Die russische Revolution und wir

Josep Fontana

Die russische Revolution und wir[1]

 

Um 1890 hatten die in der Zweiten Internationale organisierten sozialistischen Parteien die revolutionäre Hoffnung aufgegeben und einen reformistischen Weg eingeschlagen, der sie in die bürgerlichen Parlamente führen sollte, wobei sie darauf vertrauten, eines Tages durch Wahlen zur Macht zu gelangen und auf diesem Wege die Gesellschaft verändern zu können. Die sozialistischen Parteien in Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich – hier trug sie noch den Namen >Französische Sektion der Arbeiter-Internationale< (SFIO) – oder der britische Labourismus sprachen sich für eine reformistische Politik aus, auch wenn sie die revolutionäre Rhetorik des Marxismus beibehielten, um ihre Gefolgsleute unter den Arbeitern nicht zu verunsichern, die weiterhin glauben sollten, dass ihre Parteien für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft kämpften.

Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Praxis spitzte sich mit dem Herannahen des Großen Krieges zu. Der Internationale Sozialisten-Kongress in Basel verkündete 1912, >die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen [… sind] verpflichtet, […] alles aufzubieten, um […] den Ausbruch des Krieges zu verhindern< und, falls er doch ausbrechen sollte, >für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen<. Der Kongress stellte außerdem >mit Genugtuung< die >vollständige Einmütigkeit der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften aller Länder im Kriege gegen den Krieg< fest und forderte >die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen< (Manifest 1912).

Doch am Abend des 4. August 1914 sprachen sich sowohl die deutschen Sozialisten, die wenige Wochen zuvor noch gegen den Krieg demonstriert hatten, als auch die französischen in ihren jeweiligen Parlamenten begeistert für die Kriegserklärung aus und stimmten für die Kredite, um ihn in Gang zu setzen. Die SPD nahm darüber hinaus eine Politik des Burgfriedens in Kauf, mit der Verpflichtung, jegliche Kritik an der Regierung zu unterlassen und die Arbeiter aufzufordern, für die Dauer des Krieges keine Streiks zu organisieren. Die britische Labourpartei sprach sich nicht nur für den Krieg aus, sondern trat einer Koalitionsregierung bei.

In Russland lagen die Dinge anders, denn die Sozialdemokratische Partei, gespalten in Menschewiki und Bolschewiki, war nicht nur nicht im Parlament vertreten, sondern wurde von der Polizei verfolgt. Anfang 1917 waren einige der Führer der Bolschewiki, wie Stalin und Kamenew, als Verbannte in Sibirien, während andere, wie Lenin, im Exil in Zürich lebten, Trotzki hingegen befand sich damals in New York. Als im Februar 1917 die Revolution in Petrograd begann, geschah dies ohne die Führer der revolutionären Parteien, in einer Bewegung der Doppelherrschaft – einerseits der Arbeiter- und Soldatenräte, andererseits des Provisorischen Komitees des Parlaments. Man war sich einig, eine provisorische Regierung einzusetzen und die Entscheidung über die politische Zukunft auf die allgemeinen Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung im November zu vertagen.

Als die provisorische Regierung am 3. März eine Amnestie >für sämtliche politischen und religiösen Straftaten< beschloss, >einschließlich terroristischer Akte, Gehorsamsverweigerung im Militär oder Agrarverbrechen<, kehrten Stalin und Kamenew aus Sibirien zurück und übernahmen die Leitung der Prawda, der Zeitung der Bolschewiki, in der sie das Programm zur Fortsetzung des Krieges und zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung – in Übereinstimmung mit der Mehrheit der politischen Kräfte in Russland – verteidigten. Anfang April kam Lenin aus der Schweiz zurück. Seine Reise war durch die deutsche Regierung möglich geworden, die sich davon den Austritt Russlands aus dem Krieg erhoffte. Sie erlaubte die Durchreise bis zur Ostsee, um von dort nach Schweden und Finnland und schließlich, in einem anderen Zug, nach Petrograd zu gelangen. Um das Verhalten der Deutschen zu verstehen, ist daran zu erinnern, dass die ersten Monate des Jahres 1917 von der Krise mit den USA geprägt waren, die zur Kriegserklärung am 6. April führte. Die Deutschen hatten ihm die Reise angeraten, wobei Lenin Bedingungen stellte, bevor er zustimmte. So sollten die Eisenbahnwaggons, die ihn zusammen mit etwa dreißig anderen russischen Emigranten durch Deutschland bringen sollten, einen extraterritorialen Status erhalten. Trotzki hingegen wurde bei seiner Rückreise von den Briten festgesetzt und kam erst einen Monat später nach Petrograd.

