Mit Luther den Kapitalismus überwinden?

Ulrich Duchrow: »Mit Luther, Marx & Papst den Kapitalismus überwinden. Hamburg: VSA-Verlag 2017

»Mit Hilfe des Theismus verlängern wir die eigene Ohnmacht und rechtfertigen wir die bestehenden Zustände.« (Dorothee Sölle, 1992, 64)

Der Titel des Buches ärgerte mich ebenso wie er neugierig machte. Eine Lobpreisung Luthers von links in einer Linie mit Marx, die ausgerechnet den Bauernschlächter Luther mit der »Theologie der Armen« des Franziskus I., also der argentinischen Variante der »Theologie der Befreiung« (Boff 2017), in eine Linie bringt? Beides, die Berechtigung meiner Neugier, denn ich gewann neue Einsichten, aber erst recht mein Ärger, hielten bei der Lektüre an, sodass es statt einer Rezension in üblicher Kürze eine ausführliche Auseinandersetzung wird.
Bleiben wir zunächst beim Formalen: Die langen Luther-Passagen in seinem Deutsch des frühen 16. Jahrhunderts machen Teile des Buches schwer leserlich, das sollte aber nicht an der Lektüre hindern, denn der Autor entwickelt zurecht und sorgfältig Luthers Kritik am Frühkapitalismus, auf die Marx Bezug nimmt, so in den »Theorien über den Mehrwert«, also den Vorentwürfen zum »Kapital« (Duchrow 100, MEW 26.3., 516–525). Insofern ist es, so Duchrow in Kapitel 2 (insb. 36–56), völlig gerechtfertigt, diese ökonomischen Ansichten von Luther ebenso wie ihre historischen
Vorläufer im Mittelalter (Kapitel 1) zu rekonstruieren. Deshalb aber Luther, der ob seines Judenhasses zurecht von den Nazis mit herangezogen wurde, zum ökonomischen Vorläufer von Marx zu deklarieren (so in Kapitel 4 »Marx als prophetischer Kritiker des Frühkapitalismus«; 89–118), ist ein offenkundiger Kategorienfehler, den Duchrow hier, meines Erachtens durchaus bewusst, vornimmt, um zugleich Marx zum Theologen zu erklären (102 ff.).
So harmlos der folgende Absatz klingt, er hat es in sich: »[…] der entscheidende Schritt über die Zeit und Wahrnehmung Luthers hinaus, den Marx vornimmt, ist die Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses. Dabei ist wichtig, dass der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht abstrakte ›Produktionsfaktoren‹ meint. Die Antithese bedeutet vielmehr: abstraktes Kapital/ Geldwert versus konkrete lebendige Menschen, die existenziell ihre lebendige Arbeitszeit verkaufen müssen. Es ist spannend zu sehen, dass Marx durch diese Sicht, die er in der Fetischismusanalyse vertieft, auch theologisch neue Einsichten gewinnt.« (ebd. 102)
Sehen wir davon ab, dass Marx nicht von »Antithese« sondern von einfacher Negation sprechen würde, so verkaufen die Arbeiter nicht ihre »Arbeitszeit«, sondern ihre »Arbeitskraft« entsprechend dem zeitgenössischen Begriff Kraft, der sich erst später mit der Entwicklung der Thermodynamik in den Begriff der Energie wandelt, den Marx jedoch in eben dieser Bedeutung rezipiert hat. Arbeitskraft ist in diesem Verständnis potenzielle Energie, die im Prozess der Arbeit in kinetische Energie umgesetzt und verausgabt wird (vgl. Jantzen 2013, 2017). Ähnlich unscharf ist die Behandlung anderer Kategorien der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie (was bitte ist »abstraktes Kapital«?). Und was die theologischen Einsichten bei Marx betrifft, so sind diese, in atheistischer Form durchaus vorhanden, weit eher mit Thomas Müntzer als mit Martin Luther zu verknüpfen. Und schon gar nicht lässt sich an Luthers Beurteilung der Philosophie anknüpfen, die er zur »Hure« erklärt, da sie die von ihm verachtete Vernunft hochhält. »Gegen den großen Humanisten Erasmus von Rotterdam wütet Luther fast ebenso furchtbar wie gegen Thomas Müntzer: »Ebenso wie Erasmus habe ich auch Müntzer getötet; sein Tod liegt auf meinem Hals.« (Mynarek a. a. O., 78) Hier ist er ein prominenter und militanter Vorläufer der von Lukács rekonstruierten »Zerstörung der Vernunft«.
