August Spies und die »Chicagoer Idee«

Am 11. November 2017 jährt sich zum 130. Mal die Hinrichtung der damals unschuldig verurteilten Gewerkschafter in der berüchtigten Haymarket-Affäre. Auf die Ereignisse vom Chicagoer Haymarket ging später die Ausrufung des 1. Mai als Kampftag der ArbeiterInnenklasse durch die 2. Internationale zurück. Mit August Spies wurde nun einem zentralen Protagonisten der Haymarket-Affäre eine Ausstellung gewidmet. Ein Autorenkollektiv der Kasseler August Spies Gesellschaft e.V. stellt uns Wirken und Bedeutung des Revolutionärs aus Nordhessen vor. Im untenstehenden Interview zu »Klassenbewusstsein und Charisma« erfahren wir mehr über die Spies-Gesellschaft und ihre Absichten.

 

 

Der 1. Mai 1886 und die darauf folgende Welle der Repression durch Polizei, Justiz und private Schlägerbanden der Industriellen stellen ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte der amerikanischen ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts dar. Voraus ging diesem die Formierung der »Achtstundenbewegung«, die auf eine Verkürzung des Arbeitstags zielte. Am 1. Mai traten 300.000 ArbeiterInnen in 13.000 Betrieben der Vereinigten Staaten in den Ausstand. In Chicago, dem Streikzentrum, waren es allein 40.000 Streikende. Seit Monaten schon bestimmten fiebriger Aktionismus und eine spannungsvolle Erwartungshaltung das soziale Klima der Stadt. Hingebungsvolle und unnachgiebige Agitation bescherte den Gewerkschaften wöchentlich starke Zuwächse und trug so zu einer breiten ArbeiterInnenbewegung bei.

Rückblende

Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 hatte sich Chicago schnell zu einem Zentrum der US-amerikanischen Industrialisierung entwickelt. Der Bevölkerungszuwachs war enorm: Zwischen 1860 und 1890 stieg die Zahl der EinwohnerInnen von 100.000 auf knapp eine Million an. Chicago war durch die geographische Lage Verkehrsknotenpunkt und das Tor in den Westen. In den Schlachthöfen, dem größten Wirtschaftszweig der Stadt, wurde das erfunden, was später von Frederick Taylor und Henry Ford zur Grundlage der industriellen Massenproduktion erhoben wurde. Auch Holzverarbeitung, Möbelproduktion sowie Textil- und Stahlindustrie sorgten für reichlich Nachfrage nach billiger Arbeitskraft. Chicago wurde zum Magneten für Menschenmassen aus aller Herren Länder auf der Suche nach Arbeit, und es war das Mekka für kapitalistische Unternehmer – ein wahres Pulverfass. Denn Chicago war auch die sozialistische Hochburg unter den amerikanischen Großstädten. Die ArbeiterInnenklasse war hier äußerst vital. Die widrigen Existenzbedingungen und die Unzufriedenheit der ArbeiterInnen bildeten einen fruchtbaren Nährboden für die radikalen Ideen, die sie zum Teil aus Europa mitbrachten. So bedurfte es nur eines Funkens, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen.

»The Great Upheaval« und die Folgen

Einen solchen Funken stellten die Lohnkürzungen bei der »Baltimore & Ohio Railroad« von 1877 dar. Als Protest gegen die Lohnkürzungen legten die Beschäftigten in einer kleinen Stadt in West Virginia die Arbeit nieder und entfachten damit den großen Eisenbahnstreik, den ersten Massenstreik in der US-Geschichte, der den gesamten Mittleren Westen ergriff. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Streikaktivitäten entlang des Schienennetzes (siehe Bild Seite 1). Nicht selten waren die lokalen Ordnungskräfte überfordert. Für die Geschäftsinteressen der Eisenbahnbarone wurde schließlich die Nationalgarde zur Niederschlagung der streikenden Zivilisten eingesetzt. Es waren gut sechs Wochen im Sommer 1877 voller spontaner, unkoordinierter und unkontrollierter Gewalteruptionen. Auch in Chicago eskalierten die Streiks im Sommer 1877 beim berüchtigten »Battle of the Viaduct«, wo die Polizei drei Tage lang gegen böhmische Schlachter vorging (S. 3). Eine Versammlung der Möbelschreinergewerkschaft wurde ebenso Opfer eines brutalen Überfalls der Ordnungskräfte (S. 4). Zahlreiche Arbeiter fanden bei diesen Angriffen den Tod. Die brutale Niederschlagung der Proteste löste großes Entsetzen unter den ArbeiterInnen aus. Viele von ihnen sahen die Notwendigkeit einer klassenbewussten Organisierung gekommen.

