Riskante Resistenzen: Die Antibiotikakrise

Wenige Tage vor dem „Europäischen Antibiotikatag“ am 18. November offenbarte eine Meldung aus Niedersachsen, wie dringend nötig ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel im Umgang mit Antibiotika ist: Der Oldenburgisch-Ostfriesische Wasserverband hatte im Grundwasser ein Antibiotikum nachgewiesen, das vermutlich über den Dung behandelter Schweine in den Boden gelangt ist.[1] Auch wenn keine akute Gefahr vorlag, da der Wert gering war und das Trinkwasser aus tieferen Schichten entnommen wird, macht der Fund auf ein grundlegendes Problem aufmerksam: Hühner, Schweine und Kühe werden vorsorglich mit Antibiotika behandelt – mit langfristig gravierenden Folgen für die Menschheit.

„Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt [...], die Resistenz gegen vorhandene Antibiotika hat beispiellose Ausmaße erreicht, und neue können nicht schnell genug bereitgestellt werden“, warnte bereits vor mehr als drei Jahren die Weltgesundheitsorganisation. In ihrem aktuellen Bericht spricht sie sogar von einer drohenden „Post-Antibiotika-Ära“.[2]

Allein in Deutschland sterben bereits jedes Jahr mehrere tausend Menschen an Infektionen mit multiresistenten Bakterien. Dabei handelt es sich um Keime, die nicht nur gegen ein Antibiotikum, sondern gleich gegen verschiedene Antibiotika Abwehrstrategien entwickelt haben und die nur äußerst schwer zu bekämpfen sind. Experten vermuten sogar, dass weltweit mehr Menschen an Infektionskrankheiten durch resistente Bakterien sterben als an Aids.

Die Legende vom Allheilmittel

Schuld an dieser Antibiotikakrise sind die Menschen selbst: Zu lange wurde achtlos mit dem kostbaren Medikament umgegangen. So werden in Deutschland Erkältungen in 50 bis 75 Prozent der Fälle mit Antibiotika behandelt – obwohl die Medikamente hier oftmals wirkungslos sind, da es sich zumeist um Viren- und nicht um bakterielle Infektionen handelt.[3] Noch immer verschreiben die Ärzte Antibiotika wider besseres Wissen, nicht selten auf Bitte der Patienten. Zu sehr hat sich die Legende vom Antibiotikum als Allheilmittel in die Köpfe eingeschlichen. Und selbst wenn Menschen das Mittel tatsächlich brauchen, verordnen Ärzte oft nicht das richtige Antibiotikum in der richtigen Dosierung und für die richtige Dauer.

Ist die Dosis zu hoch, steigt die Wahrscheinlichkeit für Resistenzbildungen, weil sich Bakterien an die Menge der eingenommenen Antibiotika anpassen. Sie steigt auch, wenn Patienten die Antibiotika nicht konsequent schlucken – wenn sie sie zu lange, zu kurz oder zusammen mit Essen einnehmen, das die Wirkung aufhebt. So züchtet man seine eigenen resistenten Bakterien und überträgt sie womöglich auf Partner, Kinder, Kollegen. Ein Problem ist auch die international uneinheitliche Regelung der Antibiotikavergabe. In vielen Ländern lassen sich die Medikamente rezeptfrei erwerben, was zu einem erhöhten Verbrauch und damit auch zu mehr resistenten Keimen führt. In einigen Ländern reagieren Bakterienstämme teilweise kaum noch auf Antibiotika.

Besonders problematisch ist der immer häufigere Gebrauch von sogenannten Reserveantibiotika. Sie sollten ausschließlich dann eingesetzt werden, wenn gegen alle gängigen Mittel bereits Resistenzen bestehen. Doch schon im Jahr 2001 entfiel jede dritte Antibiotikaverordnung in Deutschland auf ein solches Reserveantibiotikum.[4] Während für die Jahre 2008 bis 2012 erfreulicherweise die Antibiotikaverschreibungen niedergelassener Ärzte zumindest bei Kindern und Menschen über 70 Jahren etwas zurückgingen, stieg der Einsatz von Reserveantibiotika im Gegenzug deutlich an – damit drohen multiresistente Keime sich noch weiter auszubreiten.

