Anmerkungen zur „Flüchtlingskrise“

Ein Beitrag von Prof. Reiner Diederich, zuerst erschienen in BIG BUSINESS CRIME 01/2016

Die Krise der EU verschärfte sich im letzten Jahr durch die massenhafte Zuwanderung nach Europa.

Wie es bisher keine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, so gibt es auch keine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik, um die damit verbundenen Probleme zu lösen. Das ist unter anderem eine Folge der national wie international dominierenden neoliberalen Konzepte: In der Konkurrenz aller gegen alle ist jeder sich selbst der Nächste. Mühsam wird angesichts der „Flüchtlingskrise“ nach einem Interessenausgleich in der EU gesucht. Aber immer mehr bestimmen nationale Alleingänge einzelner Länder das Bild. Parallel dazu gewinnen rechtspopulistische Parteien und Bewegungen Anhänger und Wählerstimmen hinzu. Nach Ungarn hat nun auch Polen eine rechtspopulistische Regierung. Dass es anders ginge, zeigten die spanischen Wahlen im Dezember 2015.

In der Ausgabe der Frankfurter Rundschau zum Jahreswechsel schrieb Martin Dahms unter dem Titel „Spanische Vitamine“: „Man male sich aus, dass in Spanien eine 'Nationale Front' oder eine 'Alternative für Spanien' oder die 'Wahren Spanier' bei den Wahlen kurz vor Weihnachten 20 oder 25 Prozent der Stimmen auf sich vereint hätten. Dann würden wir klugen Analysten kluge Analysen liefern: Massenarbeitslosigkeit! Korruption! Abgekoppelte Eliten! Viele Ausländer! Der schlimmste islamistische Terroranschlag auf europäischem Boden! Das sind ja so die üblichen Verdächtigen, wenn ein Land nach rechts abdriftet – sich also von der Politik verabschiedet. Spanien aber antwortet auf die Krise mit neuen politischen Angeboten, einem dezidiert linken (Iglesias' Podemos) und einem klassisch liberalen (Riveras Ciudadanos). Für die Politikverweigerer interessiert sich hier niemand.“

Warum das so ist? Weil die übliche Antwort zu einfach erscheint: Soziale Abstiegsängste, Furcht vor „Überfremdung“, vor „Ausländerkriminalität“ und vor Terroranschlägen würden den Rechten quasi automatisch Wasser auf die Mühlen treiben, seien der Grund für ihren Erfolg. In Wirklichkeit kommt es vielmehr darauf an, wie auf diese Ängste und Befürchtungen von den etablierten politischen Kräften oder von neu entstehenden Bewegungen reagiert wird. Es kommt darauf an, wie sie interpretiert werden und was aus ihnen folgt.

Wenn beispielsweise Sigmar Gabriel auf dem Parteitag der SPD verkündet, seine Partei habe sich um die „arbeitende Mitte“ zu kümmern, damit sie sich bei ihr gut aufgehoben fühlt und nicht den Parolen der Rechtspopulisten auf den Leim geht, dann klingt das aufs erste plausibel. Ebenso, wenn er die „soziale Frage“ als die Kernfrage in Europa bezeichnet.

Aber der SPD-Vorsitzende und seine Anhänger setzen die gesellschaftliche Mitte fälschlicherweise mit der politischen Mitte gleich. Darauf hat Stephan Hebel in der Wochenzeitschrift „der Freitag“ vom 7. Januar 2016 aufmerksam gemacht. Sie suchen ihr „Heil in der Anpassung an den modernisierten, mittigen Konservatismus à la Merkel“, was zum Misserfolg verdammt ist. „Linke Projekte wie der Mindestlohn … helfen wenig, wenn man sich bei Mitte-Themen wie Vorratsdatenspeicherung oder Kohlekraftwerken von der Union nicht unterscheidet – und beim Freihandelsabkommen TTIP einen Eiertanz nach dem anderen aufführt.“

Ganz zu schweigen von der Weigerung, die Fragen einer gerechteren Einkommens-, Vermögens- und Steuerverteilung aufzugreifen, also die klassischen Themen einer linken Partei. Sie sind keinesfalls nur für die unteren Schichten interessant, sondern betreffen angesichts der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit im Land längst auch die Mittelschicht.

