»Gedankenfreiheit existiert nicht mehr« (Orhan Pamuk)

Türkei – Hexenjagd gegen Schriftsteller, Journalisten und Akademiker

»Hinter Steinen, Beton und Stacheldraht rufe ich – wie aus einem Brunnenschacht – zu euch: Hier in meinem Land lässt man mit einer unvorstellbaren Rohheit das Gewissen verkommen. Dabei wird gewohnheitsmäßig und wie blind versucht, die Wahrheit zu töten.«

Mit diesen Worten klagte die türkische Schriftstellerin und Journalistin Asli Erdoğan [1] im Herbst 2016 aus dem Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy heraus das Autokratenregime der AKP und dessen Cäsaren Recep Tayyip Erdoğan an. Den gescheiterten Militärputsch am 15. Juli 2016 instrumentalisierte der Staatspräsident von Beginn des darauffolgenden Tages an für sein Projekt des Umbaus der einst säkularen Türkei in einen islamischen Führerstaat: ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Ideologie und ein Führer. Der Rechtsstaat wird durch eine Hörigkeit erzwingende Willkürherrschaft ersetzt, Gewaltenteilung aufgehoben, Meinungsfreiheit hinter Gefängnismauern eingesperrt. Wer sich widersetzt, gilt als Vaterlandsverräter, wird wahlweise der Gülenbewegung oder der PKK zugeordnet.

 

Repression geht unvermindert weiter

Die Repression in der Türkei geht nach Erdogans knappem Sieg beim Verfassungsreferendum unvermindert weiter. Demokraten, Gewerkschafter, die klügsten Denker und Autoren des Landes sind Opfer staatlicher Gewaltherrschaft. Mit politisch motivierten Prozessen sollen sie zum Schweigen gebracht werden. Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk empört sich: »Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr«. Die Türkei transformiere sich mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat in ein Terrorregime.

»Mittlerweile braucht man in dem Land, in dem derzeit 161 (Journalisten-)Kollegen inhaftiert sind, nicht einmal mehr eine Meldung zu schreiben, um hinter Gitter zu kommen«, schreibt Bülent Mumay in der FAZ (17.6.2017). Es genügt das Malen eines Bildes. So verurteilte ein Gericht die Journalistin Zehra Dogan zu drei Jahren Haft, weil sie ein Ölgemälde nach einem Foto angefertigt hatte. Es zeigt die Zerstörung der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt Nusaybin durch staatliche Sicherheitskräfte und Militär.

Der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan steht gemeinsam mit seinem Bruder Mehmet und der Journalistin Nazli Ilicak wegen angeblicher Unterstützung des Putsches vor Gericht. Sein ausführliches Plädoyer hat der »Tagesspiegel« dokumentiert (26.6.2017): »Was wirft mir die Staatsanwaltschaft vor? Abgesehen von einigen Zeitungsartikeln, die ich geschrieben habe, und einem einzigen Fernsehauftritt, basiert der Putschvorwurf gegen mich auf folgendem Satz: Ich würde Leute kennen, die angeblich Leute kennen, die angeblich den Putsch vom 15. Juli 2016 begangen haben.« [2] Seine Analyse: Erdoğans Autokratenregime treibt die Türkei in den Ruin.

»Dieses Land wird mit einer wirtschaftlichen Katastrophe dafür bezahlen, dass es sich von den europäischen Werten distanziert. Die Arbeitslosigkeit, die Inflation, die Hilflosigkeit und das Hungern werden nur schlimmer werden. Kann eine Regierung unter solchen Bedingungen an der Macht bleiben? Es wird sich zeigen, dass sie das nicht tun wird, dass sie das nicht kann. Uns zu inhaftieren und Anklagen voller Lügen zu verfassen, wird nicht reichen, um diese Regierung zu retten.«

In dieser Situation haben sich einige zu drastischen Widerstandsaktionen entschlossen. Seit über 100 Tagen protestieren Nuriye Gülmen und Semih Özakca mit einem Hungerstreik gegen ihre Entlassung aus dem Staatsdienst vor dem Menschenrechtsdenkmal in Ankara. Ende Mai wurden beide wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verhaftet und, obwohl körperlich stark geschwächt und dem Tode nah, eingekerkert. Der Staatsanwalt, der die Festnahmen angeordnet hat, wirft den beiden, die nur ihre Arbeitsplätze zurückhaben wollen, vor, »einen Aufstand wie die Gezi-Proteste anzetteln zu wollen«.