Die Deklaration von Luther als ökonomischen Vorläufer von Marx ist aus diesen und weiteren Gründen ein offensichtlicher Trugschluss. Ein ähnlicher Trugschluss wäre es, die rückwärtsgewandte ökonomische Kritik am globalisierten Kapitalismus, für welche die rechtspopulistische bis faschistische Neue Rechte steht, in eins zu setzen mit einer vorwärtsweisenden Kritik der europäischen Linken oder der Lateinamerikanischen Debatte zu Kolonialität und Dekolonisierung (A. Quijano) und »Philosophie der Befreiung« (Enrique Dussel), die Duchrow systematisch ausklammert. Immerhin trotz enger Zusammenarbeit mit Franz Hinkelammert – auch auf dem Gebiet der Ökonomie! Und gerade hier gilt Lenins Frage nach wie vor: »Wer, wen, in welchem Interesse?« Was also verfolgt Duchrow beim Versuch einer linken Weißwäsche des Rattenfängers von der Wartburg? Ganz sicher schreibt er nicht aus Unkenntnis der lateinamerikanischen Debatte und nicht aus völliger Unkenntnis der spanischen Sprache. Es gibt genug deutsch- und englischsprachige Übersetzungen der entscheidenden Autoren und Diskurse – und immerhin zitiert er ja auch Hinkelammerts Buch »Hacia una economía para la vida«.
Verfolgen wir hierzu zunächst Kapitel 3: »Die Anfänge der geldgetriebenen Zivilisation und die Antwort der Weltreligionen«. Und ich bitte, das Folgende nicht als Lamento darüber zu lesen, was er alles nicht zitiert – das ist Vieles und Entscheidendes und ich führe längst nicht alles auf. Leitfrage für das Kapitel 3 ist: »Wie kam es zu der epochalen Änderung, dass ab dem Ende des 8. Jahrhunderts, im 7. Jahrhundert und dann in immer größerer Dynamik im 6. Jahrhundert Geld, Markt und Lohnarbeit in einer frühen Form entstanden?« (65) Zunehmend entsteht in diesen Jahrhunderten v. Chr. der »Tauschhandel«, der nach Adam Smith der »Humus« für die Entwicklung der frühen Formen von »Geld, Markt und Lohnarbeit« ist, so die klassische Antwort (65 f.). Duchrow greift zusätzlich andere Linien als entscheidend auf, hier insbesondere die Professionalisierung des Militärs vom Mittelmeer bis nach China. »Die erste Form des Soldatenlohns ist die geraubte Beute.« (67) Dazu gehören transportable Edelmetalle in kleinen Stücken. »So kommt es, dass sich bei den Waren – neben dem Gebrauchswert – der Tauschwert als allgemeines Äquivalent zwischen den verschiedenen Waren entwickelt und damit das Geld.« (67)
Auch hier hätte sorgfältigere Kapitallektüre und zudem eine Befassung mit Paläanthropologie und Ethnologie nichts geschadet. Denn die Ware ist, so Marx im »Kapital«, definiert durch ihre Doppelform: als Naturalform und als Wertform, als Ausdruck der widersprüchlichen Einheit von abstrakter und konkreter Arbeit. Die Äquivalenzform und damit die Keime der Geldform sind bis in den Gabentausch von Steinzeitkulturen zu verfolgen. Allerdings kann sich das Privateigentum am Boden, und damit (männliche) Herrschaft, erst mit der Sesshaftigkeit entwickeln, nachdem das Verständnis der Erde als Naturgottheit eliminiert wurde (vgl. Ina Mahlstedt [2010] zur religiösen Symbolwelt in Göbeli Tepe in Anatolien und zu den Übergängen zu Herrschaftsgottheiten in Ägypten zwischen 6000 und 2000 v. Chr. sowie Daniel Stosiek [2014] zu den Naturgottheiten der indigenen lateinamerikanischen Völker: Pachamama; hierzu auch Mahlstedt Kapitel IV). Allerdings bleibt, was Wert ist und was abstrakte und konkrete Arbeit mit der Warenform zu tun haben, bei Duchrow ungeklärt und damit der entscheidende Übergang von der Ökonomie eines Adam Smith oder David Ricardo zu den Bestimmungen des »Kapitals«. Dass diese Prozesse der Eigentumsbildung in Söldnerheeren und Militarisierung ihren Ausdruck finden, ist eher eine Folge der Entstehung von Privateigentum, Staat und Kapital, als deren Ursache (im Gegensatz zu Duchrow, der das marktförmige Geld als Ursache des Privateigentums bestimmt; 69)