Beim Empfang, den ihm die Bolschewiki am 3. April am Finnischen Bahnhof bereiteten, sagte Lenin, auf der Plattform des Waggons stehend: >Das Volk braucht Frieden, das Volk braucht Brot, das Volk braucht Land. Stattdessen bekommt es den Krieg, Hunger anstelle von Brot, und das Land bleibt in den Händen der Grundbesitzer. Wir müssen für die soziale Revolution kämpfen, bis zum Schluss, bis zum vollständigen Sieg des Proletariats.< #Beleg# Und er fügte noch hinzu: >Dieser Krieg zwischen imperialistischen Freibeutern ist der Anfang eines Bürgerkriegs in ganz Europa. Sehr bald schon wird der Kapitalismus in Europa zusammenbrechen. Die russische Revolution, die ihr begonnen habt, hat den Weg bereitet, und eine neue Epoche hat begonnen. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!< Diese Rede kam bei den am Bahnhof versammelten Bolschewiki nicht gut an, und sie fand zunächst auch keine Mehrheit bei Abstimmungen der Parteiorgane. Sie hatten sich an den Gedanken einer bürgerlich-demokratischen Revolution als der ersten Etappe eines langen Weges zum Sozialismus – die Auffassung der europäischen sozialdemokratischen Parteien – gewöhnt, so dass ihnen ein Schritt darüber hinaus als ein zum Scheitern verurteiltes Abenteuer erschien.

Lenins Vorhaben beschränkte sich nicht auf die Parole >Frieden, Land, Brot<; es ging nicht nur um ein Programm zur sofortigen Beendigung des Krieges um jeden Preis und um die Verteilung des Landes an die Bauern. Mit ihm verband sich eine sehr viel radikalere Problemstellung. Angesichts der seit Februar erreichten Fortschritte mit den Sowjets als Organen der Machtausübung kam er zu der Auffassung, dass die Option für eine bürgerlich-parlamentarische Republik überholt sei und man sofort zu einem System übergehen müsse, in dem alle Macht in den Händen der Sowjets läge. Diese müssten dafür sorgen, dass die Machtmechanismen des Staates – Polizei, Armee, Bürokratie … – abgeschafft und so der Weg zu deren Absterben, einschließlich des Verschwindens der Klassengesellschaft, frei werde.

Lenin griff auf die Kritik am parlamentarischen Weg zurück, die Marx 1875 in der Kritik des Gothaer Programms formuliert hatte – einem Text, den die deutschen Sozialdemokraten lange Zeit unter Verschluss hielten. Marx verwarf den Gedanken, man könne nur über den >Freien Staat< zum Sozialismus kommen: >Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.< (MEW 19, 28) Wie sollte dieser Übergang sich vollziehen? Das war schwer zu sagen, denn keine sozialistische Partei hatte sich je ernsthaft die Frage gestellt, was sie, an die Macht gelangt, tun würde. Das einzige greifbare Modell war die Pariser Kommune von 1871, deren Leben zu kurz war, als dass sie einige orientierende Regeln hätte hinterlassen können.

