Gepriesen und vernachlässigt

Die Situation älterer Menschen im internationalen Vergleich

Auch der Globale Süden altert. Aber Alter(n) ist relativ. Alter wird unterschiedlich empfunden, die Altersbilder ändern sich und die Versorgungslagen sind sehr unterschiedlich. Eine alterspolitische Rundschau von Südasien über die Türkei bis in deutsche Pflegeheime.

von Winfried Rust

Die GerontologInnen Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens zitieren für die »Lebensphase Alter« den italienischen Skirennläufer Alberto Tomba (31 Jahre): »Zu schnell geht die Jugend dahin, dann kommt das Alter. Ich bin jetzt 31, ich bin müde.«

Was Alter ist, ist ziemlich relativ. Man kann Alter als die Lebensphase zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod fassen und biologische Faktoren ins Spiel bringen, wie den körperlichen Abbau von Zellen. Dieser setzt aber im Wechsel von Auf- und Abbau bereits mit der Geburt ein – genau wie das Altern. In den Industriestaaten ist das Rentenalter um 65 die »klassische« Altersgrenze. Dabei ist dieses Rentenkonzept sehr jung, denn es breitete sich erst seit dem späten 19. Jahrhundert beispielsweise mit der Bismarck’schen Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 aus. Existenzsichernd prägte es sich erst seit den 1950er Jahren in den reicheren Ländern aus. In vielen Ländern des Globalen Südens macht das Rentenalter als Altersgrenze wenig Sinn, weil eine Rente nur für eine Minderheit von Staatsbediensteten und sozialversicherten ArbeitnehmerInnen existiert.

Alter ist auch deshalb relativ, weil es eine globale Alterskluft gibt. In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung Neugeborener heute bei 80 Jahren. Ein internationaler Vergleich widerlegt jede Rede über »Eine Welt«. Denn in Ländern wie Burundi, Angola, Zimbabwe oder Tschad hingegen liegt die Lebenserwartung um 50 Jahre. Göran Therborn spricht hier von den »Killing Fields der Ungleichheit«. In einem gleichnamigen Aufsatz nennt Therborn ein Beispiel mit einem Hinweis auf Problemursachen: Im benachteiligten schottischen Stadtteil Glasgow Calton (UK) ist die Lebenserwartung um 28 Jahre niedriger als im privilegierten Glasgow Lenzie.

Wer sind nun die Alten? Angesicht der 800 Millionen über Sechzigjährigen quer durch alle Klassen und Länder ist eine Verallgemeinerung fragwürdig. Dann kommt noch die »Pluralisierung des Alters« hinzu. Im Kinofilm »Wir sind die Neuen« führt sich eine Alten-Wohngemeinschaft betont jünger auf als die benachbarten StudentInnen. Ist die Kategorie Alter(n) obsolet?

Nicht ganz. Wenn man Menschen nach Altersabschnitten in Kohorten unterteilt, so haben diese jeweils einen eigenen historischen Hintergrund, also kollektiv erfahrene Lebensphasen wie etwa die Jugendzeit. Das verbindet. In verschiedenen Lebensabschnitten übernimmt man unterschiedliche Rollen. Die Dritte Lebensphase ist vermehrt von Krankheit oder Verlusterfahrungen geprägt, weil Gleichaltrige sterben. In der Vierten Lebensphase, der Hochaltrigkeit, nimmt das Thema Gesundheit, Alltagskompetenz, Isolation, Pflegebedarf und Sterben in der Regel mehr Raum ein. Alter bewegt sich in einer Spanne zwischen später Freiheit und Gebrechlichkeit. Die Alten eignen sich mit zunehmender Zahl und Vitalität neue Lebensmöglichkeiten an. So fokussiert die Schwerpunktausgabe über Alter der Lateinamerika-Zeitschrift ila (403) stark auf Altenproteste und auf erreichte Ausweitungen des Angebots für ältere Menschen. Am Rande der UN-Konferenzen über das Alter sind lateinamerikanische ältere Aktive aus der Zivilgesellschaft höchst präsent. Die Zuschreibung als »altes Eisen« funktioniert nicht mehr, weil die Betroffenen es sich nicht länger gefallen lassen.