So wenig wie nötig, so gezielt wie möglich

Enorm wichtig ist daher der angemessene und verantwortungsvolle Umgang mit den vorhandenen Medikamenten. Die goldene Regel lautet: So wenig wie nötig, so gezielt wie möglich. Um das zu erreichen, wären verpflichtende Fortbildungskurse für Hausärzte ebenso nötig wie eine „rationale Antibiotikatherapie“.[5] Gemeint sind klare Vorgaben, Leitlinien, wann Ärzte welches Antibiotikum verschreiben sollen und für wie lange. Solche Leitlinien gibt es in Deutschland mittlerweile zwar teilweise schon, Ärzte verschreiben jedoch nach wie vor viel nach Erfahrung oder Empfehlungen.[6] Daran muss sich dringend etwas ändern.

Problem Massentierhaltung

Mindestens ebenso dramatisch ist der unverhältnismäßig hohe Einsatz von Antibiotika in der Fleischindustrie. Breitbandantibiotika werden den Futtermitteln der Tiere prophylaktisch beigemengt, um durch Massentierhaltung hervorgerufene Infektionen zu vermeiden.

Die resistenten Bakterien, die sich dadurch entwickeln, können sich vom rohen Fleisch auf den Menschen übertragen. Dort führen sie zwar nicht unbedingt sofort zu Infektionen, sie können aber im Körper bleiben und bei späteren Erkrankungen die Heilungschancen mindern. Das gilt sogar dann, wenn die Bakterien selbst eigentlich für den Menschen ungefährlich sind: Denn die sogenannten ESBL-Keime bilden ein Enzym, das Antibiotika unwirksam macht – auch wenn diese gegen andere Bakterien eingesetzt werden. Bereits sechs Millionen Deutsche sollen solche Keime in sich tragen. Eine im Auftrag der grünen Bundestagsfraktion erstellte Studie hat im Frühjahr 2014 in zwei Drittel der untersuchten Proben aus Putenfleisch belastete Keime gefunden.[7]

Zwar unterliegen Bauern und Tierärzte seit April 2014 strengeren Meldepflichten: Sie müssen halbjährlich melden, welche Arzneimittel sie ihren Tieren verabreicht haben. Diese Daten werden in einer Datenbank gesammelt, so wird zumindest Transparenz hergestellt. Doch das eigentliche Problem ist damit noch nicht gelöst: Riesige Mastanlagen können nur durch den Einsatz von Antibiotika Erkrankungen vorbeugen. Insbesondere Geflügel ist davon betroffen: Ein Masthähnchen bekam 2012 durchschnittlich an zehn von 39 Lebenstagen Antibiotika verabreicht.[8] Insgesamt wurden in der Tiermast im Jahr 2013 zwar etwas weniger Antibiotika eingesetzt als zuvor, doch auch hier gibt es einen dramatischen Anstieg bei der Vergabe von Reserveantibiotika. Das Bundesinstitut für Risikobewertung fordert daher einen grundlegenden Kurswechsel in der Tierhaltung – statt die Tiere mit Antibiotika vollzupumpen, bräuchten diese „Platz, Frischluft und gute Fütterung“[9].