Lenins Auffassung lässt sich der 1917 noch vor der Revolution entstandenen Schrift Staat und Revolution entnehmen, in der er die Lügen des bürgerlich-parlamentarischen Regimes anprangert. In ihm trage alles (das Wahlrecht, die Kontrolle der Presse, usw.) dazu bei, eine >Demokratie nur für die Reichen< (LW 25, 476) zu etablieren. Er sah das Absterben des Staates in zwei Phasen voraus, wobei in der ersten der bürgerliche Staat durch einen sozialistischen, auf der Diktatur des Proletariats gründenden Staat ersetzt werde. Die zweite Phase entwickle sich aus dem allmählichen Absterben des Staates und führe zur kommunistischen Gesellschaft. Während dieses Übergangs müssten die Sozialisten die strikte Kontrolle über Arbeit und Konsum aufrechterhalten; eine Kontrolle, die einzig über die Enteignung der Kapitalisten sich verwirklichen lasse, jedoch keineswegs zu einem neuen, bürokratisierten Staat führen solle, weil das Endziel in einer Gesellschaft besteht, in der es weder Klassen noch Staatsmacht gibt.

Es geht hier nicht darum, die einigermaßen bekannte Geschichte zu wiederholen, wie die Bolschewiki an die Macht gekommen sind und wie sie angefangen haben, den Übergang zu einem neuen System zu organisieren. Hingegen möchte ich an den 7. Januar 1918 erinnern, als Lenin sich sicher war, dass nach einer Periode des noch zu überwindenden bürgerlichen Widerstands der Sieg der sozialistischen Revolution eine Sache weniger Monate sein würde. Doch dann kam ein sogenannter >Bürgerkrieg<, in den bis zu dreizehn, die Feinde der Revolution unterstützende Länder verwickelt waren und dessen Kämpfe, Hunger und Krankheiten den neuen Staat der Bolschewiki acht Millionen Tote kostete. Dazu noch die völlige Zerstörung der Wirtschaft. Eine Situation, mit der die Implantierung der neuen Gesellschaft auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden musste.

Mit der Überwindung des Bürgerkriegs nimmt diese Geschichte eine Wende. Lloyd George, der britische Regierungschef, war der erste, dem klar wurde, dass die Vorstellung, das sowjetische Russland zu erobern, um die Revolution zu beenden, nicht nur unzureichend, sondern auch unnütz war. Der Kampf gegen die Revolution veränderte von nun an seinen Charakter, indem er das russische Szenarium hinter sich ließ und weltweite Bedeutung erlangte. Der Einfluss, den die von der sowjetischen Revolution inspirierten Ideen auf die verschiedenen Gruppen und Bewegungen ausübten, die sie zum Vorbild für ihre Kampfe nahmen, musste auf universeller Stufenleiter bekämpft werden.

Der Feind, den man nunmehr unter dem Namen des Kommunismus bekämpfte, war nicht der Sowjetstaat, waren auch nicht die kommunistischen Parteien der Dritten Internationale, die bis in die 1930er Jahre kleine sektiererische Gruppen von geringem Einfluss bleiben sollten. Der Feind war riesig, unbestimmt und allgegenwärtig, hervorgegangen nicht aus der Beobachtung der Wirklichkeit, sondern den obsessiven Ängsten der Politiker, für die der Kommunismus hinter jedem Streik und jeder Protestaktion lauerte. Wie im Falle eines Streiks der Hafenarbeiter an der Pazifikküste der USA, der für die Los Angeles Times eine >von den Kommunisten organisierte Revolte zum Sturz der Regierung< war. Sie verlangte folglich das Eingreifen des Heeres, um ihn niederzuschlagen. Solche Beispiele gibt es viele – zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten und in den unterschiedlichsten Kontexten.

Von da an wurde der Kampf gegen die kommunistische Revolution zu einem Kampf, der uns alle anging. Die Zweite Spanische Republik etwa, die sich 1931 in einem internationalen Umfeld formierte, in dem die soziale Unruhe in einem Großteil Europas rechte Diktaturen hervorbrachte, wurde von den Regierungen der Großmächte feindlich aufgenommen. Der Botschafter der USA in Madrid informierte das Außenministerium am 16. April 1931, zwei Tage nach der Proklamation der Republik, mit folgenden Worten: >Das spanische Volk, mit seiner Mentalität aus dem 17. Jahrhundert, das kommunistenfreundlichen Vorspiegelungen auf den Leim geht, sieht plötzlich das Gelobte Land, das es nicht gibt, vor sich. Wenn sich dann die Enttäuschung breit macht, greift es blind nach allem, was sich gerade bietet, und wenn dann die zu nachsichtige Regierung hier keinen Riegel vorschiebt, kann es dem verbreiteten bolschewistischen Einfluss erliegen.<