In Literatur und Spielfilm werden oftmals alte Menschen in den Blick genommen. Selten definieren sie sich selbst als alt und sie sind so verschieden wie das Leben selbst. Das hat die iz3w-Redaktion dazu bewogen, den Themenschwerpunkt mit Filmstills zu bebildern. Die Inspiration dafür kam von der Webseite www.der-andere-film.ch. Sie zeigt – neben anderen Filmthemen – eine diverse, faszinierende Bilderwelt zum Thema Film & Alter. Wer beim Thema Alter(n) auf Pflegebedürftigkeit und Verfall fokussiert, zeichnet, bei aller Notwendigkeit, ein falsches Bild.

Das gefühlte Alter ist relativ. Die über 65-Jährigen in Westeuropa fühlen sich mehrheitlich nicht alt. Soweit finanziell möglich, reisen sie, gehen ins Kino und pflegen Kontakte. Alt sind immer die anderen. Noch im Altenheim lästern Achtzigjährige über die »alten Gestalten« um sich herum. Die Kontextabhängigkeit von Alter kann ebenso zeitlich-historisch verortet werden, denn bis etwa 1870 war man in Deutschland mit knapp vierzig richtig alt und am Ende der durchschnittlichen Lebenserwartung. Hintergründe des steilen Anstiegs der Lebenserwartung sind mit der Industrialisierung steigender Wohlstand, bessere Ernährung, sauberes Trinkwasser, öffentliche Hygiene wie Kanalisation und verbesserte medizinische Versorgung. Diese Verbesserungen greifen nunmehr auch global. Die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit ist auf 69 Jahre gestiegen. Die Mehrheit aller etwa 800 Millionen über Sechzigjährigen lebt in den »Entwicklungs«- und Schwellenländern. Das ist die gute Nachricht: Die Menschen werden älter und sie sind dabei längere Zeit gesund.

Arme Alte, reiche Alte

Dennoch gibt es Unterschiede. Im Norden vollzog sich die rapide Alterung im 20. Jahrhundert in relativ reichen Ländern mit einer sozialen Absicherung. Der Globale Süden altert arm. Wirtschaftlich boomt dort der informelle Sektor, der keine Alterssicherung bringt. Das hat negative Konsequenzen auf die Ausgestaltung des Alter(n)s, weil eine verbindliche Absicherung fehlt.

Etwa 100 Millionen der über Sechzigjährigen im Globalen Süden leben von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag. Die alternde Gesellschaft ist hier mit keiner flächendeckenden sozialpolitischen, gesundheitlichen und pflegerischen Infrastruktur ausgestattet. Entsprechend legen Organisationen und Initiativen, die sich mit »Menschenrechten und Alter« beschäftigen, den Akzent beim Thema Armut. Die NGO HelpAge setzt sich für »ein Existenz sicherndes Einkommen für alte Menschen und für den Aufbau einer sozialen Rentenversicherung und einer sozialen Grundsicherung« ein. Außerdem gilt es, die Situation alter Menschen in den armutsrelevanten Bereichen zu thematisieren: in der Armutsbevölkerung, bei Menschen in Katastrophengebieten und auf der Flucht, bei der Benachteiligung von Frauen oder in der Subsistenzlandwirtschaft. So ist unter den Klein- und Subsistenzbauern und -bäuerinnen der Altersdurchschnitt relativ hoch. Dieser Bereich ist in der Regel nicht durch Renten abgesichert und die auf Selbstversorgung ausgerichtete Wirtschaftsweise wirft kein Geld für Gesundheitsleistungen oder Pflegebedarf ab. Im Globalen Süden ist der Anteil der armen Alten in der ländlichen Bevölkerung überdurchschnittlich hoch.

Als weitere Unterscheidung könnte man fassen: Frauen leben länger, aber sie haben weniger davon. Die Benachteiligung von Frauen nimmt im Alter existenzielle Formen an: Sie werden älter, aber sie sind öfter krank. Beispielsweise zwei Drittel aller Erblindeten sind Frauen, meist über fünfzig. Ihr Zugang zu medizinischer Versorgung ist schlechter als der von Männern. Frauen haben die schlechteren oder keine Jobs und ihr Zugang zum Erbe ist oft nachrangig. Medizinisch könnte vielen dieser 2,5 Millionen Frauen mit einer Vorsorge oder Behandlung geholfen werden.

