Spardiktat – Belgien vor einer Linkswende?

Unbeeindruckt von schlechten Umfragewerten, den Spaltungstendenzen der flämischen Nationaldemokraten (N-VA) und der vierten Massendemonstration der Gewerkschaften Anfang Oktober hat sich die belgische Bundesregierung von Liberalen und flämischen Rechtsparteien auf einen Haushaltsentwurf verständigt, der den Vereinbarungen des Europäischen Fiskalpakts entspricht.

Im Sommer war bekannt geworden, dass das laufende Haushaltsloch mit 4,2 Mrd. Euro doppelt so hoch ausfallen würde als geplant. Das Ansehen der Regierung schwindet. Zur Überraschung der offiziellen Politik gewinnen Parolen wie »Lasst die Reichen bezahlen!«, »Hört auf die Stimme der Straße!« verstärkt Gehör. Und in den Umfragen wird die ehemals links-sektiererische PTB (Belgische Partei der Arbeit) in den Bundesstaaten Wallonie und Brüssel drittstärkste Kraft vor den Grünen und den Christdemokraten. Sie liegt damit deutlich über ihrem Wahlergebnis von 2014.

Umfrage Wallonie vom September 2016

Die 16 bzw. über 11%, die die PTB jetzt erreicht, gelten in der beunruhigten bürgerlichen Presse als »keinesfalls konjunkturell«. Die PTB sei durchaus, wie bei der Schließung des Produktionsstandorts des Nutzfahrzeugherstellers Caterpillar, in der Lage, Forderungen zu entwickeln, die selbst von der liberalen Mouvement Réformateur (MR – »Reformbewegung«) aufgegriffen werden, die in der Wallonie größte Oppositionspartei und an der Bundesregierung beteiligt ist. Aber an eine Regierungsbeteiligung denkt man seitens der PTB erst in 10 oder 15 Jahren.

Die Regierungsparteien, allen voran die N-VA, verlieren: von den 150 Sitzen des Bundesparlaments erhielten sie nach den Wahlen 2014 83 Sitze, nach der jüngsten Umfrage sind es nur noch 72. Aber auch eine Mitte-Links-Regierung unter Austausch der Nationaldemokraten durch die sozialdemokratischen Parteien beider Sprachgruppen fände keine Mehrheit. In der Region Brüssel sackten die Sozialdemokraten von ihrem Wahlergebnis (24,9%) auf 17,7% in der Mai-Umfrage und nun auf 15,5%. Die Rechtspopulisten bleiben eine Marginalie. In der Wallonie sacken die Sozialdemokraten ebenfalls deutlich gegenüber dem Wahlergebnis ab, während die drei rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Parteien in der Summe von 8,1 auf 12,7% zulegen.

Wenn jetzt ein neues belgisches Bundesparlament gewählt würde, dann würden in Flandern die drei flämischen Mehrheitsparteien CD&V (Christdemokraten), N-VA (Nationaldemokraten) und Open VLD (Liberale) gegenüber dem Wahlresultat der letzten Parlamentswahlen 8,3% ihrer Stimmen verlieren. Davon profitieren die oppositionellen Grünen und flämischen Sozialdemokraten (SP.A), die jetzt bei 15,8% liegen. Der neue »Linkskurs« von SP.A-Parteichef John Crombez scheint sich nach Meinung belgischer Kommentatoren zu lohnen, auch wenn seine Partei in einigen Skandalen in Misskredit geraten ist (die Banken-Pleite von Optima in Gent und parteiinterne Streitigkeiten in Hasselt). Die Rechtsextremisten vom Vlaams Belang (8,1%), aber auch das flandrische Pendant der PTB können ihren Anstieg gegenüber den Parlamentswahlen demgegenüber nicht weiter ausbauen.

Umfrage Flandern vom Oktober 2016


Unbeeindruckt von diesen Kräfteverschiebungen setzt die belgische Regierung ihren Austeritätskurs fort. Der EU-Kommissar Pierre Moscovici hatte noch einmal drohend darauf hingewiesen, dass die Kommission sowohl im Frühjahr 2015 als auch im Mai 2016 auf die Eröffnung eines Defizitverfahrens verzichtet hatte. Dennoch müsse die Gesamtschuldenlast im Verhältnis zum BIP zurückgehen, die Neuverschuldung habe wieder unter 3% des BIP zu sinken und das strukturelle Defizit müsse auf 0,6% gebracht werden.

Die Schuldentragfähigkeit, also das Bedienen von Eigentumstitel an Finanzkapital, stellt also die höhere Priorität gegenüber den Problemen der belgischen Realwirtschaft dar, die gerade erst mit dem Verlust von 2.200 Arbeitsplätzen durch die Schließung des Produktionsstandorts des Nutzfahrzeugherstellers Caterpillar deutlich geworden waren. Die Umstrukturierung der belgisch-niederländischen ING-Bank, deren Direktbanktochter gerade den ehemaligen deutschen Finanzminister Steinbrück mit einem gutdotierten Beratervertrag ausgestattet hat, kostet in Belgien weitere 1.700 Arbeitsplätze.


Sparen, sparen, sparen

Der nun verspätet eingebrachte Haushaltsentwurf ist von diesem Motiv der Austerität geprägt. Man hält am Ziel eines ausgeglichenen Haushalts 2018 fest. Er war vor allem in seinen sozialen Inhalten umstritten: Arbeitslosenunterstützung, Gesundheitskosten und weitere »Arbeitsmarktreformen«. Der Haushaltskompromiss läuft auf 70% Sparen, 30% Mehreinnahmen hinaus. Rund ein Viertel des Haushaltslochs wird aus »Rücklagen« gestopft, die es im Haushaltsrecht eines verschuldeten Landes eigentlich nicht geben kann.