Es spielte keine Rolle, wie sich alsbald zeigen sollte, dass dem Botschafter nicht einmal die republikanischen Führungsfiguren bekannt waren. In einem Bericht über die Regierung, den er damals nach Washington schickte, heißt es z.B. von Azaña: >Ich finde vonseiten der Botschaft keinerlei Hinweise. Der Militärattaché bezieht sich auf ihn wie auf einen Parteigänger von Alejandro Lerroux. Offenbar ein ^radikaler Republikaner^^.< Er wusste absolut gar nichts über die Republikaner, doch dass sie unter >bolschewistischem Einfluss< standen, darin war er sich sicher. Als es 1936 zum Aufstand des Militärs kam, auf dessen Seite die Deutschen und Italiener mit Soldaten, Waffen und Flugzeugen intervenierten, überließen die europäischen Mächte die spanische Republik ihrem Schicksal – aus Angst vor der kommunistischen Ansteckung, die 1936 jeder Grundlage entbehrte.

Inzwischen lebte der sowjetische Staat, unter der Führung Stalins, mit der Angst vor Angriffen von außen und investierte in die Rüstung, was ihm für die Hebung des Lebensstandards seiner Bürger fehlte. Die schwerwiegendste Folge dieser großen Angst war indes der Absturz in eine zwanghafte Panik vor Verschwörungen im Innern, von denen man glaubte, sie seien bereits am Werk und könnten, im Einklang mit Angriffen von außen, das Ende der Revolution besiegeln. Eine Angst, die verantwortlich war für die über 700 000 Hinrichtungen, zu denen es in der Sowjetunion zwischen 1936 und 1939 kam. Der Befehl 00447 des NKWD vom 30. Juli 1937 >über die Unterdrückung alter Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente< traf vor allem einfache Staatsbürger, Bauern und Arbeiter, die in keinerlei Verschwörung verwickelt waren und keinerlei Gefahr für den Staat darstellten. Auch wenn Stalins Nachfolger niemals wieder in einem solchen Ausmaß auf Terror zurückgriffen, blieb doch die Angst, sich nicht konform zu verhalten, die es sehr schwer machte, Demokratie im Innern zu tolerieren. Man rettete auf diese Weise zwar den sowjetischen Staat, doch geschah es um den Preis, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf der Strecke blieb. Das Programm, mit dem man angetreten war, um die Tyrannei des Staates zu beenden, schlug um in den Aufbau eines Unterdrückungsstaates.

Außerhalb der Sowjetunion, in der übrigen Welt, ermutigten die durchs leninsche Projekt hervorgebrachten Hoffnungen trotz allem die Kämpfe für einen anderen ^Kommunismus^^ und zwangen die Verteidiger der herrschenden Ordnung zur Suche nach neuen Formen, um ihn zu bekämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierte die von den USA angeführte Koalition einen systematischen Kampf gegen den Kommunismus, wie sie ihn verstanden, der sich gegen jegliches Hindernis richten sollte, das der ungehinderten Entwicklung des freien Unternehmertums, vornehmlich des US-amerikanischen, in die Quere kommen könnte. Die Kampagne hatte nun eine doppelte Stoßrichtung. Einerseits wurde eine Fiktion aufrechterhalten, die des Kalten Krieges, der sich als Verteidigung der ^freien Welt^^ – die zu einem Gutteil aus Diktaturen bestand – gegen eine als unvermeidlich präsentierte Aggression der SU darstellte. Alles war Lüge; weder dachten die Sowjets an einen Welteroberungskrieg, denn schon Lenin war klar gewesen, dass die Revolution jeweils von den einzelnen Ländern ausgehen müsse, noch wollten die Vereinigten Staaten die SU präventiv zerstören. Diese beiden Lügen indes genügten den Vereinigten Staaten, um ihre Alliierten bei der Stange (die erste) und die Sowjets in Angst und Sorge um ihre Sicherheit zu halten (die zweite).