Und wenn Duchrow weiterhin feststellt, dass mit dem Geldwert auch das abstrakte Denken entsteht, so ist das bestenfalls eingeschränkt stimmig, da die Entwicklung der Wissenschaft so einfach nicht betrachtet werden kann.1 Zudem verwundert, dass weder Sohn-Rethels Analyse zu »Warenform und Denkform«, die Duchrow stützen würde, noch deren Gegenthese zitiert wird, welche die Entwicklung des Denkens mit dem phonetischen Alphabet in Verbindung bringt (vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/ Alfred_Sohn-Rethel). Stellt man dies jedoch in den Kontext des nahezu völligen Auslassens der Kritischen Theorie (u. a. Erich Fromms glänzende Studie »Das Christusdogma«) ebenso wie von Ernst Bloch (»Atheismus im Christentum«; »Thomas Müntzer als Theologe der Revolution«), so verwandelt sich die Verwunderung über derartige Indizien in das Erkennen einer Systematik.
Die Weißwäsche Luthers und damit der evangelischen Religion zielt auf das Vergessen aller historischen und möglichen Versuchungen des Teuflischen, von links und von rechts, ebenso gegen den Atheismus wie gegen den Faschismus. Strikt entsprechend der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, dem himmlischen und dem irdischen Reich Gottes, demzufolge im irdischen Reich das Satanische auf Erden zu bekämpfen sei, geschieht dies gegen jegliche Form linker atheistischer Kritik – einschließlich der Nichterwähnung von Dorothee Sölle im Kontext der »Interreligiösen Verwerfung des Kapitalismus« in Kapitel 5.
Aber bleiben wir noch etwas bei der Weißwäsche. Luther, so die kenntnisreiche Kritik von Hubertus Mynarek2 am Mythos Luther, ist ein brutaler Menschenfeind. Er »ist so vernarrt in die absolute, maßlose Allmacht seines Gottes, daß er die kleinste Regung einer Eigentätigkeit im Menschen, die geringste Spur eines Aufbruchs zum Guten in ihm bereits als Einschränkung der göttlichen Allmacht, als Anschlag auf diese betrachtet«. (Mynarek a. a. O. 91) Er ist ein Frauenhasser par excellence, der die Hexenverbrennung legitimiert und den ehelichen Beischlaf mit der Hurerei gleichsetzt – aber sozusagen als von Gott legitimierte Hurerei, so »dass keine Ehepflicht ohne Sünde geschieht«. (WA X. 2304 zitiert nach ebd. 53)3 »Inexplebiles ut debiliores sunt mujeres, der teuffel kann sie nicht genug schmucken.« (WA XII 135, zit. nach ebd. 49)4 Und ausgerechnet gegenüber diesem Frauenfeind und Hexenverbrenner beginnt Duchrow das Unterkapitel zu Kapitel 2 mit der Überschrift »Luthers Vorschläge zum Umgang mit dem Frühkapitalismus« mit folgender Passage: »Als erstes fragt Luther, was denn Christen und Christinnen [kursiv im Orig.] im Sinne der Bibel tun können.« (a. a. O. 48). Er ist Judenfeind und dringt auf das Verbrennen ihrer Schriften, Häuser und Synagogen. Man solle die danach Obdachlosen »unter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner« (WA LIII 523 zit nach Mynarek a. a. O. 37), so dass sich nach Überzeugung von Mynarek (ebd. 40 f.) Hitler, ebenso wie später dann Streicher im Nürnberger Prozess, zu Recht auf Luther berufen konnte. Und schließlich ist Luthers militante Stellungnahme gegen die aufständischen Bauern nach Duchrow lediglich ein »tragischer Irrtum« (58) bzw. beruht auf einem »tragischen Mißverständnis« (ebd. 61, kursiv im Orig.), ganz zu schweigen von Luthers genozidaler Behindertenfeindlichkeit, die unser Autor nicht einmal erwähnt (»massa carnis«, bloße Fleischklumpen, vom Teufel untergeschobene Wechselbälge, die man ertränken sollte; vgl. Bachmann 1985).