So wird den Rechtspopulisten das Spiel leicht gemacht. Geschickt lenken sie den Unmut über die politischen Eliten, über die auch in der „arbeitenden Mitte“ zunehmende Unsicherheit der Lebensperspektiven auf falsche Feinde. Das sind dann die ins Land gekommenen Flüchtlinge, die sie willkommen heißenden „Gutmenschen“ oder die „Eurokraten“ in Brüssel. Schuld an den Verhältnissen wird einzelnen Personen oder Gruppen als Sündenböcken gegeben, nicht etwa einem gnadenlosen, von der herrschenden neoliberalen Politik ungebremsten System der Profitmacherei.

Marine le Pens „Front National“ in Frankreich geht noch einen Schritt weiter. Der FN übernimmt nach einem bekannten Muster scheinbar Forderungen der Linken, um sie nationalistisch und fremdenfeindlich umzuinterpretieren:

„Die rechtspopulistische Partei will die Kontrolle über die Notenbank und die nationale Währung zurückerlangen, um die aus ihrer Sicht desaströse Austeritätspolitik Frankreichs zu überwinden, das Monopol der Finanzmärkte und Banken zu zerschlagen und die Wirtschaft mit einem ausgabenorientierten Konjunkturprogramm anzukurbeln…
Die einheimischen Unternehmen und Arbeitsplätze sollen vor der 'unloyalen' Auslandskonkurrenz geschützt und auf diese Weise auch eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung durchgesetzt werden.
Zugleich will der FN alle Monatssaläre bis 1.500 Euro um 200 Euro erhöhen und auch die Altersrenten kräftig anheben. Weitere Versprechen sind die 5%ige Reduktion der Gas-, Strom- und Zugtarife sowie eine 20%ige Ermäßigung der Benzinsteuer, die den großen Energiekonzernen aufgebürdet werden soll.
Allerdings sollten diese Verbesserungen wie auch neue Arbeitsplätze, dies ein typisches Merkmal rechtspopulistischer Programmatik, nur 'den Franzosen', nicht MigrantInnen und Flüchtlingen zugutekommen. Letztere sollen im Gegenteil durch den Abbau von Sozialleistungen wie etwa der unentgeltlichen Arzthilfe für MigrantInnen zur Finanzierung der Programme beitragen. Ein anderer wichtiger Finanzierungsfaktor sind reduzierte Zahlungen an die EU. Zudem plant der FN einen 3%igen Sonderzoll auf alle Importe. Die maroden Staatsfinanzen sollen durch die Herstellung steuerpolitischer Gerechtigkeit saniert werden, d.h. mit einer Verschärfung der progressiven Einkommens- und Vermögensbesteuerung sowie einer harten Repressionspolitik gegenüber Steuerhinterziehern.“ (Joachim Bischoff und Bernhard Müller: Rechtsdrift in Europa, Alternative für Deutschland und linke Auswege, in: Sozialismus Heft 1/2016, S. 20)

Diese Mischung von Richtigem und Falschen, die man auch bei anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa beobachten kann und die das Geheimnis ihres Erfolges ausmacht, hat einen harten Kern: Am Verhältnis von Kapital und Arbeit soll nicht gerüttelt werden. Soziale Konflikte sollen in ethnische Konflikte verwandelt werden – in Konflikte zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“. Die Spaltungstendenzen in den unteren Bereichen der Gesellschaft werden so verstärkt, was den Eliten eine Politik des „Teile und herrsche“ leichter macht.

Zudem sollen die einheimischen Lohnabhängigen und Mittelschichtler mit der einheimischen Unternehmerschaft eine Front des „Volkes“ gegen das „ausländische“ (Finanz-)Kapital bilden. So ähnlich propagieren es bei uns Jürgen Elsässer auf seinem Blog und in seiner Zeitschrift „Compact“, viele Internetseiten mit blumigen Namen, große Teile der AfD, die NPD und andere am rechten Rand, der immer mehr in die Mitte drängt.