>Das Schlimmste, was uns in einem Weltkrieg passieren könnte<, sagte Eisenhower privat, >wäre es, ihn zu gewinnen. Was würden wir mit Russland machen, falls wir gewännen?< Und Ronald Reagan zeigte sich 1983 bass erstaunt, als ihm klar wurde, dass die Russen tatsächlich einen Überraschungsangriff fürchteten. In seinem Tagebuch heißt es: >Wir sollten ihnen sagen, dass hier kein Mensch diese Absicht hat. Wie kommen sie bloß darauf, dass wir das wünschen könnten?< Er war überrascht, dass sie den Trick nicht durchschaut hatten, wie sie ihn 1986, als es zu spät war, durchschauten, als Gorbatschow das Wettrüsten beendete und sagte, >niemand wird uns angreifen, auch wenn wir alle Waffen ablegen<.

Die wirkliche Absicht, die sich mit der zweiten Stoßrichtung verband – die eines globalen Kreuzzugs gegen den Kommunismus –, war der Kampf gegen die Ausbreitung der Ideen, die der Entwicklung des Kapitalismus in die Quere kommen könnte. Das Ziel war nicht die Verteidigung der Demokratie, sondern die des freien Unternehmertums: Mossadegh wurde im Iran nicht beseitigt, weil er eine Gefahr für die Demokratie dargestellt hätte, sondern weil es die Erdölfirmen so wollten; Lumumba wurde nicht ermordet, um die Freiheit der Kongolesen zu verteidigen, sondern die der Konzerne, die die Uranbergwerke von Katanga ausbeuteten, von wo das Mineral kam, mit dem die Hiroshima-Bombe gebaut wurde. Und wenn es weniger um bestimmte und konkrete Interessen ging und mehr um die Freiheit des Unternehmertums im Allgemeinen, dann war, was dabei herauskam, meist noch unheilvoller. Eines der schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts war dasjenige, das zur Ermordung von 3,2 Mio. vietnamesischen Bauern führte – mit dem Argument, sie wollten Asien erobern. Man ging nicht nach Vietnam, um die Demokratie zu verteidigen, denn in Südvietnam war eine Militärdiktatur an der Macht. Die Gründungslüge dieses Krieges sprach John Laurence ungeschminkt aus, der Korrespondent des CBS in Vietnam von 1965 bis 1970: >Wir haben fünf Jahre lang Menschen getötet, nur um einer Gruppe räuberischer vietnamesischer Generäle Vorteile zu verschaffen, die mit unserem Geld reich geworden sind. Das ist es, was wir in Wirklichkeit gemacht haben. Die kommunistische Gefahr? Und sonst noch was! […] Wir haben uns so weit reinziehen lassen, dass wir nicht mehr heraus können, ohne dass es aussähe wie eine Niederlage. Es ist verrückt. Wir werden nicht siegen, das weiß die ganze Welt. Doch wir werden es nicht zugeben und wir werden nach Hause gehen, wir werden weiterhin töten, Tausende und Abertausende, unsere eigenen Leute eingeschlossen.< Daher sind Obamas Worte für die Konfusion des antikommunistischen Kampfes so bezeichnend, denn er rühmte die Männer, die nach Vietnam gingen: >sich vorwärts arbeitend durch Dschungel und Reisfelder, in Hitze und im Regen, heldenhaft kämpfend, um die Ideale zu schützen, für die wir als Amerikaner einstehen<. Welches waren diese Ideale?

Es gab auch keine kommunistische Verschwörung in den Ländern Mittelamerikas, die durch die schmutzigen Kriege des CIA verwüstet wurden. Der Senat der Vereinigten Staaten hat das 1995 zugegeben, indem er darauf hinwies, dass die vermutlichen Rebellen, die dort ermordet wurden, in Wirklichkeit >Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Rechtsanwälte und Professoren waren, wobei die Mehrheit von ihnen mit Dingen beschäftigt war, die in jedwedem demokratischen Land legal wären.< Ein schmutziger Krieg, der bis heute anhält, wenn in Honduras die von der Regierung und von den an der Ausbeutung der Naturressourcen interessierten transnationalen Unternehmen organisierten Banden ihre Morde, unter Duldung und Schutz der Vereinigten Staaten, an Bauernführern fortsetzen, die das Gemeineigentum an Land und Wasser verteidigen – wie Berta Cáceres, die am 3. März 2016 ermordet wurde, auf Anstiftung des holländischen Unternehmens, das federführend das Projekt Agua Zarca betreibt, oder wie José Ángel Flores, Präsident der Vereinigten Bewegung der Bauern von Aguán, der am 18. Oktober 2016 ermordet wurde.