»Wenn Christus heute wiederkäme (so Dorothee Sölle), so wäre er Atheist, das heißt er könnte sich auf nichts anderes als seine weltverändernde Liebe verlassen. Nicht aus Selbstbescheidung wäre er Atheist oder aus Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten. Er wäre Atheist gerade deswegen, weil er alles für alles wollte.« (Sölle 1992, 72)
Luther selbst aber wäre mit Sicherheit einer jener Schreier und Hetzer von PEGIDA und der Neuen Rechten auf den Straßen von Dresden oder anderswo. Denn mit den Juden (und den Zigeunern), den behinderten Kindern, den aufständischen Bauern und den Hexen ist die Gestalt des »absoluten Feindes« im Sinne von Carl Schmitts »Theorie des Partisanen« exakt bestimmt (vgl. zur Bedeutung dieser Bestimmung für die autoritäre Rechte Weiß 2017, 211 ff.). Und ebenso wie diese Bewegung ist Luther ein absoluter Gegner universeller Menschenrechte.
In historischer Hinsicht, so kann ich nur folgern, dient die Weißwäsche Luthers ersichtlich dem Vergessen-Machen der schlimmen Spuren der Reformation bis heute in Form der Inneren Mission, der Unterwerfung unter jedwede Obrigkeit (»die Gewalt über Euch hat«), der christlichen Sozialpädagogik oder der Großeinrichtungen für Behinderte, um nur einiges zu nennen und gar nicht von der Teilhabe an den Kolonialverbrechen in Afrika oder der Anbiederung großer Teile der evangelischen Kirche an die Nazis zu reden.
Um mich nicht falsch zu verstehen: Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche ist eine großartige historische Tat, erst sie hat vielen Menschen die Entdeckung eines anderen Christentums ermöglicht, für das Luther als historische Person leider nicht gestanden hat.
Im Folgenden wird im vorliegenden Buch dann der Protest der Bibel gegen Geldwirtschaft und Zins hervorgehoben und die Propheten der Achsenzeit, Amos, Micha; Jeremia, später noch Nehemia, werden zitiert (Achsenzeit nach Jaspers 800–200 v. Chr.; nach Duchrow bis 700 n. Chr.; ebd. 73). Zentrale These von Duchrow ist es, »dass der Monotheismus im Judentum auf die Geldzivilisation antwortet « und zwar »mit einem Gegenentwurf, nämlich einem Gott der Gerechtigkeit und des Mitgefühls« (80). Umso unverständlicher die Auslassung der Worte Jesajas, dessen kategorischer Imperativ (Jesaja 58,6–12; hier nur der erste Absatz zitiert) für das Werk von Dorothee Sölle höchste Bedeutung hat (Sölle 1985, 57 f.): »Löse die Fesseln der Ungerechtigkeit – Sprenge die Bande der Gewalt – Gib frei die Mißhandelten – Jedes Joch sollt ihr zertrümmern.«
Weiter geht Duchrow dann noch auf Jesus und Paulus ein, der »die Alternative zum totalitären hellenistisch-römischen Reich – und implizit – dem späteren Kapitalismus über Jesu hinaus weiter« führt. (85). Es sieht durch Paulus – mit Bezug auf 1 Korinther. 1, 26–30 – eine »Bestimmung des revolutionären Subjekts bei Marx in gewisser Weise vorweg« genommen und hält dementsprechend fest: »Befreiung kann nur aus den unter dem System Leidenden kommen, nicht von oben.« (86). Aber wer an dieser Stelle weder die entscheidende lateinamerikanische Literatur zu Dekolonisierung und Befreiung (u. a. Dussel, Mignolo, Quijano, Santos) noch Frantz Fanons Manifest der Dritten Welt »Die Verdammten dieser Erde« zitiert, das für diese Prozesse konstitutiv ist, muss sich schon fragen lassen »In welchem Interesse?«
Dass es vieles Interessantes an Gerechtigkeitsvorstellungen und eine kritische »Auseinandersetzung mit der entstehenden Geldzivilisation« vor allem in den Kulturen der Achsenzeit gibt (87), steht außer Frage. Aber warum dann die kritische linke Literatur von Bloch bis Fromm zum »Atheismus im Christentum« und zur Aneignung des christlichen Glaubens als Herrschaftsideologie, als Praxis der Kolonisierung, so gänzlich am Rande behandeln? Da bleiben wir doch lieber bei Marx’ Aussage über Luther, deren Spur Duchrow jedoch nach der Wiedergabe der folgenden Zitation (95) nicht weiter verfolgt: »Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt.« (MEW 1: 386)
