Der Westen & Russland – zum Diskurs

Gernot Erler ist Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Ob es dafür eine dezidierte Stellenbeschreibung gibt, ist dem Autor ebenso unbekannt wie die Antwort auf die Frage, ob sich darin womöglich als Aufgabenfixierung ein Punkt „allen Russland- und Putinverstehern regelmäßig die Leviten lesen“ findet. Gernot Erler ist dies jedoch seit längerem zumindest ein wiederkehrendes Anliegen.
Anfang Juni fand sich erneute eine Gelegenheit. Auf einer Veranstaltung der DGAP schrieb er denjenigen, die – wie der Autor – für eine neue Ostpolitik im Sinne der alten, von Willy Brandt und Egon Bahr konzipierten und erfolgreich realisierten, plädieren, also für einen sicherheitspartnerschaftlichen Entspannungsansatz gegenüber Russland, geballt und recht apodiktisch ins Stammbuch: „Eine neue Ostpolitik, die sich vor allem ableitet aus der Tradition der historischen Ost-und Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, läuft Gefahr, unerfüllbare Erwartungen zu wecken […].“ Und: „Eine neue Ostpolitik des Grand Design erscheint im Moment unrealistisch […].“ Sowie: „Aus der Hochachtung vor der historischen Ost-und Entspannungspolitik lässt sich keine Empfehlung ableiten, Verstöße gegen die Vereinbarungen von Helsinki und Paris sowie Vertragsverletzungen als hässliche Realität und als Preis für einen neuen Entspannungsansatz hinzunehmen oder zu akzeptieren, selbst dann, wenn sich daraus der Weg zu einer Normalisierung und zu neuem Vertrauen verlängert.“
Darüber hinaus stellte Erler bei dieser Gelegenheit in Abrede, dass es in Herausforderungen und Rahmenbedingungen überhaupt hinreichende Parallelen zwischen der Lage damals und der Lage heute gebe, um die seinerzeitige Konzeption und ihre Umsetzung „für die Gegenwartsfragen fruchtbar [zu] machen“. Die politische Herausforderung in den 1960er Jahren „war der Kalte Krieg, die Block-Konfrontation, die deutsche Teilung“. Die „neue politische Herausforderung“ hingegen bestände in „einer Weigerung (Moskaus – W.S.), die Existenz und Berechtigung einer […] Friedensordnung und eines entsprechenden Regelwerks weiter anzuerkennen“.
Doch selbst bei Erlers Betrachtungsweise fällt es schwer, die Parallelen nicht zu sehen: Wiederum besteht ein gefährlicher Konflikt zwischen dem Westen und Russland mit Zügen von Kaltem Krieg und wiederum agiert Moskau auf eine Art und Weise, dass im Westen diejenigen Oberwasser haben, die meinen, auf einen groben Klotz ein grober Keil sei die beste aller Strategien, Atomkriegsrisiko nolens volens inbegriffen. Damals waren Mauerbau, Kuba-Krise und Niederwalzung des Prager Frühlings maßgebliche Reizpunkte, heute sind es Moskaus Politik gegenüber der Ukraine, Georgien und in Transnistrien sowie der Krim-Coup.
Brandt und Bahr waren beide im Westberlin der 1950er Jahren als veritable kalte Krieger ganz im Sinne des groben Keils gestartet und zeitlebens weit davon entfernt, die Moskauer Art, Realitäten zu schaffen, zu akzeptieren. Spätestens mit dem Mauerbau jedoch hatten sie eines erkannt: Fortgesetzte Konfrontation würde die Bundesrepublik und den Westen ihren Zielen keinen Schritt näher bringen. Diese Erkenntnis veranlasste sie, aktuell unregulierbare Konfliktfelder zunächst auszuklammern und nicht länger zum Anlass (oder Vorwand) zu nehmen, die Konfrontation weiter fortzusetzen oder gar anzuheizen, sondern 1969 – ein Jahr nach Prag! – den kooperativen Neuansatz zu wagen. Die Frage, ob sie damit unerfüllbare Erwartungen wecken könnten, war ihnen allenfalls eine akademische. Man ging auf Moskau zu und wollte ausloten, was möglich war …
Nichts anderes bewegt heutige Befürworter einer vergleichbaren Vorgehensweise in der gegenwärtigen Situation wie etwa den dafür viel gescholtenen Matthias Platzeck. Auch einem Politiker wie FDP-Chef Christian Lindner, der für seine Bemerkung „Um ein Tabu auszusprechen: Ich befürchte, dass man die Krim zunächst als dauerhaftes Provisorium ansehen muss.“ heftigen Gegenwind erntete, ist schwerlich ernsthaft zu widersprechen, wenn er erklärt, dass „die Krimfrage derzeit nicht lösbar“ sei „und man […] nicht jedes andere Thema davon abhängig machen“ könne.
Letzteres ist seit 2014 die vorherrschende Attitüde des Westens, und jeder kann sehen, was dabei bisher herausgekommen ist. Auch Gernot Erler sieht das – zumindest zum Teil. In einem Namensbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) im Juli räumte er ein: „Das einzige politische Druckmittel, das der Westen gegenüber Moskau […] zur Verfügung hat, nämlich die Wirtschaftssanktionen, entfaltet keinerlei Wirkung.“
Im Übrigen argumentierte Erler bei der DGAP ganz auf der Linie des politischen und medialen Mainstreams, der den Splitter im Auge des Gegenübers sehr wohl erkennt. „Der Westen“, so konstatierte Erler, „versteht sich als konstruktiver Partner Russlands und kann dafür Belege anführen.“ Anschließend trat er Moskau vors Schienbein: „Es gibt keine Abrüstungsinitiativen, sondern militärische Aufrüstung, und die Infragestellung von schon erreichten Abrüstungsverträgen – ich erinnere an die Kündigung des Plutoniumabkommens (durch Moskau im Oktober 2016 – W.S.) und die Debatten über das INF-Abkommen […].“ Letzteres meint die von den USA seit 2014 vorgetragenen Vorwürfe, Russland würde diesen Vertrag verletzen.