Harold Pinter brandmarkte in seiner Rede bei der Annahme des Nobelpreises für Literatur 2005 das Schweigen angesichts der Brutalität all dieser Kriege. Er bemerkte, den Vereinigten Staaten, die eine Kampagne um die Weltmacht führten, sei es gelungen, ihre Verbrechen zu vertuschen, indem sie sich als >Streiter für das universelle Gute< gebärdeten. Während die Vereinigten Staaten das freie Unternehmertum verteidigten und die Länder des >realexistierenden Sozialismus< in den Nachkriegsjahren daran scheiterten, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, siegte der >Kommunismus< in seiner weltweit gewordenen, allgemeinen und unbestimmten Bedeutung, wie ihn die Ängste seiner Feinde geschaffen hatten. Wir alle profitierten davon. Denn die Angst, die dieser globale Kommunismus hervorbrachte – nicht aufgrund seiner militärischen Stärke, sondern wegen seiner Fähigkeit, die überall auf der Welt gegen die Exzesse des Kapitalismus geführten Kämpfe zu inspirieren, und wegen der Offensichtlichkeit, dass Unterdrückung nicht ausreichte, um ihn aufzuhalten –, zwang die Regierungen im Westen zu Reformen, mit denen soziale Verbesserungen erreicht werden konnten, ohne auf revolutionäre Gewalt zurückzugreifen. Dieser Angst verdanken wir die drei glücklichen Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Wohlfahrtsstaat und einer vorher noch nie dagewesenen Verteilungsgerechtigkeit zwischen Unternehmern und Arbeitern.

In dem Maße, wie der >realexistierende Sozialismus< als revolutionäres Projekt an seine Schranken stieß – 1968 in Paris stand er während der Straßenkämpfe abseits, in Prag machte er dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz den Garaus –, verloren die Kommunisten diese große Kraft, die Karl Kraus aufs höchste lobte, als er sagte, >der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns […], damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bette gehe!< (1920/1971, 345f)

Seit Mitte der 1970er Jahre schläft dieses Gesindel nachts gut, ohne fürchten zu müssen, seine Privilegien würden von der Revolution bedroht. Das hat sie ermutigt, nicht nur die in den Jahren des Kalten Krieges gemachten Zugeständnisse sich nach und nach wieder zurückzuholen, sondern sogar einen Gutteil derjenigen, die sie sich in den anderthalb Jahrhunderten von Arbeiterkämpfen zuvor gesichert haben. Das Ergebnis ist die Welt, in der wir heute leben, in der die Ungleichheit unaufhörlich wächst, mit ökonomischer Stagnation als Kollateralschaden.

Heute, da sich der hundertste Jahrestag der Revolution von 1917 nähert, werden wir wieder das übliche Geschimpfe zu hören bekommen. Verurteilungen, die manchen als wichtig wie noch nie erscheinen, da doch, wie es in einem Bericht der Victims of Communism Memorial Foundation vom 17. Oktober 2016 heißt, die US-amerikanischen Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren, die >Jahrtausender<, schlicht gar nichts davon wissen, mehr noch, und das ist besonders alarmierend, beinahe die Hälfte von ihnen einen Sozialisten wählen würden, 21 % gar einen Kommunisten; die Hälfte denkt, dass >das Wirtschaftssystem ihnen zum Nachteil gereicht<, und 40 % wünschen sich einen Umsturz, der sicherstellen müsste, dass diejenigen, die mehr verdienen, auch im Verhältnis zu ihrem Reichtum in die Tasche greifen. Das bringt die Stiftung zu der verzweifelten Forderung, man müsse diesen Jugendlichen die finstere Geschichte des >kollektivistischen Systems< vor Augen führen.

