Wie die deutsche Politik mit einem Makel umgeht

Ende April 2002 veröffentlichte der Bremer Soziologe, Wirtschaftswissenschaftler und Völkermordexperte Gunnar Heinsohn zum Genozid an den Armeniern den Text „Wie eine Resolution des Deutschen Bundestages lauten könnte“. Darin heißt es unter anderem: „Der Deutsche Bundestag ist über die Verneinung des Völkermordes von 1915 an den Armeniern im jungtürkischen Osmanischen Reich nicht weniger bestürzt als über Versuche, die […] deutschen Verbrechen am europäischen Judentum zwischen 1933 und 1945 zu verharmlosen oder gar zu bestreiten. Der Bundestag weiß um die logistische Hilfe des Deutschen Kaiserreiches bei der Ermordung der Armenier, um die eiserne Weigerung, den verbündeten türkischen Tätern Einhalt zu gebieten, um die aktive Vertuschung der Verbrechen vor der Welt und um die Rettung der Haupttäter auf einem deutschen Zerstörer […]. Der Bundestag vergisst bei seinen Hinweisen auf die deutschen Täter und Mittäter keineswegs, dass es nicht zuletzt die zahlreichen Berichte deutscher Konsularbeamter an das Auswärtige Amt in Berlin gewesen sind, durch welche die Auslöschung der Armenier so genau dokumentiert werden konnte […] Das Decken der Verbrechen durch Wilhelm II. und die deutsche Diplomatie war auch deshalb so verwerflich, weil die deutsche Seite so viel besser Bescheid wusste als die Belogenen […]. Der Bundestag ruft den Genozid von 1915 nicht nur deshalb in Erinnerung, um sich einem kaum bewussten Stück deutscher Geschichte zu stellen und den Armeniern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er will die türkische Regierung dazu ermuntern, die Taten der osmanischen Vergangenheit ebenfalls anzunehmen und damit eine Versöhnung zu befördern, die – wie wir wissen – auch von armenischer Seite ganz entschieden befürwortet wird. Die Türkei müsste sich dafür nur der Entschlossenheit entsinnen, mit der sie selbst im Jahre 1918 die Ahndung der Verbrechen an ihren armenischen Bürgern begonnen hat.“
Von solchem Geist und von solcher Haltung war die Resolution, die der Deutsche Bundestag bislang diskutiert hat, meilenweit entfernt. Ob sich bei den wohl inzwischen begonnenen Ausschussberatungen eine gemeinsame Resolution aller Fraktionen finden lässt, die den Völkermord beim Namen nennt und nicht nach pflaumenweichen Ersatzbegriffen greift, ist nach wie vor offen. Schaut man sich den Text vom 23. April 2015 an, sieht es auf den ersten Blick so aus, als sei er weiter gegangen, als man zunächst erwarten konnte. Offenbar war man unter Druck geraten, wozu der Papst mit seiner Erklärung zum Genozid von 1915 mehr beigetragen hat als gemeinhin angenommen. Immerhin ist halb Deutschland katholisch, zumindest auf dem Papier. Aber anders als Papst Franziskus, der die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren als „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, ist an dem deutschen Resolutionstext nicht zu verkennen, dass er sich wie die Begleitmusik zu einem „Rücksichtsgefecht“ anhört. Er enthält keine klare und unmissverständliche Aussage darüber, dass man die Geschehnisse von 1915 als Völkermord an den Armeniern anerkennt. Nichts ist über die deutsche Mitverantwortung an dem Genozid gesagt. Stattdessen verflüchtigt man sich in Allgemein- und Plattheiten und entzieht sich so einer Stellungnahme, die sich an der Wahrhaftigkeit orientiert. Nirgendwo ist von einem Völkermord an den Armeniern die Rede. Statt dessen wird ihr „Schicksal“ als „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtung“ erklärt und dann sogleich erläuternd nahegelegt, was darunter zu verstehen sei: ethnische Säuberungen, Vertreibungen und Völkermorde, „von denen“, wie es erneut verallgemeinernd heißt, „das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“. Anders ausgedrückt: Ein Massenvernichtungsbrei wird „angerührt“, in dem der Genozid von 1915 nur eines von vielen „Beispielen“ ist, aber nicht mehr als singuläres Ereignis gilt – zum Beispiel als der bedeutendste Genozid des frühen 20. Jahrhunderts. Man mag darüber streiten, ob der Kolonialkrieg zwischen den deutschen Truppen und den Völkern der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908), der nach der Niederschlagung des Aufstandes in einen Völkermord ausartete, nicht davor zu nennen wäre. Doch hatte