Ohne Zweifel ist Duchrow hier ebenso wie in den folgenden Unterkapiteln zu Marx gut mit dessen Werk vertraut. Aber im Zusammenhang des Fetischcharakters von Ware, Geld und Kapital (102 ff.) Karl Marx zum Theologen zu stilisieren, das entbehrt nicht einer gewissen Peinlichkeit. Und wenn in der Perspektive des Kapitals selbst der Schein entsteht, »als sei es als Kapital die Quelle alles Produktiven« (108), so heißt dies noch lange nicht, dass es zum Betreten des Reichs der Freiheit (so die folgende Unterkapitel-Überschrift; 109) einer neuen Theologie bedürfe (vgl. auch Jantzen 2010).
Vielmehr setzt die Auseinandersetzung mit der ideologischen Anrufung durch die Herrschenden einen Atheismus gegenüber jeglicher Herrschaft voraus, so Enrique Dussel. »Die Göttlichkeit des Kapitals zu negieren, dessen Kult der Internationale Währungsfonds (IWF) über allen Göttern und jeder Ethik pflegt, ist die Bedingung der Affirmation eines nicht deistischen Absoluten.« (Dussel 1989, 115). Und Paulo Freire spricht mit Bezug auf Marx’ Kapitalanalyse explizit von einem Antifetischismus gegenüber der fetischisierten (verdinglichten, scheinbar naturhaften) Oberfläche gesellschaftlicher Verhältnisse (Freire 1979, 85–98, zit. nach Dussel 2013a). Es gilt somit: »Der Andere ist das einzig heilige Seiende, das grenzenlosen Respekt verdient. « Um aber »die Stimme des Anderen zu hören, ist es an erster Stelle notwendig, atheistisch gegenüber dem System zu sein«. (Dussel 1989, 75)
Dussels 20 Thesen zu Politik (Dussel 2013b) kennt und zitiert Duchrow natürlich – muss er ja auch, da er das Vorwort geschrieben hat. Sie sind ohne Zweifel eine wichtige Orientierung auf dem Weg in das Reich der Freiheit. Aber dann bitte wirklich mit Bezug auf den »Atheismus im Christentum« (Bloch) bzw. einem christlichen Atheismus (Sölle 1992, insb. 53 ff.) und ohne jegliche Vertröstung auf ein himmlisches Reich. Halten wir es hier lieber mit unserer, von Walter Benjamin (1965) bemühten, »schwachen messianischen Kompetenz« und überlassen mit Heinrich Heine den Himmel den Engeln und den Spatzen.
Wer trotzdem an ein höheres Wesen glaubt, dem sei dies unbenommen, solange er sich nicht auf Erden auf die Seite der Herrschenden schlägt und die Unterdrückten in »gleichgültiger« Vernunft (»indifferencia«, so Papst Franziskus I.) bzw. »teilnahmsloser Vernunft« (»indolencia«, so Santos 2003) unsichtbar macht und in menschlichen Müll verwandelt (Aguiló 2013, Bauman 2005). Insofern ist das letzte Kapitel von Duchrows Buch, »Die interreligiöse Verwerfung der kapitalistischen Zivilisation und Papst Franziskus I« (Kap. 5; 119 ff.), nochmals von besonderem Interesse, da er sich dort »den Möglichkeiten befreiender Theologie und Religion« zuwendet (118).
Welche Zweige befreiender Theologie unterscheidet und analysiert Duchrow? Und was hebt er insbesondere an jener von Papst Franziskus hervor?
Im Wesentlichen sind es für ihn die »Biblisch-theologische Religionskritik und die Kairostheologie« (121 ff.), Letztere zurückzuführen auf das südafrikanische Kairos-Dokument von 1985 sowie neben dieser zweitens die »Bekennende Ökumene« (123 ff.) sowie drittens die Befreiungstheologie, zu welcher er auch Papst Franziskus rechnet (131 ff.). Aus dessen, nur relativ schmal ausgewerteten Schriften hebt er ein vierfaches Nein hervor:
»Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung […] Diese Wirtschaft tötet.« (133)
»Nein zur neuen Vergötterung des Geldes.« (134)
»Nein zu einem Geld das regiert, statt zu dienen.« (134)
»Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.« (135)