Ich denke, wir brauchen einen anderen Typus von Gedenken, der es erlaubt, einerseits, uns die Geschichte dieser großen enttäuschten Hoffnung in ihrer globalen Dimension wieder anzueignen, zu der nicht zuletzt unsere sozialen Kämpfe gehören. Und der uns, andererseits, über die Lehren, die die Ereignisse von 1917 für unsere Gegenwart parat halten, nachdenken lässt. Es ist interessant zu sehen, dass ein William Robinson, der den heutigen globalisierten Kapitalismus erforscht, zu Schlüssen kommt, die Lenins Zustimmung gefunden hätten: dass, angesichts der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, Reformen nicht ausreichen, die alten Lösungen der Sozialdemokratie sich folglich verbraucht haben; und dass eines der Hindernisse, die überwunden werden müssen, eben in der Macht einiger der Staaten besteht, die heute ausschließlich Unternehmerinteressen bedienen. Er kommt zu dem Schluss, dass die einzige Alternative ein transnationales populares Projekt ist, eine Art Äquivalent der sozialistischen Weltrevolution, von der Lenin im April 1917 gesprochen hat, als er am Finnischen Bahnhof ausstieg.

Die Kräfte, die sich für dieses Projekt einsetzen müssten, werden sich von den traditionellen Parteien der Vergangenheit stark unterscheiden. Kräfte, wie sie heute von unten entstehen, ausgehend von den Alltagserfahrungen der Männer und Frauen. Von einem Typus, wie er aus den Kämpfen der Arbeiter in Südafrika oder der Indígenas in Peru gegen die transnationalen Bergbau-Konzerne hervorgeht, aus denen der Zapatistas, deren Rebellentum sich als eines >von unten und von links< versteht, der kurdischen Guerilleros im syrischen Kurdistan, die eine Demokratie ohne Staat aufbauen wollen, der mexikanischen Lehrerinnen und Lehrer, die für die Verteidigung des öffentlichen Schulwesens auf die Straße gehen, der Bauern in vielen Ländern, die sich nicht in Parteien organisieren, sondern in lokalen Assoziationen wie der Vereinigten Bewegung der Bauern in Aguán, an deren Spitze José Ángel Flores stand: Assoziationen, die sich mit anderen, staatlichen zusammenschließen, wie dem Consejo de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras, der von Berta Cáceres geführt wurde und der wiederum mit einer großen transnationalen Einheit wie Vía Campesina verbunden ist. Zwar stellen diese Kräfte, weder als einzelne noch in ihrer Gesamtheit, keine Bedrohung der herrschenden Ordnung dar, doch verweisen sie auf künftige Möglichkeiten eines großen gemeinsamen Erwachens.

Der Weg, den sie vor sich haben, um der Ungleichheit und der Verarmung zu entkommen, die uns alle bedroht, ist kein einfacher. Das Scheitern der Erfahrung von 1917 zeigt, dass die Schwierigkeiten sehr groß sind; doch ich meine, dass sie uns trotz allem auch gezeigt hat, dass es auf den Versuch ankam und dass ein erneuter Versuch die Mühe wert sein wird.

Aus dem Spanischen von Peter Jehle

 

Literatur

Kraus, Karl, In dieser großen Zeit. Auswahl 1914–25, hgg. v. D.Simon, unter Mitarbeit v. K.Krolop u. R.Links, Berlin/DDR 1971

 

>Manifest des Basler Friedenskongresses<, in: Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Basel am 24. und 25. November 1912, Berlin 1912, 23-27

 

 

[1] Vortrag an der Universitat Autònoma de Barcelona am 24.10.2016 im Rahmen einer Konferenz zur Oktoberrevolution, die von der Comissió del Centenari de la Revolució Russa und der Forschungsgruppe GREF-CEFID (Centre de Estudis sobre les Èpoques Franquista i Democràtica) organisiert wurde. Die spanische Fassung des auf Katalanisch gehaltenen Vortrags erschien in: Sin Permiso (www).