Das Thema Altern beschäftigt auch die Vereinten Nationen. 1982 und 2002 fanden zwei Weltversammlungen zu Fragen des Alterns der UN statt. Daraus resultierte ein Weltaltenplan. Er soll für das weltweite Altern sensibilisieren und die Lebenssituationen verbessern. Gleichzeitig bestehen kontraproduktive Paradigmen im UN-Altersdiskurs fort. Mit Blick auf die altersbezogenen Agenden von OECD, Welthandelsorganisation, Weltbank, IWF und EU kritisiert der Gerontologe Anton Amann: Die Alterung gilt als gefährliche Bürde für den Sozialstaat; sie gefährde die Produktivität des Wirtschaftsstandortes; Eigenvorsorge und individuelle Verantwortung seien zu forcieren; Pensionssysteme seien in profitable Pensionsfonds umzubauen. Unter dem ausgegebenen Label der Aktivierung wirken hier Konstruktionen fort, die Alter(n) als Problem definieren.

Hier ist der Anschluss an gängige Altersdiskriminierungen möglich. Alte wurden seit jeher als nutzlos stigmatisiert und diskriminiert. Heute wird den Alten die Verantwortung für ihre Bedarfe zugeschrieben, weil sie mangels gesunder Lebensführung und finanzieller Vorsorge allein verantwortlich für ihre Probleme seien. Im neueren Ageismus werden Alterserscheinungen als Resultat nachlässiger Lebensführung stigmatisiert. Das Leitbild ist und bleibt der junge, leistungsstarke Mensch.

Das bestehende »System« der Alterssicherung ist im Globalen Süden vorwiegend auf die Familie als Altersstütze aufgebaut. Aber der moderne soziostrukturelle Wandel greift auch hier. Die gemeinschaftliche oder familiale Absicherung ist brüchig. Eine Ausweitung von Sozialversicherungs- und Pflegesystemen kommt sehr langsam in die Gänge. Die Altenpflege erfährt auch zweierlei problematische Internationalisierungen. Zum einen weitet sie sich in die Länder des Südens aus, zum anderen internationalisiert sich die Arbeitswelt der Pflege.

Internationale Politiken des Alter(n)s

Gerade die sehr konservativen Regierungen in Ländern wie derzeit Indien, Thailand, Pakistan und in der Türkei lobpreisen die Alten und deren sorgende Familien. Tatsächlich greift der moderne Strukturwandel auch hier. Überall gibt es Dörfer, die vorwiegend von alleingelassenen Alten und einigen Enkelkindern bewohnt sind. Die ausgewanderten Jungen schicken vielleicht Geld, aber die praktische oder emotionale Fürsorge fehlt.

In Indien arbeiten über 90 Prozent der Erwerbstätigen im informellen Sektor. Damit erklärt sich von selbst, dass die Alterssicherung auf tönernen Füßen steht. Frauen sind in diesem Sektor überrepräsentiert und beim institutionellen Schutz entsprechend unterrepräsentiert. Ohne Familie oder Ersparnisse sind die meisten im Pflegefall hilflos. Zwar gibt es staatliche Hilfsprogramme, die unter anderem sehr bescheidene Renten für SeniorInnen bezahlen. Die Mindestrente der indischen Bundesregierung beträgt jedoch nur etwa drei Euro im Monat. Dazu kommen eventuell Zuschüsse, auch der einzelnen Bundesstaaten und Kommunen. Alte ohne Renten können bei Getreideverteilungen berücksichtigt werden.

Der behördliche Papierkrieg hält jedoch nicht wenige ältere InderInnen davon ab, selbst die Mindestansprüche geltend zu machen. Die Festung Familie ist (bei gleichzeitigem sozialpolitischem Stillstand) zwar ein Lieblingsthema des hindunationalistischen Premierministers Narendra Modi. Aber die jungen Erwachsenen ziehen den Jobs hinterher, zum Beispiel in der Pharmazie, IT, Textilindustrie oder im Dienstleistungsbereich. Beim Mythos, im Globalen Süden kümmere sich die Familie um die Alten, ist Vorsicht geboten: Auf Normen oder einen »Generationenvertrag« kann sich niemand verbindlich berufen, im Gegensatz zu einer sozialstaatlich garantierten Existenzsicherung. Tatsache ist, dass viele Menschen, die im »falschen« Land leben, beim Verlust der Erwerbsfähigkeit bald sterben.

Auch in Thailand hat sich die gesellschaftliche Struktur verändert. Die Geburtenrate ist stark zurückgegangen. Junge Frauen studieren häufiger als früher und die jungen Menschen orientieren sich auf das berufliche Fortkommen, während die Putschregierung alte Werte beschwört. Die Verstädterung lässt Alte auf dem Land zurück, während das städtische Wohnen eher in der Kleinfamilie stattfindet.

Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in Thailand auf etwa 75 Jahre angestiegen. Es gibt für südasiatische Verhältnisse ein gut ausgebautes System zur Gesundheits- und Altersversorgung. Ein System zur Krankenversicherung macht den Arztbesuch mit etwa 70 Cent erschwinglich. Staatsbedienstete erhalten Pensionen, des Weiteren gibt es acht verschiedene staatlich unterstützte Renten- und Pensionsprogramme. Aber die drei Viertel der thailändischen Bevölkerung, die im informellen Sektor arbeiten, werden vom Sozialversicherungssystem kaum erreicht. Viele sind auf die Sozialrente von umgerechnet zwölf Euro im Monat ab dem 60. Lebensjahr angewiesen. Der geringe Betrag steigt pro Lebensjahrzehnt um zwei Euro an. Dieses kärgliche Auskommen verhindert als Zubrot laut Weltbank oftmals die extreme Altersnot. Der Bedarf nach Alternativen zum Familienmodell ist genauso groß, wie Altenheime selten und unbeliebt sind. Pflegeeinrichtungen widersprechen der gesellschaftlichen Norm, dass die Älteren von der Familie umsorgt werden sollten.

In Vietnam geht die Alterung ebenfalls mit einem Geburtenrückgang bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der Familie einher. Hier wie in vielen weiteren Ländern erodiert die »Sitte«, dass sich die Schwiegertochter als Altersstütze der Schwiegereltern definiert und auf einen eigenen Lebensweg verzichtet. So baut das wirtschaftlich aufstrebende Vietnam, das schon seit den 1990er Jahren eine breiter angelegte Sozialversicherung kennt, den Gesundheits- und Pflegesektor aus. Aber auch hier sind nur knapp zwei Drittel der Arbeitenden so weit versichert, dass sie die ambulanten oder stationären Pflegeleistungen bei Bedarf erhalten können.

Natürlich gibt es auch andere Beispiele. Ein Artikel aus der Zeitschrift südostasien von Saskia Dworschak berichtet über »Die Alterung Vietnams« am Beispiel eines Ingenieurspaars, das den Lebensabend in einem Drei-Generationen-Haushalt am Hoan-Kiem-See bei Hanoi ohne finanzielle Sorgen genießt. Die finanzielle Unterstützung durch die Kinder, die wiederum für ihre Ausbildung von den Eltern unterstützt wurden, ist gesichert. Auf der anderen Seite gibt es Arme, die gerade auf dem Land kaum Zugang zu medizinischen Leistungen haben. Der Anteil von Frauen an den armen Alten ist überproportional hoch, weil sie auf dem Arbeitsmarkt einen schlechteren Stand haben. Altenheime sind selten, wenig beliebt und teuer.

In einer Studie über neue Wohnformen von SeniorInnen in Katmandu/Nepal schreibt Roberta Mandoki, dass Altenheime auch in Nepal negativ konnotiert und wenig verbreitet sind. Doch das Aufkommen von hilfebedürftigen Alten ohne Unterstützung führt zu einem Anstieg dieser Institutionen. In einem beforschten Altenheim in Katmandu sei das Gefühl der Isolation vorherrschend. Ein Interviewpartner sagt jedoch, dass der Telefonkontakt mit der Familie, Gespräche mit den PflegerInnen und die erfahrene Hilfe ihn versöhnlich stimmen.

Dabei werden dieselben Probleme wie hierzulande debattiert: Einerseits Vereinzelung alter Menschen zuhause und andererseits die Isolation der HeimbewohnerInnen vom »Leben da draußen«. Heime gelten als Schreckensvision, weil die persönliche Autonomie den institutionellen Abläufen geopfert wird. Es ist die universelle Dialektik der Altenpflege. Jede/r wünscht sich eine flächendeckende Alterssicherung, was ohne Altenheime unrealistisch ist, aber niemand will dort leben. Spannend ist, dass davon ausgehend Verbesserungen und alternative Wege gesucht werden. Der Anstieg der ambulanten Altenpflege (zuhause) ist ein Beispiel dafür.

