Luftnummer. Notwendiger Nachtrag

Am 4. April soll es in dem syrischen Ort Khan Sheikhoun zu einem Angriff mit dem Nervengas Sarin gekommen sein. Der Schuldige war für den Westen, die deutschen Leitmedien inbegriffen, sofort Syriens Diktator Assad. Beweise dafür wie auch für die Annahme, dass es sich um Sarin gehandelt habe, lagen seinerzeit nicht vor und wurden bisher auch nicht nachgereicht. Die Frage, welches rationale Ziel der syrische Machthaber mit einer solchen Barbarei verfolgt haben könnte, wurde gar nicht erst gestellt. Trotzdem feuerten drei Tage später auf Befehl des US-Präsidenten zwei US-Zerstörer 59 Tomahawk-Marschflugkörper auf die syrische Luftwaffenbasis Al-Schairat ab, von der aus der Angriff vom 4. April geflogen worden sein soll – „zur Vergeltung“. Der militärische Schaden war eher marginal. Allerdings starben nach syrischen Angaben sieben Zivilisten, darunter vier Kinder.
All dies war bereits Gegenstand meines Beitrages „Luftnummer“ in der Blättchen-Ausgabe vom 24. April. Dazu macht sich jetzt ein Nachtrag erforderlich, denn Seymour Hersh hat seine Recherche zu den Hintergründen dieser Vorgänge publiziert.
Hersh, dies zu Erinnerung, hatte 1969 das von US-Streitkräften verübte Massaker in dem südvietnamesischen Dorf My Lai öffentlich gemacht. Er war auch der erste Journalist, der über die US-Folterhölle Abu Ghraib am Rande von Bagdad berichtete. Im Dezember 2013 schließlich hatte Hersh publiziert, dass amerikanische Geheimdienste frühzeitig Kenntnis von den gravierenden Verdachtsmomenten gehabt hätten, dass der Giftgaseinsatz vom 21. August 2013 in der Region Ghuta östlich von Damaskus, der ebenfalls dem Assad-Regime angelastet worden war, eher auf eine Aktion des türkischen Geheimdienstes MIT in Kooperation mit der damaligen dschihadistisch-salafistischen al-Nusra-Front zurückzuführen war.
Hersh zu seiner jetzigen Recherche: „Ich selbst habe eine Reihe von Interviews mit militärischen Beratern und Mitgliedern des Sicherheitsapparates geführt. Daraus wurde deutlich, dass es zwischen dem Präsidenten und vielen seiner militärischen Berater, den Experten der Nachrichtendienste sowie den Offizieren im Kampfgebiet eine tiefe Kluft gibt. Sie alle haben eine vollkommen andere Einschätzung des syrischen Angriffs auf Chan Scheichun als ihr Oberbefehlshaber, Präsident Trump.“ Sein Fazit: Trump hat den Raketenschlag vom 6. April angeordnet, obwohl „die US-amerikanischen Nachrichtendienste den Präsidenten gewarnt [hatten]: Es sei keinesfalls bewiesen, dass Assads Luftwaffe tatsächlich Chemiewaffen eingesetzt hatte.“ Oder mit den Worten eines Informanten von Hersh: „Das war kein Angriff mit chemischen Waffen. Das ist ein Märchen.“
Hersh rekonstruierte, dass beim Angriff der syrischen Luftwaffe auf Khan Sheikhoun am 4. April „offenbar eine hochrangige Zielperson ausgeschaltet werden [sollte]. Dies teilten russische und syrische Nachrichtendienste dem US-Militär in der Region vor dem Angriff deutlich mit. [...] ‚Die Russen gaben der syrischen Luftwaffe eine Lenkbombe – ein Ausnahmefall. Die Russen gehen sparsam mit ihren Lenkbomben um. Und die Syrer betrauten ihren besten Piloten mit der Mission.‘“
Konkret passierte folgendes: „Das Ziel [...] wurde [...] um 6.55 Uhr getroffen [...]. Die 500-Pfund-Bombe löste durch ihre Druck- und Hitzewelle weitere, kleinere Explosionen aus. Dabei entstand eine gewaltige giftige Wolke, die sich über der Stadt ausbreitete. Diese Wolke bestand aus freigesetzten Düngemitteln, Desinfektionsmitteln und anderen Stoffen, die im Keller (des Zielgebäudes – S.) gelagert worden waren. Dies geht aus einem Befund des US-Militärs hervor, einem sogenannten Battle Damage Assessment (BDA). Die Wirkung der Giftwolke wurde durch die dichte Morgenluft, die die Dämpfe nah am Boden hielt, noch verstärkt. Nach Einschätzung der Geheimdienste [...] wurden bei der Explosion bis zu vier Anführer der Dschihadisten getötet sowie eine unbekannte Zahl von Fahrern und Sicherheitskräften. Wie viele Zivilpersonen durch die giftigen Gase umkamen, die offenbar erst durch die Folgeexplosionen freigesetzt wurden, ist unklar.“ Und: „Der US-Geheimdienst stellte klar, dass der Su-24-Jagdbomber der syrischen Luftwaffe eine konventionelle Bombe benutzt hatte, um sein Ziel zu treffen. Ein chemischer Gefechtskopf war nicht nachweisbar.“