 

Auch auf August Spies hatten die Ereignisse um den railroad strike eine starke Wirkung (S. 5). Im Alter von nur 17 Jahren war der nordhessische Emigrant aus seinem Heimatort Friedewald in die USA gekommen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Angekommen in New York, wo er bei Verwandten unterkam, ließ er sich schließlich als Möbelmacher in Chicago nieder. Das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte gegen Streikende, das er in Chicago erlebte, führte 1877 zu seinem Eintritt in die »Socialist Labor Party« (SLP). Bereits in den zwei Jahren zuvor hatte er ein ausgeprägtes gesellschaftstheoretisches Interesse entwickelt, nachdem ihn ein Freund mit zu einer politischen Arbeiterversammlung genommen hatte. In der Folge hatte Spies alles an marxistischer, anarchistischer und sozialistischer Literatur gelesen, was ihm in die Hände kam. Es war aber nicht die Theorie, die den begabten Autodidakten bekannt machen sollte. Vielmehr war es sein unnachgiebiger Einsatz als Organisator und Agitator, der den Nordhessen zu einem wichtigen Intellektuellen der Chicagoer ArbeiterInnenbewegung machte. Anhand seiner Biographie lassen sich die Klassenauseinandersetzungen nachvollziehen, die mit der Formierung der Achtstundenliga zu den umfangreichsten Mobilisierungen von Arbeiterinnen und Arbeitern in der US-amerikanischen Geschichte führten.

 

Für August Spies und viele andere ließen die blutigen Erfahrungen aus den Streiks im Sommer 1877 zwei Schlüsse zu: Zum einen musste sich das Proletariat selbst verteidigen können, weshalb die Bewaffnungsfrage praktisch vorangetrieben und Arbeitermilizen (Lehr- und Wehrverein, Bohemian Sharpshooters, Irish Labor Guards) aufgestellt wurden (S. 6). Zum andern setzte man zur Formierung der Klasse auf die parteipolitische Karte. Beide Entwicklungen trieb Spies stark voran. Im Sommer 1878 lernte er Albert Parsons kennen, der als Kandidat für die SLP bereits Bekanntheit erlangt hatte (S. 8). Gemeinsam wurden sie zu den maßgeblichen Organisatoren und Agitatoren des sozialrevolutionären Flügels in Chicago – zunächst für die Partei. Das offensive Auftreten der Arbeitermilizen führte jedoch schon bald zur Spaltung der SLP. Wahlbetrug, Wählerschwankungen sowie die korrumpierende Effekte des repräsentativ-parlamentarischen Systems waren weitere Gründe dafür, dass die militanten Teile der ArbeiterInnenbewegung allmählich vom parlamentarischen Weg des Klassenkampfes abrückten Diese Enttäuschungen führten nach und nach zu einer Verschiebung der Aktionsschwerpunkte und zur Herausbildung eines sozialrevolutionären Flügels der Chicagoer ArbeiterInnen.

Die Chicagoer Idee

Nach dem Bruch mit der SLP intensivierten die Sozialrevolutionäre die gewerkschaftliche Organisationsarbeit und ihre politische Agitation. In der Folge bildete sich eine überaus vitale und militante ArbeiterInnenkultur heraus, die ihre Wirkung weit über die eigenen Kreise entfaltete. Auf politischer, kultureller und gewerkschaftlicher Ebene wurde die Stärkung eines revolutionären Klassenbewusstseins vorangetrieben.