Über die Türkei zurück nach Hause

Die Türkei hat im Vergleich zu vielen europäischen Ländern eine junge und wachsende Bevölkerung, gleichzeitig steigt die Altersbevölkerung rapide an. Dafür ist das Land schlecht gerüstet. Türkan Yilmaz und Deniz Pamuk haben in einer Studie die Versorgungsstrukturen für Menschen mit Demenz betrachtet. Zuerst ist dabei festzustellen, dass Demenzerkrankungen im türkischen Pflegesystem nicht gesondert klassifiziert werden. Das Pflegepersonal in der Türkei verwendet unspezifische Einordnungen für Demenzkranke. So sind auch kaum spezifische Pflegekompetenzen anzutreffen. Dabei sind Demenzerkrankungen alles andere als ein auf einige Wohlfahrtsstaaten beschränktes Phänomen. Zwei Drittel aller Demenzkranken leben im Globalen Süden. In der Türkei wird die Altenversorgung traditionell sowie vonseiten der AKP-Regierung als Aufgabe der Familie gesehen, praktisch betrifft dies die Töchter. Hier allerdings ist Demenz wohlbekannt, denn Alzheimer ist die häufigste Krankheit, die dazu führt, dass Familienmitglieder voll für die Pflege zuhause zuständig sind.

Die Rechte älterer Menschen in der Türkei sind im Verfassungsartikel 61 geschützt. Die AKP-Regierung verehrt das Alter. Trotzdem kommen Yilmaz/Pamuk zu niederschmetternden Ergebnissen. So verlangen manche Institutionen von den Familien von Demenzkranken den Nachweis, dass »keine sachliche sowie pflegerische Unterstützung von der Familie« geleistet werden kann. Das heißt, dass die Demenzpflege in den Familien bleiben soll. Demenzpflege überfordert jedoch Familien. Ohnehin fehlen in zahlreichen Provinzen Pflegeheime. Zwar sind Einzelprojekte um Fortschritte bemüht. Aber die öffentliche Sensibilisierung für das Thema ist gering. Das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik definiert Demenzerkrankung (Yilmaz/Pamuk, Stand 2015) als »Verblödung« oder »psychische Störung«. Da wundert es nicht, dass es an wissenschaftlichen Untersuchungen, Qualifizierungen oder Fachkräften fehlt.

So sei der Blick noch einmal nach Deutschland gelenkt, wo eine relativ gut ausgebaute Alterssicherung und Pflegeinstitutionen bestehen. Die Internationalisierung der Pflege produziert hier bizarre Bilder. Betritt man ein Altenheim, ist die historische Ausgrenzungspolitik zum Greifen nahe: Man sieht sich oft einer rein deutschen BewohnerInnenschaft gegenüber. Kommt man jedoch in ein Stationsbüro, trifft man auf eine bunte, international gemischte Belegschaft. Diese wirft sich in den Kampf, um personell unterbesetzt den HeimbewohnerInnen ihren guten Lebensabend zu ermöglichen. Sie arbeiten hart und scheitern täglich.

Inzwischen setzt aber auch in der Sozialstruktur der BewohnerInnen ein Wandel ein. Die »Gastarbeitergeneration«, die geblieben ist, erreicht die Altenheime. Auch die zweite Ankunft unter Deutschen ist nicht leicht. So ziehen etwa die türkischen MigrantInnen, die in Deutschland gealtert sind, immer öfter in ein deutsches Altenheim. Wie kann hier eine sinnvolle Lebensgestaltung ermöglicht werden? Dies hängt zum einen von der Finanzierung der Heime ab, sprich, ob eine individuelle Zuwendung möglich ist. Weiter kann hier der neue Ansatz einer »kultursensiblen« Altenpflege genannt werden. Immerhin ist die internationale Mischung bei den Pflegekräften eine großartige Ressource. Kultursensibilität kann allerdings nur ein Aspekt gelingender Altenpflege sein. Der gewichtigere Ansatz bleibt die Biografiearbeit, die alle individuellen Vorerfahrungen in die alltägliche Pflege einbringt.

So stellen sich mannigfaltige Erfordernisse an einen bereits jetzt überforderten Pflegebereich. Noch schwierigere Aufgaben stellen sich für eine Alterssicherung im Globalen Süden, welche die »Killing Fields der Ungleichheit« beseitigt. Die Situation ist weit von dem entfernt, was Simone de Beauvoir in ihrem Buch »Das Alter« anvisierte. Bei der Frage, wie die Gesellschaft beschaffen sein müsse, die das Alter achtet, findet die Philosophin die Antwort »einfach«: Der Mensch »muß immer schon als Mensch behandelt worden sein. Das Schicksal, das sie ihren nicht mehr arbeitsfähigen Menschen bereitet, enthüllt den wahren Charakter dieser Gesellschaft; sie hat sie immer als Material betrachtet.«

 

Winfried Rust ist Mitarbeiter in einer Demenzwohngruppe und im iz3w. Die verwendete Literatur findet sich auf der iz3w-Webseite.