedenskonferenz blieb das Oppositionsbündnis MUD fern. Inzwischen hat Maduro sich auf ein Vermittlungsangebot der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) eingelassen; ob auch die Opposition zustimmen wird, ist derzeit noch offen.

Doch ganz unabhängig davon, wie die Umsturzversuche ausgehen: Gelingt es den Chávisten nicht, die gewaltigen Probleme des Landes in den Griff zu bekommen, könnten ihnen auf lange Sicht die Anhänger davonlaufen und damit das Ende der bolivarischen Revolution einläuten. Das aber wäre ein schwerer Einschnitt – und ein Verlust für das Projekt eines Lateinamerikas, das auch die Interessen der Unterschichten vertritt. Längst schmieden neoliberal regierte Länder wie Kolumbien, Chile, Mexiko und Peru an einem eigenen Wirtschaftsbündnis, der im Jahr 2012 gegründeten Pazifik-Allianz. Die nächsten Jahre werden den Beweis erbringen müssen, wem die Zukunft auf dem Subkontinent gehört.

 


[1] Stand: 18.3.2014, eine ständig aktualisierte Liste der Toten und nähere Informationen zu den Umständen der Todesfälle finden sich unter: Jan Kühn, Wer sind die Toten in Venezuela?, www.amerika21.de, 28.2.2014. 

[2] Proteste in Venezuela: „Maduro bleibt höchstens noch acht Wochen an der Macht“, Interview mit Heinz Dieterich, www.spiegel.de, 3.3.2014. 

[3] Beide unterzeichneten das sogenannte Carmona-Dekret, mit dem die Chávez-Regierung im April 2002 vorübergehend abgesetzt wurde. 

[4] Vgl. Marc Weisbrot, Venezuela is not Ukraine, in: „The Guardian“, 4.3.2014; sowie Julia Buxton, The Real Significance of the Student Protests, 21.2.2014, www.venezuelaanalysis.com. 

[5] Schon allein aufgrund weiter sprudelnder Öleinnahmen droht der venezolanischen Regierung keine Zahlungsunfähigkeit, so Marc Weisbrot, Sorry, Venezuela haters: this economy is not the Greece of Latin America, in: „The Guardian“, 7.11.2013. 

[6] http://informe21.com/hinterlaces/hinterlaces-7-de-cada-10-considera-que-....

 

(aus: »Blätter« 4/2014, Seite 11-14)