Solidarität und Ökonomie

Im Wirtschaftsleben gibt es keine Solidarität. Bei dieser apodiktischen Aussage handelt es sich um eine Feststellung, die sich für eine marktwirtschaftliche Ordnung theoretisch schlüssig begründen lässt. Von größerer Überzeugungskraft aber ist der praktische Beweis dafür, der ungeachtet aller politischen Solidaritätsbekundungen und lautstarken „Hilfe“-Rhetorik in der Europäischen Union tagtäglich erbracht wird. Zum Beispiel in Bezug auf Griechenland, wo von „Hilfsprogrammen“ die Rede ist, wenn es um gewinnträchtige Investitionen geht, von „Finanzhilfen“, wenn verzinsliche und zurückzuzahlende Kredite gemeint sind, und von „europäischer Solidarität“, wenn die Angst der europäischen Staatengemeinschaft vor einem Auseinanderbrechen der Währungs- und Wirtschaftsunion in schöne Worte gekleidet werden soll. Ehrlicher wäre es, die irreführenden und die wahren Sachverhalte nur vernebelnden Euphemismen sein zu lassen und stattdessen die ökonomischen Tatbestände bei ihrem richtigen Namen zu nennen.
Das würde bedeuten, endlich zuzugeben, dass Griechenland seit Jahren über seine Verhältnisse gelebt hat und man dies geduldet und durch die Vergabe immer neuer Kredite finanziert hat, weil französische, deutsche, britische und andere Banken kräftig daran verdient haben. Ebenso sollte man klarstellen, dass Griechenland seit mindestens fünf Jahren vor der Zahlungsunfähigkeit steht und nur immer wieder durch neue Kredite gerettet wurde, weil man das schon investierte Geld sonst verloren hätte. Kredite aber sind keine Geschenke und per se keine „Hilfen“, sondern verkörpern Geschäfte. Selbst die Herabsetzung vereinbarter Zinszahlungen und die Stundung von Krediten erscheinen nur in oberflächlicher Betrachtung als Entgegenkommen und Subvention. Genau besehen sind es Maßnahmen, auf die sich Kreditgeber nur gezwungenermaßen einlassen, um wenigstens noch etwas von dem geliehenen Geld wiederzusehen. Andernfalls drohte ein Totalausfall und der Verlust wäre dann entsprechend größer.
Auch verhält es sich mit den Schulden von Staaten anders als häufig unterstellt wird: Ein Staat nimmt Kredite auf, um bestimmte Ausgaben zu tätigen. Damit ist das Geld erst einmal weg, nämlich ausgegeben. Eine Rückzahlung dieses Geldes ist daher prinzipiell nicht möglich. Und doch erhalten die Gläubiger am Ende der Laufzeit ihr Geld zurück. Grundlage dafür ist aber in der Regel ein neuer Kredit, der den alten ablöst. Man spricht deshalb von einer Anschlussfinanzierung. Die aber gilt nur als gesichert, wenn der Kreditnehmer kreditwürdig bleibt, das heißt die laufenden Zinszahlungen leistet und sein Wirtschaftspotenzial mit Hilfe der Kredite aufstockt. Und genau hier liegt das Problem des griechischen Staates: Um den Schuldendienst ordnungsgemäß leisten zu können, bedarf er ausreichender Steuereinnahmen. Die Basis dafür aber ist eine prosperierende Wirtschaft. Fehlt diese, so hapert es auch bei jenen. Die Folge ist, dass die Kredite durch steigende Risikozuschläge immer teurer werden und es immer weniger gelingt, die Zinsen dafür tatsächlich zu erwirtschaften. Letztlich misslingt die Anschlussfinanzierung und es droht der Zahlungsausfall, sprich die Insolvenz.
Warum es im Falle Griechenlands so gekommen ist, liegt auf der Hand: Erstens flossen die aufgenommenen Kredite zu wenig in produktive Investitionen, stattdessen versickerten sie in den Taschen korrupter Politiker, dienten der Finanzierung großzügiger privater und öffentlicher Bauprojekte, dem Kauf von U-Booten und Kampfjets und dergleichen mehr. Das aber sind größtenteils Ausgaben ohne Wiederkehr und ohne Gewinn für den Staat, wovon man den Schuldendienst leisten könnte.
Zweitens leidet die griechische Wirtschaft, wie keine zweite in Europa, unter dem starken Euro und der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die ohnehin vorhandene Wettbewerbsschwäche Griechenlands wird durch die gemeinsame Währung noch verstärkt und es gibt unter diesen Bedingungen für das Land keine Möglichkeit, dies durch eine monetäre Abwertung zu kompensieren. Insofern ist Griechenland ein „Opfer“ der europäischen Integration, auch wenn es die wirtschaftlichen Probleme, die dazu geführt haben, größtenteils selbst verursacht hat.
Drittens hat bisher nicht nur die Politik in Griechenland versagt, sondern ebenso das Kapital. Ob Banken, Reedereien, Schifffahrt, Tourismus, Energie- oder Landwirtschaft – alle waren sie darauf aus, Gewinne zu machen und diese möglichst ohne sie zu versteuern ins Ausland zu transferieren. So entstand die „dramatische Lage“ der griechischen Volkswirtschaft und des griechischen Staates, von der heute Alexis Tsipras spricht, und aus der Griechenland ohne grundlegende Reformen kaum wieder herausfinden wird.
Hierbei nun aber auf „solidarische Hilfe“ von außen zu rechnen oder darauf zu hoffen, dass die Europäische Zentralbank „frische griechische Staatsanleihen“ kauft, wie Heerke Hummel dies fordert, um „ein effektives Investitionsprogramm sinnvoll zu finanzieren“, ist eine Illusion. Eine solche „Ethik des Handelns“ gibt es in Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten nicht und hat es hier nie gegeben. Auch der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg stellte keine uneigennützige Hilfe der USA für Westeuropa dar, sondern war Teil des Programms der USA im Kalten Krieg und öffnete dem deren Kapital die Türen zu den Märkten Westeuropas. Ganz zu schweigen von den „Solidarmaßnahmen“ westdeutscher Handelskonzerne, Banken und Bauunternehmen, die sich nach 1990 in den neuen Bundesländern engagierten und hier staatlich garantierte Extragewinne einfahren konnten.
Um mit dem Schuldenproblem fertig zu werden bleiben Griechenland nur wenige Optionen. Zentral dabei ist die Schaffung einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft – ob mit oder ohne Euro, das ist hierfür zunächst von sekundärer Bedeutung. Und ebenso wichtig ist wirtschaftliches Wachstum, um aus den Schulden herauswachsen zu können. Eine Postwachstumsstrategie könnte sich vielleicht die Schweiz leisten, nicht aber eine hochverschuldete und verarmte Volkswirtschaft wie die Griechenlands.