Keine Rede ist jedoch von den drei Grundforderungen,
den »drei T«: tierra, techo und trabajo – Erde, Dach und Arbeit. Und den »Schrei der Armen hören« (Duchrow ebd. 137) bedeutet, dies auch in praktischer Hinsicht zu tun und entsprechend den weiteren Passagen des Imperativs des Jesaja dem Hungrigen Dein Brot zu brechen, den Obdachlosen in Dein Haus zu führen, wenn Du einen nackt siehst, ihn zu kleiden, und Dich nicht Deinen Brüdern (wir würden ergänzen: Schwestern) zu versagen (vgl. Sölles Predigt zu diesem Thema; 1992 129 ff.). Von dieser Praxis im Marxschen Sinne, im Sinne von Franziskus oder im Sinne der wohl bedeutendsten evangelischen Befreiungstheologin Dorothee Sölle ist bei Duchrow nichts zu spüren.
Zur Frage des Schriftgelehrten an Jesus, bezogen auf das Beispiel vom barmherzigen Samariter »Wer ist mein Nächster?«, schreibt Sölle: »Wenn es stimmt, dass das ewige Leben davon abhängt, was zwischen Jerusalem und Jericho auf der Straße geschieht, dann ist diese Frage ›Wer ist denn mein Nächster?‹ ein Signal der Hölle.« (Sölle 1992, 58)
Und für eben diese Hölle stehen Luther, so zeigt die kritische Analyse seiner Schriften, ebenso wie ein als Autoritätssetzung verstandener Theismus.
»Der Maßstab ist allgemein. Und jeder Leidende ist unser Bruder – und jeder klagt uns an […] Wir haben ihn zu dem gemacht,
der er nun ist.« (Sölle ebd. 36)
»Die Wahrheit des Begriffs der Sünde [von Luther den Individuen als angeboren, als Erbsünde eingeschrieben; W. J.] erschließt sich in der politischen Dimension. Wenn Brecht sagt »daß alle Kreatur Hilfe braucht von allen«, so bedeutet das, dass die verweigerte Hilfe Sünde ist, eben die des Einverstandenseins mit den bestehenden Zuständen. Sünde ist Kollaboration«. (ebd. 37)
Reden wir also davon, dass der Mensch dem Menschen das höchste Wesen sei und deshalb – und niemals in Außerachtlassung dieses Zustandes im Konkreten – die Kritik der Religion zu dem kategorischen Imperativ gelangt und gelangen muss, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes ein verlassenes ein verächtliches Wesen ist« (Marx, MEW 1, 385). Und genau dies bedeutet gegenüber jeder konkreten Ausgrenzung eines Menschen unsere von Walter Benjamin (1965) zu recht hervorgehobene »schwache messianische Kompetenz« zu realisieren (vgl. meine Hommage für Neruda und Benjamin; Jantzen 2010).
