Charlie, Pegida und die Pressefreiheit

Ein Kommentar

Unsere Wahrnehmung der Welt wird stark durch die Massenmedien beeinflusst.

Als der Massenmörder Anders Behring Breivik im Juli 2011 in Oslo 77 Menschen ermordete, kam keine Zeitung auf die Idee, das Massaker „dem Christentum“ anzukreiden, obwohl sich Breivik selbst als christlich-konservativer Kreuzzügler versteht, seine Tat als „Kampf für das christliche Europa“ bezeichnete und Mitglied des in seiner Phantasie neu gegründeten – und nur aus ihm bestehenden – Templerordens ist.

Anfang Januar 2015 überfiel die Terrorgruppe Boko Haram die Stadt Baga in Nigeria und ermordete 2000 Menschen, ohne dass die Medien im Westen groß darüber berichteten oder die Weltöffentlichkeit Anteil nahm. Die Opfer waren ja „nur“ schwarze AfrikanerInnen.

Als am 7. Januar 2015 in Paris 17 Menschen durch Islamisten ermordet wurden, demonstrierten anschließend – berechtigterweise – Millionen gegen den Terror. Rechte Medien, Faschisten, FN, Pegida und Co. nutzten das Verbrechen für ihre rassistische Propaganda. Regierungen, Kirchen und Islamverbände bekundeten Entsetzen über das Verbrechen, sind sich aber weitgehend mit den Islamisten einig, dass Religionskritik mit Hilfe des Gummiparagraphen 166 StGB (1) verfolgt werden soll. Viele Linke übersehen, dass bei Charlie Hebdo antirassistische, antinationalistische, antiklerikale, antimilitaristische Karikaturisten, Menschen, die sie zur eigenen Bewegung zählen müssten, ermordet worden waren [siehe Artikel/Schwerpunkt in dieser GWR, Seite 11 ff.]. Kurz nach den Mordanschlägen präsentierten uns viele Medien eine Gruppe von WeltpolitikerInnen, die anscheinend gemeinsam mit Millionen anderen Menschen in Paris demonstrierten, um ihre Solidarität nit den Ermordeten auszudrücken und ein „Zeichen für Pressefreiheit“ zu setzen. Das Ganze war aber offensichtlich nur eine Inszenierung. Merkel, Hollande, Cameron, Sarkozy, Netanjahu, Abbas und Co. gingen nicht an der Spitze der Demo. Die Aufnahmen, die diesen Eindruck erwecken sollten, wurden – so deckte die britische Tageszeitung Independent auf – inszeniert (siehe Fotos auf dieser Seite). Eine Irreführung der Öffentlichkeit.

 

Ist von Regierungschefs und SpitzenpolitikerInnen etwas anderes zu erwarten?

 

Charlie Hebdo hat seine bissigen Satiren vor allem auch gegen PolitikerInnen wie Marine Le Pen gerichtet. Dass die Neofaschistin nun den Mordanschlag dazu nutzte, um wieder einmal die Einführung der Todesstrafe zu fordern, ist ekelhaft.

Aber auch die vermeintliche Empörung u.a. bei anderen PolitikerInnen wirkt wenig glaubwürdig.

Können wir Machtmenschen glauben, die einerseits öffentlich diesen „feigen Angriff auf die Pressefreiheit“ geißeln, andererseits aber keine Skrupel haben, sich mit Geschäftspartnern ablichten zu lassen, die für massive Angriffe auf Pressefreiheit und Menschenwürde verantwortlich sind?

Ungerührt von schwersten Menschenrechtsverletzungen hat die Merkel-Gabriel-Regierung über Jahre hinweg modernste Waffen im Wert von Milliarden Euro an das wahabitische Terrorregime in Saudi-Arabien geliefert. Wo war Merkels Empörung über den massiven Angriff auf die Pressefreiheit, als der saudi-arabische Blogger Raif Badawi am 9. Januar 2015 in aller Öffentlichkeit die ersten 50 von insgesamt 1.000 Stockschlägen erhielt, weil er sein Recht auf Pressefreiheit wahrnehmen wollte? Und dies ist nur ein Teil der menschenverachtenden Strafe, zu der der 31-Jährige wegen der Gründung einer Webseite und „Beleidigung des Islam“ verurteilt wurde. Nach zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe von 226.000 Euro und einem zehnjährigen Reise- und Medienverbot wäre seine Existenz zerstört. (2)

In Zeiten, in denen Whistleblower wie Edward Snowden an keinem Ort der Welt wirklich sicher sind und Chelsea Manning 35 Jahre in Haft sitzen soll, weil sie Kriegsverbrechen der USA öffentlich gemacht hat, gibt es keine wirkliche Pressefreiheit. Auch nicht in Deutschland, wo große Konzerne den Inhalt der Massenmedien bestimmen, die Schere im Kopf regiert und kleine Alternativblätter wie die Graswurzelrevolution vom Geheimdienst überwacht und kriminalisiert werden, wenn sie beispielsweise – wie in der Vergangenheit des Öfteren passiert – zur Desertion, zu Blockaden und anderen Direkten Gewaltfreien Aktionen aufrufen. Wo es Gummiparagraphen wie den § 166 StGB gibt, mit dem Menschen kriminalisiert werden, wenn sie „religiöse Gefühle verletzen“, kann von echter Pressefreiheit nicht gesprochen werden.

Wie wenig westliche MachtpolitikerInnen tatsächlich von Pressefreiheit halten, zeigt auch der Fall Snowden. Die Razzia beim linksliberalen Guardian und die Zerstörung von Computern, um die Veröffentlichung von Snowden-Dokumenten zu verhindern, war eine staatliche Machtdemonstration dessen, wie man einen „modernen“ Angriff auf die Pressefreiheit verübt. Dass es noch härter geht, zeigt z.B. das seit 2003 islamistisch regierte NATO-Mitglied Türkei, das rigoros gegen regierungs- und religionskritische JournalistInnen vorgeht und in der Vergangenheit, damals noch unter kemalistischer Führung, nicht davor zurückschreckte, das Bürogebäude der linken Tageszeitung Özgür Gündem in Istanbul in die Luft zu jagen.

In Sachen Pressefreiheit gilt nach wie vor das, was der Philosoph Max Stirner schon 1844 formuliert hat: „Der Staat erlaubt uns allen, unsere Gedanken an den Mann zu bringen, allein nur so lange, als unsere Gedanken seine Gedanken sind, sonst stopft er uns das Maul.“

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

  1. § 166. Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen. Im Wortlaut: (1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
  2. 20 Wochen lang droht dem Blogger Raif die Folter: 1000 Peitschenhiebe, 50 wöchentlich. Wir dürfen diese brutale Bestrafung eines Menschen, der nur sein Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen hat, nicht zulassen! Amnesty international: „Saudi-Arabien verstößt mit dieser Strafe gegen das völkerrechtliche Verbot von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Weltweit mobilisieren wir in diesen Tagen den Widerstand und fordern Saudi-Arabien auf, die Stockschläge zu beenden und Raif Badawi sofort freizulassen.“ Infos & Online-Aktion: www.stopfolter.de

 

Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 396, Februar 2015, www.graswurzel.net