Und die Nichtratifizierung des Übereinkommens über die Anpassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE) von 1999 durch den Westen – Moskau hatte ratifiziert – sowie die einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme durch die USA im Jahre 2002? Belege für konstruktive Partnerschaft gegenüber Russland?
Wie mag Gernot Erler seine Funktion als Russland-Beauftragter ansonsten wahrnehmen? Folgt man weiteren  Äußerungen seinerseits, dann tut er dies unter anderem, indem er die neuralgischen Fragen frank und frei anspricht – etwa das Minsker Abkommen. Dazu machte er in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung Mitte Juli folgende Ansage: „Ich erwarte, dass Putin das Abkommen endlich einhält.“
Erler ist bekanntlich Sozialdemokrat, und da muss man ihm schon nachsehen, wenn er ab und an in jenen oberlehrerhaften Duktus verfällt, für den sein ehemaliger Parteichef Hans-Jochen Vogel einst berüchtigt war. Wenn er allerdings an anderer Stelle (DGAP) beklagt, Moskau reagiere auf die berechtigte Kritik des Westens immer nur mit Gegenvorwürfen, betreibe „blame game, weit entfernt von einem lösungsorientierten Dialog“, dann sollte man doch von ihm zumindest erwarten dürfen, dass er Russland dafür nicht auch noch Steilvorlagen liefert – wie mit seiner undiplomatisch-einseitigen Aufforderung an Putin. Denn einen Anschlusssatz wie „Und von Poroschenko erwarte ich das natürlich ebenso.“ sucht man in dem Interview vergebens.
In manchen Fragen wäre im Übrigen etwas mehr Sachkenntnis gewiss nicht von Schaden. So hat Erler in der NZZ zur militärischen Vertrauensbildung im Verhältnis zu Russland eine „Vereinbarung über die Vermeidung militärischer Überflüge ohne Ankündigung und Transponder“ angeregt. (Transponder sind Geräte in Flugzeugen, die Angaben wie Höhe, Geschwindigkeit und Kennung für Fluglotsen sichtbar machen.)
Erlers Vorschlag als solcher ist sinnvoll, weil militärische Flüge mit abgeschalteten Transpondern über internationalen Gewässern schnell zu unklaren Situationen mit der Gefahr von Zwischenfällen führen können. Der Westen hat Russland für die Durchführung solcher Flüge immer wieder zu Recht kritisiert hat. NATO-Generalsekretär Stoltenberg sah darin gar eine „Provokation für die euroatlantische Sicherheit“. Als Putin daraufhin anlässlich eines Besuches beim finnischen Amtskollegen Sauli Niinisto im Juli 2016 vorschlug, darüber ins Gespräch zu kommen, dass künftig alle Militärflugzeuge über der Ostsee ihre Transponder einschalten, war diese Frage für die NATO plötzlich nur noch eine „Petitesse“ – O-Ton DER SPIEGEL. Es stellte sich nämlich heraus, dass NATO-Flugzeuge vergleichbar operieren: „Bündnisintern gilt die Regel, dass bei ‚zwingender operativer Notwendigkeit‘ die eigenen Maschinen ebenfalls ihre Transponder ausschalten.“ Mindestens „die USA und Norwegen“ hätten den russischen Vorstoß abgelehnt: „Westliche Spionageflugzeuge sollen gerade nicht entdeckt werden.“

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Dass man für eine neue Ostpolitik auch aus einem ganz anderen Blickwinkel argumentieren kann, machte kürzlich stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges deutlich. Unter der Überschrift „Die Russland-Falle“ schrieb er: „Die Russland-Hysterie in den USA […] lenkt ab von einer fundamentalen Erkenntnis: Die im Sommer 2014 verhängten Sanktionen gegen Russland hatten verheerende Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen. Seither hat der Outcast mutmaßlich mehr als 1000 Cyber-Angriffe gegen die USA geritten, nicht nur auf Clinton und die Demokratische Partei, sondern auch auf das Weiße Haus, das Außenministerium und den Generalstab. In Deutschland wurden seit 2015 der Bundestag, die CDU und Parteistiftungen attackiert. In Frankreich folgte in diesem Jahr der Wahlkämpfer Emmanuel Macron, in Großbritannien das Parlament.“
Mal abgesehen davon, dass Beweise für die russische Urheberschaft der genannten Cyberattacken bisher in keinem Fall vorliegen, ist Jörges’ Schlussfolgerung überraschend: „Von Trump ist klare Führung in dieser Hinsicht nicht mehr zu erhoffen. Also muss Europa alles dafür tun, um den Graben zum Nachbarn Russland zuzuschütten, die Sanktionen aufzuheben, Unabhängigkeit für die Ostukraine zu wagen und Putin zurückzuholen in den Kreis der G8. Es ist Zeit für eine neue Ost- und Entspannungspolitik. Wer Respekt genießt und dazugehört, hackt nicht skrupellos.“
Zumindest die letztgenannte Erwartung oder These ist allerdings zweifelhaft: Die USA haben immer dazugehört und die NSA trotzdem von der Leine gelassen …