Es gibt keinen Weg von Luther zu Marx, wohl aber einen vom Humanismus der biblischen Schriften, atheistisch gelesen, zu einem Gottesbegriff ohne jede Form von Theismus: Gott verstanden als die Summe aller guten und humanen Beziehungen untereinander, so Dorothee Sölle in ihren späteren Schriften mit Bezug auf die feministische Theologie von Carter Heyward (1986). Ich zitiere zusammenfassend aus Wikipedia, da ich ihr Buch durch die vor Jahren umzugsbedingte Auflösung großer Teile meiner Bibliothek z. Z. nicht unmittelbar zu Hand habe: »Carter Heyward betont die Beziehungsmacht als die Wirkweise des Göttlichen in der Welt. Für sie ereignet sich das Göttliche zwischen jedem Einzelnen und allem Seienden immer wieder neu. Gott ist ein Beziehungsgeschehen, das sich immer wieder neu vollzieht. »Gott ist Liebe – das beständige, unmittelbare Sehnen und Drängen, im gesamten Kosmos Gegenseitigkeit zu inkarnieren.« Diesen Gott gilt es zu verwirklichen. Diesen Prozess bezeichnet sie als »godding«, die Tätigkeit des Verwirklichens Gottes als Kraft der Beziehung in der Verb-Wortschöpfung »to god«. (https:// de.wikipedia.org/wiki/ Carter_Heyward, 13.9.2017). Entsprechend gibt es eine vierte Art der Teilhabe an der Schöpfung als Erweiterung zu den in »Lieben und Arbeiten – Eine Theologie der Schöpfung« von Sölle (1985) bemühten drei Arten unserer Teilhabe: »an der Erneuerung der Erde, an der Befreiung von Sklaverei und am Widerstand gegen den Tod und die todbringenden Mächte« (ebd. 212) – und dieses ist das, was uns als »Schüler von Marx und der Bibel« (Sölle 1992, 104), als SozialistInnen und wahre Christen und Christinnen vereint, so Sölle. Nun kommt hinzu, dass uns Gott selbst zu schaffen als vierte Art unserer Teilhabe an der Schöpfung aufgegeben ist, als unabgeschlossene Schöpfung des Sinns im Sein, als »schützendes Dach über unsere Köpfen« (Berger und Luckmann 1982).
Nein, es gibt keinen Weg von Luther zu Marx, um den Kapitalismus zu überwinden. Wie schon in der Großen Französischen Revolution geht es auch heute um eine »Zivilreligion«, die nicht Dienerin der Herrschenden ist. »Tugendhaft zu sein bedeutet, unablässig die Mühe dieses endlosen Aufstiegs auf sich zu nehmen.« (Wahnich 2016, 140) Insofern gilt der von Sophie Wahnich in ihrer eindrucksvollen Rekonstruktion der Prozesse der Revolution zitierte Satz von St. Just auch heute noch uneingeschränkt: »Die Unglücklichen sind die Macht der Erde, sie haben das Recht, zu den Regierungen, die sie vernachlässigen, als Herren zu sprechen.« (ebd. 137) »Diese Unglücklichen sind keine leidenden Körper, sondern sprechende Subjekte.« (ebd.)
Dem ist nichts hinzuzufügen.