Es handelt sich dabei auch um eine Form von „Psychopolitik“, wie Marc Jongen sagt, der stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Baden-Württemberg ist und an einem philosophisch-politischen Manifest für seine Partei arbeitet. Außer auf seinen Lehrer Peter Sloterdijk bezieht er sich bei diesen Bemühungen auf einschlägige Denker: Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler und Martin Heidegger. Es geht ihm um die Entfesselung von Emotionen und die Bestimmung des Feindes, die nach Carl Schmitt zum „Wesen des Politischen“ gehört (Justus Bender und Reinhard Bingener: Die wehrhafte Wut des Winkelzahnmolchs, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.1.2016).

Kein Interesse hat Jongen daran, den Wahrheits- und Realitätsgehalt von Feindbildern zu klären. Hauptsache, sie funktionieren: „Weil es in Deutschland an Zorn und Wut fehle, mangele es unserer Kultur auch an Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Kulturen und Ideologien, etwa dem Islamismus“, heißt es in dem Artikel über ihn. Jongens Ziel ist eine „neodarwinistische Kulturtheorie“, um für die Auseinandersetzung mit den Problemen der Migration gerüstet zu sein.
 
Was hier noch als Beitrag zur Diskussion erscheinen mag, quasi als Neuauflage von Gedanken der „Konservativen Revolution“ der 1920er Jahre, ist andernorts längst zum „Phantasma des Bürgerkriegs“ mutiert: „Im November meldete sich eine 'Bürgerinitiative Notwehr Deutschland' im Internet zu Wort, die sich bereit erklärte, 'dem Unrechtssystem ins Gesicht zu spucken'. Der Blog 'Wahrheit für Deutschland' machte für den 'zu erwartenden Bürgerkrieg' schon die Frontverläufe aus: 'Rechte gegen Linke, Demokraten gegen Antidemokraten, Muslime gegen Christen und Juden, Arme gegen Reiche, Migranten gegen Einheimische, Säufer gegen Antialkoholiker lassen das ehemalige Land der Dichter und Denker armselig erscheinen. Und die Armseligkeit des Staates hat einen Namen: Verfehlte Zuwanderungspolitik und Ungerechtigkeit'.“ (Mark Siemons: Das Phantasma des Bürgerkriegs, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.1.2016)

Dieses Schwadronieren über den schwachen Staat und angebliche „Frontverläufe“ begleitet die Aufrufe zur Bildung von Bürgerwehren in den sozialen Netzwerken. Nach den Ereignissen von Köln finden sie wachsende Zustimmung. In den Medien ist davon die Rede, dass „die Stimmung gekippt“ und das anfängliche Wohlwollen gegenüber den Flüchtlingen in Abwehr gegen eine weitere Zuwanderung umgeschlagen ist. Die Bundesregierung versucht, viel zu spät und mit unzureichenden Mitteln, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Ob Angela Merkel sich als Kanzlerin noch lange halten kann, steht in den Sternen.

Was wäre in dieser Situation die Aufgabe der Linken? Sie müsste, beispielsweise, die Flüchtlingsfrage offensiv mit der Verteilungsfrage verknüpfen. Die Angst ist ja berechtigt, dass wieder einmal die kleinen Leute die Zeche zu zahlen haben. Schon war von Industrielobbyisten zu hören, der Mindestlohn solle gesenkt oder von ihm sollten Ausnahmen gemacht werden, damit die Flüchtlinge möglichst schnell in Lohn und Brot kommen können. Die Migranten als industrielle Reservearmee und als demografische Lückenbüßer – das hätte man gern.

Die Kosten für die Unterbringung, Versorgung, Ausbildung und Integration der ins Land gekommenen über eine Million Menschen und für diejenigen, die in den nächsten Jahren noch zu erwarten sind, werden immens sein. Wer nicht sagt, wie das bezahlt werden soll oder so tut, als könne es locker aus dem gegenwärtigen Einnahme-Überschuss des Staates finanziert werden, hilft den Rechten. Da nützt es auch nichts, den nationalen Egoismus und Rassismus in Teilen der Bevölkerung moralisch zu verurteilen und ihm die christlichen Werte entgegen zu halten.