Antibiotika lohnen sich nicht

Während sich derzeit zumindest die Stimmen jener mehren, die ein Umdenken bei Ärzten wie Tierärzten einfordern, bleibt ein Aspekt in der Debatte oft außen vor: Es fehlt an Forschung zu neuen Antibiotika. Um der wachsenden Resistenz der Bakterien entgegenzuwirken, werden Antibiotika mit verschiedenen Wirkungsweisen benötigt. Doch die Neuzulassungen gehen seit Jahren zurück. Zwischen 1982 und 1991 kamen noch 28 neue Antibiotikawirkstoffe auf den Markt, 2001 bis 2011 waren es gerade einmal 13, fast alle mit bekannten Angriffsstrategien. Bisher gibt es drei Wege, um die den menschlichen Zellen ähnlichen Bakterienzellen anzugreifen. Der erste führt über die Zellwand: Antibiotika wie Penicilline schaffen es, dass das Bakterium in dem Moment, in dem es sich teilen will, platzt. Der zweite verhindert, dass das Bakterium bestimmte Bausteine produziert, die es zu seiner Vermehrung bräuchte. Das machen Antibiotika wie Tetracycline. Der dritte Weg besteht in einem Angriff auf die Erbinformation. Fluorchinolone zum Beispiel verhindern, dass sich die Bakterien-DNA vermehrt. So bleiben die Bakterien im Teilungsprozess einfach stecken. Doch gegen all diese Angriffe haben Bakterien bereits Resistenzen entwickelt.

„Wir haben vielleicht noch genügend Antibiotika für die nächsten drei oder vier Jahre“, warnte Julia Bandow von der Universität Bochum schon vor zwei Jahren. „Es gibt nichts in der Entwicklung mit wirklich neuen Angriffspunkten.“ Selbst wenn jetzt ein Wirkstoff gefunden würde – ihn zu einem Medikament zu entwickeln, ist teuer und braucht Zeit: Die Kosten belaufen sich auf rund 800 Mio. Euro, die Entwicklung dauert zehn bis fünfzehn Jahre. Und erst dann entscheidet sich, ob das Medikament von den Behörden überhaupt zugelassen wird. Wie bei allen Medikamenten muss nachgewiesen werden, dass die Substanz nicht schlechter wirkt als solche, die bereits auf dem Markt sind. Gerade bei Antibiotika ergebe das aber keinen Sinn: „Antibiotika müssen Bakterien nicht besser oder schlechter töten, sondern einfach nur anders.“[10]

Selbst wenn ein neues Antibiotikum zugelassen wird, fallen die Einnahmen am Ende gering aus, denn die Patienten schlucken die Mittel meist nur ein paar Tage. Cholesterinsenker hingegen werden im Zweifel bis ans Lebensende eingenommen – für Pharmafirmen ein weitaus besseres Geschäft.

Die Behandlung wird immer schwieriger

Dabei wird die Behandlung der Patienten gegen multiresistente Keime schon jetzt immer schwieriger. Der am häufigsten zu behandelnde Erreger ist das Methicillin-resistente Staphylococcus aureus, MRSA. Das Bakterium existiert überall in der Natur, lebt bei vielen Menschen unbemerkt auf der Haut oder in der Nase. Dies ist an sich kein Problem. Ist jedoch das Immunsystem geschwächt oder gibt es offene Wunden, breiten sich die Besiedler schnell aus. Es kommt zu Entzündungen, nicht heilenden, eitrigen Wunden, Blutvergiftungen – manchmal mit tödlichen Folgen.

In Deutschland ist inzwischen jedes vierte Bakterium dieser Art multiresistent. In einigen Krankenhäusern sind es mehr als die Hälfte. Gerade dort infizieren sich Menschen oft mit MRSA. Das größte Problem sind Intensivstationen: Operationen, die den Keimen leichten Zutritt in offene Wunden verschaffen, mangelnde Hygiene, Menschen mit schwachem Immunsystem.

Was aber, wenn bald nicht mehr nur multi-, sondern omniresistente Bakterien in uns eindringen? Solche, die gegen alle Antibiotika immun sind? Medizinisch gesehen fallen wir dann zurück ins Jahr 1940, bevor ein Antibiotikum zum ersten Mal einen Menschen heilte.

Mehr Reserven – und Zeit

Einen Stoff zu finden, gegen den Bakterien keine Resistenz entwickeln können, ist utopisch. Nicht umsonst sind sie die ältesten und anpassungsfähigsten Lebewesen auf der Erde. Sie leben unter den extremsten Bedingungen: 4000 Meter unter dem Eis Alaskas, in Schwefelquellen und auf dem Grund der Ozeane. Bakterien leben unter Druck, zusammen mit radioaktiven Stoffen, sie ernähren sich von Giften. Letztlich geht es also in erster Linie darum, Zeit für den Menschen zu gewinnen.