die von Schlieffen und Wilhelm II. unterstützte Vernichtungsstrategie General von Trothas andere Dimensionen und Ursachen. Jedenfalls ist nicht zu erkennen oder nachzuvollziehen, dass das armenische Volk 1915 im Sinne der verabschiedeten Erklärung „vertrieben“ worden ist, auch handelt es sich 1915 nicht um eine „ethnische Säuberung“, sondern um die planmäßige und systematische Ausrottung eines christlich verfassten Volkes. „Das Delikt des Völkermordes (auch: Genozid) bezeichnet eine bestimmte Form des Zusammentreffens von Diskriminierungswille und Gewalt; der Völkermord ist die ins Werk gesetzte Vernichtung einer Gruppe vermeintlicher Untermenschen“ – so der Münchner Jurist Till Zimmermann. Ethnische Säuberung ist nicht unbedingt identisch mit Völkermord; der Genozid kann aber ein Mittel zur ethnischen Säuberung sein. Unter „Völkermord“ versteht man die vorbedachte teilweise oder vollständige Tötung einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe, während es das Ziel der ethnischen Säuberung ist, eine derartige Gruppe aus einem Gebiet „lediglich“ zu entfernen. Die dabei angewandten Mittel können unterschiedlich sein: Ausweisung, Bevölkerungsaustausch bis hin zu Lagerverschickungen. Beim Völkermord ist das anders. Hier ist Vertreibung oder Deportation ganz eindeutig das Mittel, den Völkermord unausweichlich zu machen beziehungsweise ihn zu vollziehen.
Mit dem Resolutionstext könnte letzten Endes auch die Türkei, soweit sie von Erdoğan repräsentiert wird, einverstanden sein. Nach seiner Lesart sind die Armenier durchaus vertrieben beziehungsweise „umgesiedelt“ worden, weil man, wie er behauptet, sich vor ihnen schützen wollte oder musste. Dass es dabei vielleicht zu Übergriffen gekommen ist, sei sicher bedauerlich, habe aber nichts mit Völkermord zu tun.
Inzwischen hat auch das österreichische Parlament erklärt und verdeutlicht: „Aufgrund der historischen Verantwortung […] ist es unsere Pflicht, die schrecklichen Geschehnisse als Genozid anzuerkennen und zu verurteilen.“ Eine „historische Verantwortung“ erkennen die Abgeordneten des Wiener Parlaments insofern an, als die österreich-ungarische Monarchie im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet war – ganz wie das Hohenzollernreich. Die Schweiz ist vor vielen Jahren noch einen Schritt weitergegangen und stellt jeden, der auf ihrem Boden die Tatsache des Völkermordes an den Armeniern leugnet, unter Strafe.
Von der österreichischen oder schweizer Haltung ist der Deutsche Bundestag weit entfernt. Dabei stünde doch gerade uns Deutschen eine solche moralische Verpflichtung gut zu Gesicht. Harry Stürmer, 1915/16 als Korrespondent der Kölnischen Zeitung in Konstantinopel, bezeichnete das deutsche Verhalten erstens als eine „bodenlose Feigheit“, hätte man doch die „Beachtung der allereinfachsten Grundsätze der Menschlichkeit“ durchsetzen können; zweitens als eine „Gewissenlosigkeit“ – wegen des „Zusehens, wie Leben und Besitz, Wohlbefinden und Kultur von Hunderttausenden geopfert wurden“, statt „höchst energisch aufzutreten“, drittens als eine „kurzsichtige Dummheit“, zumal Deutschland in einer „siegreichen, völlig vertürkten Türkei nichts mehr zu sagen haben würde, nicht einmal rein wirtschaftlich.“ Das Auswärtige Amt (AA) tat damals – vor und nach 1918 – alles, um Stürmer als „Renegaten“ zu brandmarken. Und es tut heute weiterhin alles, um zugunsten der Türkei die Wahrheit zu unterdrücken. Wir sind gespannt, was die Ausschussarbeit an neuen, vom AA geltend gemachten Verrenkungen zu Tage fördern wird oder ob ein deutsches Parlament endlich anerkennt, woran es seit hundert Jahren keinen Zweifel gibt. Ein neuerliches Herumdrücken um die Wahrheit wäre erbärmlich, schändlich und beschämenswert.
Zu viele deutsche Regierungen haben geschwiegen, sich herausgeredet oder in die Büsche geschlagen, wenn es darum ging, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die Täter beim Namen zu nennen. Von deutschen Politikern und der deutschen Regierung ist zu erwarten, dass sie den Völkermord an den Armenier ohne Verklausulierungen als frühen Genozid des 20. Jahrhunderts anerkennen, sich zur deutschen Mitverantwortung daran bekennen und die Türkei zu einer Erklärung auffordern, die den Schutz der armenischen wie anderer Minderheiten garantiert.