Einer vom Bau

Wenn große Jubiläen der Zeitgeschichte drohen, sollte man den Kopf einziehen und in Deckung gehen. Die Betonbrocken des Zeitgeistes, sie werden gerne „Aufarbeitung“ und „Gedenkkultur“ genannt, fliegen dann auf kaum zu berechnende Weise durch die Luft. Geschichte „passiert“ aber nicht, sie ist menschengemacht. Die Handelnden lassen sich namhaft machen. Und den Verlierern, zumal sie immer Ideen-Träger sind, sucht man zumindest geistig ganz persönlich den Garaus zu bereiten. Die Verlierer-Eliten müssenabgeschaltet werden. Die Person ist dabei egal, es geht um das Ausmerzen der Idee, deren Wiedergängertum die Sieger einen Riegel vorschieben müssen. Dieses Muster zieht sich durch die Geschichte aller Zeiten (2. Buch Mose: „[...] aber ungestraft lässt ER niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“), das wird so bleiben, bis mindestens die vierte Generation nach dem Ableben der letzten „Zeitzeugen“ das Zeitliche gesegnet hat.
Hier soll von einer Persönlichkeit berichtet werden, die in ihrer Hoch-Zeit nicht unwesentlich daran beteiligt war, der DDR-Hauptstadt ein neues Gesicht zu geben. Die Rede ist von Günter Peters, jahrelang Stadtbaudirektor im Magistrat von Ost-Berlin und einem der „Schuldigen“ an der Errichtung der Großsiedlungen am Ostrand der Stadt. Peters, 1928 in Waren/Müritz als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren, absolvierte von 1947 bis 1949 ein Bauingenieursstudium und war bereits 1952 Ministerialbaudirektor in Mecklenburg. Im September 1974 wurde er der erste (kommissarische) Aufbauleiter Berlin-Marzahns. Da war er schon gute acht Jahre Bezirksbaudirektor Berlins. Die erste „Platte“ wurde in Marzahn übrigens erst am 18. Juli 1977 gesetzt. Entgegen der „Gummistiefel“-Legenden begann man mit Infrastrukturbauten.
Wer sich genauer mit der Geschichte der DDR-Eliten beschäftigt, weiß, dass solche Laufbahn kein Einzelfall war. Dieses „von unten auf“ war politisches Kalkül und sollte für eine historische Nachhaltigkeit des ersten sozialistischen Experimentes auf deutschem Boden sorgen.
Allerdings: Das Kollektiv war alles, der Einzelne wenig – letztendlich ignorierte man eine sehr grundsätzliche nicht nur marxistische Erkenntnis: Die Qualität eines Kollektives ist immer abhängig von der Qualität seiner einzelnen Mitglieder – undlast but not least von der Befähigung wiederum eines Einzelnen, ebendiese Fähigkeiten der Vielen zugunsten einer gänzlich neuen Qualität zum Tragen zu bringen. Man darf das getrost als conditio sine qua non, als Bedingung ohne die nichts, jedenfalls nichts richtig geht, bezeichnen.
Mit dem heute eher vorherrschenden „Peter-Prinzip“ der Hierarchisierung der Unfähigen wäre Marzahn niemals gebaut worden – jedenfalls nicht in seinen heutigen Dimensionen, nicht in der vergleichsweise geringen Zeit und erst recht nicht mit der sicherlich mit einigen Abstrichen zu registrierenden nachhaltigen stadtentwicklerischen und baulichen Qualität. Heute läuft die übrigens wiederum Gefahr, auf dem Altar erneuten – diesmal politisch „gemachten“ – Wohnungsmangels geopfert zu werden. Dass mit der Planung und dem Bau Marzahns ein städtebaulicher Paradigmenwechsel in der DDR vollzogen wurde, der eben nicht nur auf neuen Wohnraum auf Teufel komm raus aus war, macht sich auf treffliche Weise im Vergleich zum Beispiel mit Hoyerswerda oder Halle-Neustadt deutlich.