 

Lebenslange Berufsverbote

Die Universitätsdozentin Gülmen und der Grundschullehrer Özakça sind zwei von mehr als 138.000 Staatsbediensteten, die per Notstandsdekret entlassen wurden, darunter über 30.0000 LehrerInnen, 8.000 WissenschaftlerInnen, viele einfache Beamte und Angestellte. Ihnen werden Verbindungen zu den Putschisten oder »Terrorpropaganda« unterstellt. Entlassene werden nicht nur mit einem lebenslangen Berufsverbot im Staatsdienst belegt, sondern de facto mit einem Berufsverbot. Ihre Namen werden im staatlichen Amtsblatt der Türkei veröffentlicht. Der Rechtsweg, um sich gegen Entlassungen zu wehren, bleibt den Betroffenen aufgrund des Ausnahmezustandes verwehrt. Sie bekommen kein Gehalt mehr und ihre Anträge auf Arbeitslosengeld werden ohne Begründung abgelehnt. Sie leben von Spenden, eventuell von der Unterstützung ihrer Gewerkschaft. Ihre Reisepässe sind ungültig, der Weg, die Türkei legal zu verlassen, ist versperrt.

Diejenigen, die es noch geschafft haben, über die Grenze zu kommen, haben in ganz Europa Unterschlupf gesucht. Nach Deutschland sind mehr als hundert türkisch-stämmige AkademikerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, PolitikerInnen und Gezi-AktivistInnen geflohen. Zu ihnen gehört die Lehrerin und Frauensekretärin einer linken Bildungsgewerkschaft, Sakine Esen Yilmaz. Die Kurdin und Alewitin wurde in der Türkei mehrmals festgenommen, saß 15 Monate in Untersuchungshaft; in den Verfahren, die gegen sie laufen, drohen ihr 22 Jahre Gefängnis. Ihr Verbrechen: Sie setzt sich für ein modernes, demokratisches Bildungssystem ein. Seit ihrer Flucht im vergangenen September informiert sie in Deutschland über die Situation ihrer KollegInnen in der Türkei. Darin wird sie von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt (SZ, 22.5.2017).

Für Kader Konuk, Professorin und Leiterin des Instituts für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen, steht fest: »Der Putschversuch hat der Regierung den Anlass für einen Generalangriff auf Bildung und akademische Freiheit geliefert.« Die AKP-Regierung nutze den Ausnahmezustand, um die Universitäten unter ihre Kontrolle zu bringen, d.h. gleichzuschalten. 15 Universitäten wurden geschlossen und 5.000 Hochschulmitarbeiter haben ihre Arbeit verloren. Gleichzeitig wird der Lehrplan schrittweise islamisiert. So soll Darwins Evolutionstheorie wie vieles andere ab 2019 aus den türkischen Lehrbüchern verschwinden. »Eine erwiesene Theorie aus den Lehrplänen zu entfernen heißt, Wissen und Wissenschaft zu missachten. Die AKP-Regierung ersetzt sie mit einem Programm, das Scharia-Prinzipien enthält«, empört sich der oppositionelle CHP-Abgeordnete für Istanbul, Baris Yarkadas.