Am drastischsten sind die strukturellen Eingriffe in das komplizierte System der Lohnfindung. Weil Arbeitgeber und Gewerkschaften sich nicht einigen konnten, will nun die Regierung selbst Entscheidungen treffen. Sie will in Zukunft Nachtarbeit im Online-Handel, dem so genannten E-Commerce, zulassen. Auch die 38-Stunden Woche wird trotz energischer Gewerkschaftsproteste in Zukunft flexibler gestaltet. Bei Tarifverhandlungen muss in Zukunft das sogenannte Lohnhandicap berücksichtigt werden: Belgische Löhne dürfen nicht schneller steigen als die Löhne in den Nachbarländern.

Dafür sollen die besonders stark gestiegenen Energiekosten (die Regierung hatte die Stromsteuern drastisch erhöht) und andere »einfache Produkte« aus dem Warenkorb gestrichen werden, die in die Berechnung des Preissteigerungsindex einfließen, an den die Lohnsteigerung geknüpft ist. Man kann nicht glauben, dass die Haushaltsbeschlüsse ohne Folgen für die Kaufkraft bleiben, wie dies der Ministerpräsident versicherte.

100 Mio. Euro soll eine Mineralölsteuererhöhung für Dienstwagen erbringen. Unklar sind die Kostensenkungen und Stellenabbauzahlen für die Reform des Öffentlichen Dienstes. Die Gesundheitskosten werden um 900 Mio. Euro gesenkt durch die Abschaffung der Indexbindung der ärztlichen Honorare, die Senkung der Kostenerstattung auf Antibiotika und die Zuschüsse beim Krankenhausbau. Einige Sonderregelungen in der Altersversorgung der Soldaten und der Lokomotivführer treffen ebenfalls die Lohnabhängigen. Ihr Renteneintrittsalter wird erhöht. Auch einige Rentenvergünstigungen für Polizisten, Bahnmitarbeiter und Lehrer werden abgeschafft.

Zu den Problemen, die gelöst werden mussten, gehörte vor allem das Arbeitslosengeld. Die flämische liberale Open VLD fordert eine zügigere Reduzierung dieser Hilfen, doch die flämischen Christdemokraten von der CD&V sehen keinen Nutzen in dieser Maßnahme, nachdem bereits 2014 zu diesem Mittel gegriffen worden war. Damit konnten sie sich schließlich durchsetzen.

Die Christdemokraten konnten sich wiederum mit ihrer Forderung nach einer Steuer auf Börsen-Veräußerungsgewinne nicht durchsetzen. Der N-VA-Finanzminister Overtveldt wiederum scheiterte mit der Forderung nach Reform, sprich Senkung der Körperschaftssteuer von 34 auf 20%. Man einigte sich hingegen darauf, die Quellensteuer auf Dividenden und Obligationen von 27 auf 30% zu erhöhen.

Dieser Doppelhaushalt ist ein Schönwetterhaushalt, der dem neoliberalen Kurs folgt, dem sich die europäischen Regierungschefs unter dem Druck der deutschen Kanzlerin und ihres Finanzministers immer noch verpflichtet fühlen. Die zähen Aushandlungsstrukturen werden zwar den »kleinen Mann« hart treffen, aber zu keiner wirklichen Sanierung des Haushalts führen. Und schon gar nicht wird die Infrastruktur des Gemeinwesens wieder auf Vordermann gebracht. Der Anstieg der Zustimmung für die linke PTB ist eine instinktive Abwehrreaktion wie auch die hohen Teilnahmezahlen bei den Gewerkschaftsdemonstrationen.

Von einem vergleichsweise kleinen Land wie Belgien kann aber nicht erwartet werden, die international etablierten Mechanismen der Haushaltskürzungen, des Steuerwettbewerbs und der Arbeitsmarktflexibilisierung zu durchbrechen. Die Chance einer anderen Auslegung und Handhabung der europäischen Verträge wird es erst mit der Ablösung der deutschen hegemonialen Position, also einem Politikwechsel in Deutschland und in Frankreich, geben können.

Austrittsdiskussionen gibt es in Belgien gleichwohl nicht, allerdings die unsägliche »Staatsreform«-Debatte über die weitere Separierung der Bundesstaaten. Der Beschluss des wallonischen Parlaments gegen CETA ist die späte Rache für die vermeintliche List der belgischen Separatisten, den Umweg über das vermeintlich randständige Thema der außenpolitischen Autonomie für die Teilstaaten gewählt zu haben, um das Land zu spalten.

Das Votum der kleinen Region gegen CETA zeigt einmal mehr, dass die EU nur so stark ist, wie die Kräfteverhältnisse in den einzelnen Nationen es zulassen. In der Ablehnung der Freihandelsverträge mit Kanada wird erkennbar, dass die Glaubensbekenntnisse des Neoliberalismus auch in der sozialdemokratischen Mehrheit des wallonischen Teilstaats kein Vertrauen mehr genießen. Die FAZ v. 19.10. zeigt sich irritiert: »Eine Region übt de facto ein Veto aus … irgendwie verabschiedet sich Europa aus dem Kreis derer, mit denen Dritte auf seriöse und verlässliche Weise Handelsabkommen schließen können.« Die deutsche Bundesregierung wird versuchen, dass auch in diesem Fall die demokratische Willensbildung suspendiert wird.