In der Leitglosse der F.A.Z. vom 16.1.2016 schreibt Berthold Kohler nicht ohne Häme: „Den 'kleinen Leuten' in der SPD-Wählerschaft bleibt nicht verborgen, dass die Hunderttausende Migranten, die Deutschland bereichern sollen, Konkurrenten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sein werden. Auch müssen mit ihnen die Mittel des Sozialstaats geteilt werden, dem viele Einwanderer jedenfalls zunächst (und vielleicht für lange Zeit) zur Last fallen werden.“ Die Mittel des Sozialstaats deshalb zu erhöhen, kommt für Kohler selbstverständlich gar nicht in Betracht.

Wenn die Flüchtlingsfrage mit der Verteilungsfrage verknüpft wird, geht es in der öffentlichen Debatte nicht mehr nur um Obergrenzen der Belastbarkeit, sondern um die Frage, wer belastet werden soll. Schließlich ist übergenug Geld da im Land, es müsste nur abgeholt werden, bevor es in weltweite spekulative Umlaufbahnen geschossen wird. Dazu müssten Steuerschlupflöcher gestopft, Steuerhinterziehung besser bekämpft und Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften endlich erhöht bzw. wieder erhoben werden – im Sinne eines Lastenausgleichs. Zwei Drittel der Bundesbürger finden die gegenwärtige Einkommens- und Vermögensverteilung ungerecht. Die Basis für ein Umsteuern ist also gegeben.

Als Begründung dafür kann auch das Verursacherprinzip geltend gemacht werden. Wer jahrzehntelang in der Exportweltmeister-Liga spielt, auch gerade was den Waffenexport angeht, muss irgendwann einmal für die „Kollateralschäden“ und „ungeplanten Folgen“ davon aufkommen. Die Flüchtlingsströme sind ein Resultat der Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan und im Maghreb, an deren Ursachen auch die Bundesrepublik ihren Anteil hat, und sei es nur durch ihre Vasallentreue gegenüber den USA.

Verschärft wird die Situation durch die unter dem Panier des „Freihandels“ und der neoliberalen Politik weltweit wachsende Ungleichheit von Lebensverhältnissen – immer ein Motiv für Migration.

Für die Kosten von all dem müssten vor allem diejenigen zur Kasse gebeten werden, die davon am meisten profitiert haben: Die Besitzer von Aktien der Exportindustrie, die Inhaber von großen Vermögen, deren Verzinsung durch spekulative Geschäfte in aller Welt gewährleistet wird, die Bezieher von Gewinneinkommen aller Art.

Etwas für Flüchtlinge zu tun, die ein Bleiberecht haben, ist auch im langfristigen Interesse von uns allen. Ein größerer Teil von ihnen könnte – gut ausgebildet und mit dem europäischen „way of life“ vertraut geworden – eines Tages in ihre dann hoffentlich befriedeten Heimatländer zurückkehren und sich dort am Wiederaufbau beteiligen. Ein anderer Teil wird hierbleiben und Deutschland in ein modernes Einwanderungsland zu verwandeln helfen.

Überfällig erscheint diese Wandlung längst. Die Mehrheit der Deutschen kommt nicht darum herum, angesichts der Tatsachen endlich Abschied zu nehmen von ihrem noch immer biologistisch oder kulturalistisch gefärbten Volksbegriff. Wenn Pegida in Dresden und anderswo mit dem Schlachtruf „Wir sind das Volk“ durch die Straßen zieht, dann wird damit nicht nur die seinerzeitige Protestparole von DDR-Bürgern gegen ihre Obrigkeit missbraucht, sondern eine vordemokratische Vorstellung von dem propagiert, was „Volk“ ist.