1 Vgl. Toulmin 1983, 253 ff. zur Entwicklung des abstrakten Denkens in Babylon als handwerkliches Denken in der Registrierung der Bewegung der Himmelskörper vs. wissenschaftliches Denken im mittelalterlichen Islam durch die arabischen Hofärzte in den Traditionen der griechischen Naturwissenschaften.
2 Mynarek war ordentlicher Professor für Theologie, bis er 1972 aus der katholischen Kirche austrat.
3 WA = D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 1: Schriften, Weimar 1883 ff.
4 »Unersättlich wie die Haltlosen sind die Frauen.…«

Literatur:

Aguiló, Antoni (2013): Die Würde des Mülls – Globalisierung und Emanzipation in der sozial- und politischen Theorie von Boaventura de Sousa Santos. Berlin: Lehmanns Media

Bachmann, Walter (1985): Das unselige Erbe des Christentums: Die Wechselbälge. Gießen: Verlagsanstalt

Bauman, Zygmunt (2005): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten in der Moderne.Hamburg: Hamburger Edition

Benjamin, Walter (1965): Geschichtsphilosophische Thesen. In: ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 78-94

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1982): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer

Bloch, Ernst (1985): Atheismus im Christentum. Frankfurt/M.: Suhrkamp (a)

Bloch, Ernst (1985): Thomas Münzer als Theologe der Revolution. Frankfurt/M.: Suhrkamp (b)

Boff, Leonardo (2016): Interview „Arm ist man nicht, arm wird man gemacht“. Interview mit der Frankfurter Rundschau 27.12.2016. >http://www.fr.de/kultur/interview-arm-ist-man-nicht-arm-wird-man-gemacht-a-734522< (13.09.2017)

Dussel, Enrique (1989): Philosophie der Befreiung. Berlin: Argument

Dussel, Enrique (2013): Die Bewusstmachung (»concientización«) in der Pädagogik von Paulo Freire. In: Behindertenpädagogik 52, 3, 229-242 (a)

Dussel, Enrique (2013): 20 Thesen zu Politik. Münster: LIT (b)

Fanon, Frantz (1969): Die Verdammten dieser Erde. Reinbek: Rowohlt

Freire, Paulo, (1979): Educaçâo e Mudança (Erziehung und Veränderung). Río: Paz e Terra,

Fromm, Erich (1963): Das Christusdogma und andere Essays. München: Szczesny

Heyward, Carter (1984): Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung. Stuttgart: Kreuz

Hinkelammert, Franz & Mora Jimenez, Henry (2005): Hacia una economía para la vida. San José: DEI

Jantzen, Wolfgang (2010): Achtsamkeit und Ausnahmezustand – eine Hommage an Walter Benjamin und Pablo Neruda. In: Behindertenpädagogik 49, 71-85

Jantzen, Wolfgang (2013): Marxismus als Denkmethode und Sicht auf die Welt – eine ständige Herausforderung auch im 21. Jahrhundert? Jahrbuch der Luria-Gesellschaft. Bd. 3. Berlin, S. 10-28. >http://www.marx-engels-stiftung.de/Texte/Jantzen_Marxismus-als-Denkmethode.pdf<  (29.03.2015)

Jantzen, Wolfgang (2017): Mensch, Natur, Kapital und Befreiung – mit Marx über Marx hinaus. Reflexionen über zwei neu erschienene Bücher. In: Marxistische Blätter 55 (2017) i.V.

Lukács, Georg (1983,1983, 1984): Die Zerstörung der Vernunft. Bd. I-III. Neuwied: Luchterhand. 3. bzw. 4. Aufl.

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Marx, Karl (1979): Das Kapital. Bd. 1. MEW Bd. 23. Berlin: Dietz

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Mahlstedt, Ina (2010): Rätselhafte Religionen der Vorzeit. Stuttgart: Theiss

Mignolo, Walter D. (2013): Epistemischer Ungehorsam. Wien: Turia & Kant

Mynarek, Hubertus (2012): Luther ohne Mythos. Freiburg. Ahriman

Quijano, Aníbal (2013): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika. Wien: Turia & Kant

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Santos, Boaventura S. (2003): Crítica de la razón indolente. Contra el desperdicio de la experiencia. Para un nuevo sentido común: la ciencia, el derecho y la política en la transición paradigmática. Bilbao: Desclée de Brouwer

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Sölle, Dorothee (1985): Lieben und Arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung. Stuttgart: Kreuz

Sölle, Dorothee (1992): Das Recht auf ein anderes Glück. Stuttgart: Kreuz

Sohn-Rethel, Alfred (1991): Warenform und Denkform. Aufsätze. Frankfurt/M.: EVA

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