In London war 1881 auf dem sogenannten Anarchistenkongress die Internationale Arbeiter-Assoziation, die IAA, wiederbelebt worden. Auf dem Pittsburgh Kongress von 1883 machten sich die Chicagoer ihre Prinzipien mit dem »Pittsburgh Manifest« zu eigen und gründeten die »International Working People‘s Association« (IWPA). Ihr Leitgedanke lautete: »Agitation for the purpose of organization – organization for the purpose of rebellion«. Sie bildete ab sofort die politische Klammer der Chicagoer Aktivitäten. Es ging darum, die Lohnsklaverei abzuschaffen und durch ein System der umfassenden Kooperation zu ersetzen. Auf Stadtteilebene bildeten sich zahllose, autonom organisierte Clubs und Gruppen. Es waren Orte der Bildung, Diskussion, Agitation und der Erprobung der eigenen Selbstwirksamkeit; durch solche Zusammenhänge hatte man eine starke Präsenz in den Vierteln und Nachbarschaften. Ihr gemeinsamer Nenner war die IWPA.

Mit der »Central Labor Union« schuf man sich einen eigenen Gewerkschaftsverband, mit dem die revolutionären Bestrebungen vorangebracht werden sollten. Im Frühjahr 1886 hatten die Sozialrevolutionäre die elf größten Gewerkschaftsgruppen der Stadt organisiert und wurden zur zwar äußerst umstrittenen, aber eben auch treibenden Kraft in der Achtstundenbewegung. Zudem verfügten die Sozialrevolutionäre über ein umfassendes Zeitungswesen, mit dem sie zu einer klassenbewussten Gegenöffentlichkeit beitrugen. Hierzu betrieben sie nicht weniger als sechs Tages- und Wochen-Zeitungen in insgesamt vier Sprachen. Sie wurden zum intellektuellen Sprachrohr der Bewegung und berichteten fortwährend über die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen. Der größten Zeitung, der deutschsprachigen »Chicagoer Arbeiter-Zeitung« (Auflage ca. 20.000), saß August Spies seit 1880 als gewählter Geschäftsführer und später als Chefredakteur vor (S. 7). Darüber hinaus nutzten die Chicagoer Sozialrevolutionäre jede Gelegenheit, vornehmlich säkulare und religiöse Feiertage, um ihre Positionen auch im gesellschaftlichen Alltag als Gegenkultur zu etablieren. Die Vielzahl an Theaterstücken, Festen, Bällen, Umzügen und Massenpicknicks trugen einen nicht geringen Teil dazu bei, dass die bürgerlichen Kräfte das Proletariat Chicagos als ernsthafte Bedrohung wahrnahmen.

Diese einzigartige Konstellation ist von einigen HistorikerInnen als »Chicago Idea« bezeichnet worden. In ihr kommt auch die eigentümliche und undogmatische Ausrichtung der Bewegung zum Ausdruck: Die Sozialrevolutionäre nannten sich durchaus mit Stolz Anarchisten, allerdings waren sie keine Verfechter der reinen Lehre. Sie waren in der Analyse grundlegend marxistisch und hinsichtlich gegenwärtiger und künftiger Organisationsformen stark anarchistisch geprägt. Nicht zu Unrecht ist die Chicagoer Idee als historischer Vorläufer des europäischen Anarcho-Syndikalismus bezeichnet worden. Maßgebend war die Einsicht in die Notwendigkeit, auf die Herausbildung einer radikalen proletarischen Bewegung innerhalb der Klasse zu drängen, ohne sich hierbei in metaphysischen Spitzfindigkeiten und Richtungsstreits zu verlieren. In den Worten Albert Parsons: »Man nennt uns Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten – wir akzeptieren alle drei Bezeichnungen.«