Für den Kampf gegen multiresistente Keime bedarf es vielerlei: bessere Diagnosemethoden, um genau herauszufinden, welche gefährlichen Bakterien im menschlichen Körper vorhanden sind, bessere Hygiene in den Krankenhäusern, ähnlich wie in den Niederlanden – dort sind die Resistenzzahlen weit geringer als in Deutschland – und mehr Reserveantibiotika, die nicht frei auf dem Markt vertrieben, sondern für den Notfall zurückbehalten werden.

Zudem müssen politische Maßnahmen ergriffen werden: Von staatlicher Seite sollte universitäre Forschung im Bereich Antibiotika wirkungsvoller gefördert werden, und auch die Pharmaindustrie muss dazu angehalten werden, die Medikamente zu entwickeln. Darüber hinaus werden klare und verbindliche Richtlinien benötigt, wann welches Antibiotikum für welche Dauer eingesetzt werden darf, genauso wie Schulungen für Ärzte, die Antibiotika verschreiben. Auch die Hygiene in Kliniken muss sich verbessern. Und schließlich braucht es vor allem in der Tierhaltung strengere Gesetze und Kontrollen.

Nicht zuletzt können auch Patienten ihren Teil zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika beitragen. Wer Antibiotika nehmen soll, muss den Beipackzettel gründlich lesen und die Medikamente nur in richtiger Menge und richtiger Dauer schlucken. Vor allem nach der Zubereitung von Fleisch und Eiern sollten dringend die Hände gewaschen werden. Und: Gegen eine Erkältung hilft kein Antibiotikum.

Zwar hat die Bundesregierung das Problem inzwischen erkannt und die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ins Leben gerufen, eine Art Masterplan, mit dem sie den Resistenzentwicklungen entgegenwirken will. Auch das Europäische Parlament mahnt, die Verwendung von Antibiotika müsse strengeren Regeln unterworfen werden. Doch all das kommt viel zu spät und nur schleppend in Gang. Es müsste schneller gehen, mehr passieren. Die Zeit läuft.

 


[1] Vgl. Jost Maurin, Die Schweine sind schuld, in: „die tageszeitung“ (taz), 10.11.2014.

[2] WHO, Antimicrobial resistance: global report on surveillance 2014, April 2014.

[3] Werner Bartens, Falsche Antibiotika, 21.5.2014, www.sueddeutsche.de.

[4] Helmut Schröder, Katrin Nink, Judith Günther und Winfried V. Kern, Antibiotika: So lange sie noch wirken..., in: „G+G Wissenschaft“ (GGW), 2/2003, S. 7-15, hier: S. 15.

[5] Das fordert Katja de With, Leiterin des Antibiotic Stewardship an der Universität Freiburg, vgl. Maria Rossbauer, Ein bedrohtes Wunder, in: taz, 9./10.6.2012.

[6] Seit Dezember 2013, vgl. S3-Leitlinie. Strategien zur Sicherung rationaler Antibiotika-Anwendung im Krankenhaus, AWMF-Registernummer 092/001, www.awmf.org.

[7] Vgl. Bündnis 90/Die Grünen, Antibiotikaresistenzen in der Wurst, www.gruene-bundestag.de, 21.05.2014.

[8] Vgl. Bauern verwenden weniger, aber dafür bedenklichere Antibiotika, www.zeit.de, 1.8.2014.

[9] So Bernd-Alois Tenhagen, zit. nach: Joachim Wille, Gefährliche Resistenzen, in: „Zeo2“, 4/2014, www.taz.de.

[10] So die Mikrobiologin Julia Bandow von der Universität Bochum, zit. nach Rossbauer, a.a.O.

 

(aus: »Blätter« 1/2015, Seite 17-20)