Gegen die Horrorszenarien der Rechten über eine geplante oder ungeplante „Umvolkung“ durch Einwandernde müssten alle progressiven Kräfte offensiv die Unterscheidung zwischen „ethnos“ und „demos“ vertreten. Beide griechischen Wörter bedeuten im Deutschen Volk, aber sie meinen etwas Verschiedenes. „Ethnos“ bezeichnet eine durch Fremd- und Selbstzuschreibung entstehende Gruppierung von Menschen, die durch eine gemeinsame Vorstellung von kulturellen Traditionen verbunden sind. „Demos“ bezieht sich auf eine politische Willensgemeinschaft, die durch eine gemeinsame Verfassung und Nationalität (Staatsbürgerschaft) gekennzeichnet ist. Nicht umsonst steckt dieser Wortstamm in „Demokratie“.

Es ist gar nicht so schwer beides auseinander zu halten. Schließlich setzt sich die deutsche Nation seit jeher aus verschiedenen „Stämmen“ (= Ethnien) zusammen, die ursprünglich im Zuge einer Völkerwanderung nach Mitteleuropa gekommen sind. Kein Bayer oder Sachse würde es hinnehmen, wenn seine Eigenschaft, Deutscher zu sein, so interpretiert würde, dass er kein Recht mehr auf eigenständige kulturelle Traditionen hätte. Und was die Religionszugehörigkeit betrifft, so hatte Friedrich der Große, der nicht nur wegen der nach Preußen eingewanderten Hugenotten Französisch sprach, den ultimativen Rat: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“. Im Übrigen schließt die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit auch die Freiheit von Religion ein, d.h. die Freiheit, keine zu haben.

Mit „Multikulti“ als bloßem pluralistischem Nebeneinander, als Mischmasch der Kulturen oder Verleugnung von Konflikten hat das alles nichts zu tun. Auch nicht mit einem „kulturellen Rabatt“ bei Integrationsdefiziten – aber das gilt für beide Seiten, für diejenigen, die schon da sind, wie für die Zugewanderten. Integration ist keine Bringschuld nur der einen Seite, sondern ein wechselseitiger Prozess der Annäherung, der Anerkennung und des Austauschs. Eine eigene Kultur des demokratischen Miteinanders ist dafür erforderlich, die sich erst herausbilden muss und an der alle beteiligt werden sollten. Vor allem ist die Erkenntnis gemeinsamer Interessen notwendig, um die ethnischen Unterschiede zu relativieren.

Wenn die Parteien, die dazu in der Lage wären, dies zu fördern, nicht mehr ausreichend ihrer Pflicht zur Aufklärung und politischen Willensbildung nachkommen wollen oder können, dann sollten mündige Bürgerinnen und Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen. Die spontanen Initiativen der „Willkommenskultur“, die Ansätze von Selbsthilfe und Selbstorganisation in manchen Bereichen der Gesellschaft, auch die vielfältigen Aktionen gegen TTIP und CETA zeigen, wie es geht.

Die nach Europa kommenden Flüchtlinge sind nur ein Indiz dafür, dass eine Weltgesellschaft im Werden ist. „Wir sind alle Menschen und haben nur die eine Erde“ – dieser Gedanke wird sich in Zukunft immer mehr durchsetzen, weil er realistisch ist. Das kann nicht die Aufhebung aller Grenzen bedeuten, solange es noch Nationalstaaten als Organisationsform gibt. Aber ein sich Verschanzen hinter nationalen Zäunen und Mauern oder ein weiterer Ausbau der „Festung Europa“ werden weder die Probleme lösen noch auf längere Sicht Bestand haben können. Ebenso ein sich vom Elend der Welt abschotten wollendes Leben auf Wohlstandsinseln.

Es kommt auf uns selbst an, wie sich die Bundesrepublik in den nächsten Jahren entwickelt, ob es eine Wendung nach rechts geben wird oder ob sich eine Politikwende gegen die noch immer ungebrochene neoliberale Hegemonie und ihre fatalen Folgen durchsetzen lässt.

Zum Autor:

Reiner Diederich war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Er ist Vorsitzender der KunstGesellschaft e.V.