Erfolg und Tragödie

Die Massendemonstrationen am 1. Mai 1886 waren zunächst friedlich und ohne gewaltsame Eingriffe verlaufen. Am 3. Mai jedoch kam es vor der Erntemaschinenfabrik McCormick zu einer Auseinandersetzung zwischen Streikbrechern und ausgesperrten Arbeitern, bei der die Polizei zwei Arbeiter erschoss (S.e 9). In unmittelbarer Nähe agitierte Spies auf einer von der »Central Labor Union« organisierten Veranstaltung (S. 10). Als Pistolenschüsse zu hören waren, eilte er zur McCormick-Fabrik und sah mit Entsetzen die Toten auf der Straße liegen. Daraufhin wurde für den 4. Mai eine Versammlung auf dem Haymarket einberufen (S. 11). Spies eröffnete die Kundgebung, der zunächst zwischen zwei- und dreitausend TeilnehmerInnen beiwohnten. Die Ausführungen der Redner waren gemäßigt. Selbst dem kontrollierenden Blick des Chicagoer Bürgermeisters bot sich nichts Verdächtiges, weshalb er den Heimweg antrat. Als die Ansammlung sich langsam zu zerstreuen begann, marschierte eine Polizeieinheit auf und befahl, dass die Versammlung sich aufzulösen habe. Kaum waren die Worte ausgesprochen, warf eine (bis heute unbekannt gebliebene) Person eine Bombe in die Reihen der Polizisten (S. 12). Die Explosion riss den Polizisten Mathias J. Degan sofort in den Tod, Panik brach aus und die Polizei eröffnete blind das Feuer. Eine ungeklärte Zahl von Zivilisten starb im Kugelhagel, sechs weitere Polizisten erlagen ihren Verletzungen.

 

Am nächsten Tag eröffnete die Chicagoer Polizei die Hatz auf organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie stürmte Zeitungsbüros, Versammlungslokale und Privatwohnungen; Durchsuchungen ohne richterliche Beschlüsse, Misshandlungen und die Platzierung falscher Beweise gehörten dazu (S. 13). Spies selbst wurde bei seiner Arbeit in den Redaktionsräumen der Arbeiter-Zeitung verhaftet und neben unzähligen Personen in das Cook County Gefängnis gebracht. Ein dunkles Kapitel US-amerikanischer Prozessgeschichte nahm seinen Lauf: der Prozess gegen Spies und sieben weitere Gewerkschafter wegen Mordes an dem Polizisten Degan (S. 14). Der verantwortliche Richter manipulierte die Auswahl der Geschworen derart, dass es den Verteidigern unmöglich war, für ein Mindestmaß an Ausgewogenheit zu sorgen. Die Aussagen der durch die Staatsanwaltschaft aufgebotenen Zeugen waren nicht nur widersprüchlich, sie waren nachweislich von der Chicagoer Polizei erpresst oder durch Bestechung eingeleitet worden. Trotz sämtlicher Bemühungen konnte der Bombenwerfer nicht unter den Angeklagten ausgemacht werden, woraufhin die Staatsanwaltschaft kurzerhand die Anklage in »Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes« umformulierte. Das genügte den Geschworenen, um sieben Todesurteile und eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren zu verhängen. Kurz vor der Hinrichtung begnadigte der Gouverneur zwei Verurteilte und Louis Lingg nahm sich in seiner Zelle selbst das Leben (S. 16). So beschritten am 11. November 1887 Georg Engel (S. 15), Adolph Fischer (S. 15), Albert Parsons und August Spies den Galgen und im Namen des Staats Illinois wurde das Urteil vollstreckt (S. 17). 20.000 Menschen begleiteten die vier Särge schließlich zum Waldheim Friedhof – der größte Trauerzug, den die Stadt Chicago erlebt hat.

Das Erbe

Die Hingerichteten der Haymarket-Affäre galten vornehmlich in anarchistischen Kreisen lange als Helden. Weltweit lassen sich Spuren des Gedenkens ausmachen (S. 19). In den USA hat Lucy Parsons Zeit ihres Lebens das Erbe aufrechterhalten und mit ihrem Engagement in die »International Workers of the World« getragen (S. 20). Aber auch nach Europa führen Spuren – zum französischen Syndikalismus: Émile Pouget lobt den Willen zur Organisation und die direkte Aktion; er fordert zum 1. Mai 1901 in der einflussreichen Arbeiterzeitung »La Voix du Peuple«: »Imitieren wir die Amerikaner!« Über August Spies schreibt Enzensberger in einer der wenigen deutschsprachigen Publikationen: »Es ist ein Unrecht, dass die Deutschen diesen hessischen Schreiner, Publizisten und Revolutionär vergessen haben.«