Doch Trump hatte sich auf einen Giftgasangriff Assads festgelegt und war davon nicht mehr abzubringen. Einer von Hershs-Interviewpartnern: „Jeder, der ihm nahesteht, weiß um seine Neigung zu überstürztem Handeln, wenn er die Tatsachen nicht kennt [...] Er liest nichts und hat kaum Geschichtskenntnisse. Er verlangt mündliche Briefings und Fotos. Er ist ein Hasardeur. [...] Ihm wurde gesagt, dass wir keine Beweise für einen syrischen Einsatz von Chemiewaffen hätten, und trotzdem sagte Trump: ‚Tut es.‘“
Vier Reaktionsoptionen seien Trump unterbreitet worden: „Vorschlag eins war, gar nichts zu machen. [...] Vorschlag zwei war ein Klaps auf die Finger mit einem Bombenangriff auf einen Flugplatz, aber erst, nachdem man die Russen und dadurch die Syrer informiert hatte, um zu viele Tote zu vermeiden. Ein paar der Planer bezeichneten diesen Vorschlag als ‚Gorilla-Option‘: Amerika konnte drohen und sich auf die Brust trommeln, Angst verbreiten und Entschlossenheit demonstrieren. Große Schäden würde dieser Schlag aber nicht verursachen. Die dritte Option [...] sah eine massive Bombardierung der wichtigsten syrischen Luftwaffenstützpunkte und der Kommando- und Kontrollzentralen durch B-1- und B-52-Bomber vor, die von ihren Stützpunkten in Amerika aus starten würden. Option vier war die ‚Enthauptung‘: Sie sah vor, Assad und seine Kommandozentralen durch die Bombardierung seines Palasts in Damaskus und aller möglichen Untergrundbunker zu beseitigen, in die er sich in der Not zurückziehen könnte.“
Während der Diskussion, so Hersh, sei es zu „bizarren Situationen“ gekommen. „Tillerson (der US-Außenminister – S.) fragte, warum der Präsident nicht einfach alle B-52-Bomber zusammenrufen und den Luftwaffenstützpunkt pulverisieren würde. Ihm wurde erklärt, dass die B-52-Bomber durch Boden-Luft-Raketen (surface-to-air missiles – SAM) gefährdet seien und für ihren Einsatz Feuerschutz benötigten. ‚Was bedeutet das?‘, habe Tillerson gefragt. Nun, Sir, sei ihm gesagt worden, ‚das bedeutet, dass wir die modernisierten SAM-Stützpunkte entlang der Flugroute der B-52er zerstören müssten. Die sind mit russischen Soldaten bemannt, und dann stünden wir vermutlich einer wesentlich schwierigeren Situation gegenüber.‘“
Trump entschied sich schließlich, den Gorilla zu geben. Hersh zu den Folgen des „Vergeltungsschlages“: „Der Angriff war so erfolgreich wie erhofft – zumindest was das Ziel anging, möglichst wenig Schaden anzurichten. Die Raketen waren mit verhältnismäßig wenig Sprengstoff ausgestattet [...].“ Die Zerstörung der Benzinlager des Flugfelds „lösten riesige Feuer- und Rauchwolken aus, die die Lenksysteme der später ankommenden Raketen störten. 24 [...] verfehlten ihr Ziel. Nur ein paar Raketen brachen tatsächlich in die Hangars ein und zerstörten neun syrische Flugzeuge, deutlich weniger als von der Trump-Regierung angegeben. [...] Das wichtigste Personal und fast alle Einsatzflugzeuge waren bereits Stunden vor dem Angriff zu benachbarten Stützpunkten geflogen worden. Die beschädigten Landebahnen und Parkplätze für die Flugzeuge wurden nach dem Angriff innerhalb von acht Stunden repariert und konnten wieder in Betrieb genommen werden. Alles in allem war es kaum mehr als ein ziemlich teures Feuerwerk.“
Dass Hershs jetzige Enthüllungen überhaupt erscheinen konnten, ist übrigens ausgerechnet einem Springer-Blatt zu danken, der Welt am Sonntag. An deren Herausgeber Stefan Aust hatte Hersh sich gewandt, weil der London Review of Books die Courage zu einer Veröffentlichung fehlte. Die WamS – ihr sind alle obigen Zitate entnommen – brachte Hershs Recherche am 25. Juni.
Ohne nachhaltiges Echo in anderen Leitmedien.
Als Argument, warum Hersh so wenig ernst genommen wird, ist immer wieder der Hinweis zu lesen, der Amerikaner zitiere zu viele anonyme Quellen. Dazu äußerte Dirk Laabs in einem Begleittext zu dem WamS-Abdruck: „[...] das ist die Crux: Kein Informant, der aktiv in einer Regierung arbeitet, kann [...] unter seinem Namen geheime Informationen preisgeben, ohne sich zu gefährden – das ist in Deutschland nicht anders. Hersh hat seine Quellen gegenüber der WELT AM SONNTAG offengelegt. In seinem Text bleiben sie anonym. Die Redaktion dieser Zeitung konnte sich selbst einen Eindruck vom Thema verschaffen, weil sie mit der zentralen Quelle von Hersh gesprochen hat.“