 

Verhöre, Verhaftungen, Suspendierungen

Die Repressionswelle hatte bereits vor dem 15. Juli 2016 begonnen. Dies bekamen vor allem die WissenschaftlerInnen zu spüren, die im Januar den Friedensaufruf »Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein« unterzeichneten. Die »Academics for Peace« riefen zu einem Ende des »Massakers« an der kurdischen Bevölkerung in der Südosttürkei auf. In der Petition wurde das brutale Vorgehen des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes kritisiert. Ihr Aufschrei brachte ihnen den Vorwurf ein, »Terrorpropaganda« zu betreiben und Unterstützer der militanten kurdischen PKK zu sein. Der »Tausend-Zimmer-Palast-Autokrat« Erdoğan verunglimpfte sie als »Pseudowissenschaftler« und »Landesverräter«. Unterwürfig forderte der Hochschulrat YÖK die Gremien der Universitäten und Institute auf, gegen die UnterzeichnerInnen zu ermitteln. Es folgten Verhöre, Verhaftungen und Suspendierungen.

Die Reaktion auf die Friedenspetition hängt auch damit zusammen, dass die Kurdenfrage in der Vergangenheit an den türkischen Hochschulen immer ein Tabuthema war. Mit der »kurdischen Öffnung« und den Friedensverhandlungen von 2009 schien sich an den Hochschulen und in der Gesellschaft ein Wandel zu vollziehen. Es begann eine offene und öffentliche Debatte über die staatliche Assimilationspolitik. Kritische HochschullehrerInnen nahmen das Thema in ihre Lehrpläne auf und organisierten akademische Konferenzen und Seminare. Diese liberale Atmosphäre wandelte sich nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste in Istanbul 2013 und endete abrupt nach den Wahlen im Juni 2015, als es allen Provokationen zum Trotz der Demokratischen Partei der Völker (HDP) gelang, die zehnprozentige Sperrhürde zu überwinden und mit 80 Sitzen (13,2%) ins Parlament einzuziehen, während die regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die sicher geglaubte absolute Mehrheit verlor.

Den türkischen Wissenschaftler Melih Kirlidoğ, ein Unterzeichner der Petition und Experte für Überwachung und Zensur im Netz, der bereits vor einem Jahr seine Professur an der Nisantasi Universität in Istanbul verlor und heute als Gastwissenschaftler am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin forscht, erinnert die Atmosphäre in der Türkei »an die Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 in Deutschland«. Den Beleg dafür lieferte Erdogan mit der aktuellen Erklärung: »Wenn es Leute gibt, die nach Verbüßung ihrer Strafe rauskommen, wird unsere Nation sie draußen so bestrafen, wie sie es verdient haben.« Ein unverhohlener Aufruf zum Terror gegen Widersacher. Selbst Despoten wissen: Die Wahrheit kann man nicht töten, also ermordet man die Multiplikatoren.

 

[1] Aslı Erdoğan ist studierte Informatikerin und Physikerin, sie hat am europäischen Kernforschungsprojekt Cern gearbeitet und in Rio de Janeiro geforscht. Mitte der 1990er Jahre erschienen ihre ersten Romane, ins Deutsche übersetzt sind »Der wundersame Mandarin« und »Die Stadt mit der roten Pelerine« sowie der Erzählband »Holzvögel«. Sie verfasste Kolumnen und fasste Themen an, die publizistische Minenfelder waren: Folter, Gewalt gegen Frauen, staatliche Repression. Sie wurde zur Fürsprecherin der kurdischen Minderheit, obwohl sie selbst keine Kurdin ist. 2016 wurde sie verhaftet und musste viereinhalb Monate trotz großer gesundheitlicher Probleme in Untersuchungshaft bleiben. Bis zum Gerichtsprozess im November 2017 wurde die 50-Jährige freigelassen. Inzwischen hat die türkische Justiz die Ausreisesperre gegen sie aufgehoben.
[2] Ahmet Altan: »Uns zu inhaftieren, rettet die Regierung nicht«, www.tagesspiegel.de/politik/tuerkischer-schriftsteller-ahmet-altan-uns-zu-inhaftieren-rettet-die-regierung-nicht/19976696.html