Dem Team um Günter Peters ging es auch um die Schaffung von Heimat, von einem Ort des Wohnens und Arbeitens mit dem Identifikation möglich war, der sich organisch an den vorhandenen Stadtorganismus anschließt und im Neuen durchaus Kontinuität wahrt. Wer sich mit der Geschichte der Stadtplanungen für den Berliner Osten seit Kaisers Zeiten beschäftigt wird feststellen, dass die ersten Vorarbeiten für eine städtebauliche Erschließung der Gebiete östlich des Berliner S-Bahn-Ringes bis zur heutigen Stadtgrenze bis in das Jahr 1910 zurückreichen. Auch die Grundidee der Entwicklung unterschiedlicher Funktionsbereiche (Wohnen, Arbeiten, Erholen) stammt aus dieser Zeit und droht ebenfalls derzeit erstmals seit über 100 Jahren wieder über den Haufen geworfen zu werden.
Der erwähnte Paradigmenwechsel war nicht nur für die DDR etwas Neues. Man schaue nur auf die städtebaulichen Fehlentwicklungen der Pariser Banlieu oder etwas kleindimensionierter auf Bremen-Tenever. Aber wer das begreifen will, muss auch hinsehen wollen und die ideologischen Scheuklappen ablegen. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen durchaus progressiv denkenden Nachwende-Bausenator, der angesichts der Marzahner Hochhäuser heftige Abrissvisionen hatte und von Birkenwäldchen träumte. Mit seinen Abrissvisionen scheiterte er. Einigen Schaden richtete er dennoch an. Es mutet schon wie ein Treppenwitz der Stadtgeschichte an, dass ausgerechnet dort, wo 2002 in Marzahn das erste Hochhaus fallen musste, wieder mehrgeschossiger Neubau mit einer erheblichen Verdichtung stattfindet.
Dieser Bausenator hatte übrigens einen Senatsbaudirektor, der 2001 amerikanischen Investoren (instinktloserweise wenige Tage nach „Nine-Eleven“) gegenüber bei der Besichtigung der Rathauspassagen davon schwadronierte, dass man auf diese eigentlich nur „eine Bombe schmeißen“ könne. Diese Pöbelei hatte nicht nur damit zu tun, dass für diesen Fan der Blockrandbebauung die Architekturgeschichte mit Ludwig Persius stehen geblieben war. Es ging ihm um die grundsätzliche Ablehnung des in der DDR Geschaffenen. Es ging ihm damit um die Pulverisierung der Lebensleistung von Menschen, die für dieses System standen. Konkret auch die von Günter Peters, der die zitierten Rathauspassagen (an denen übrigens auch der „Palast“-Architekt Heinz Graffunder beteiligt war) politisch mit zu verantworten hatte.
Peters war seit 1966 Stadtrat und mit einer kurzen Unterbrechung bis 1981 Bezirksbaudirektor im Magistrat der Hauptstadt der DDR. Ab 1975 war er zudem Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Investitionen und Bauwesen. Unter seiner Leitung wurde das neue Antlitz der Hauptstadt förmlich aus dem Boden gestampft. Er verantwortete die Umgestaltung und Modernisierung des Berliner Stadtzentrums ab 1966 mit dem Alexanderplatz, dem Leninplatz, der Fertigstellung der Straße Unter den Linden – die „Linden“ waren wirklich einmal fertig ... – , das Areal rund um den Fernsehturm mit den erwähnten Rathauspassagen, der Karl-Liebknecht-Straße inklusive des Palast-Hotels, den Palast der Republik selbst; dazu die Großsiedlungen am Fennpfuhl, Hohenschönhausen, Marzahn, die Planungen für Hellersdorf und das Industriegebiet Lichtenberg-Nord-Ost.
Das, was heute als „behutsame Stadterneuerung“ bekannt ist, wurde von ihm mit eingeleitet. Noch in den 1970er Jahren wurde begonnen, den stupiden Abriss der Mietskasernen rund um den Arkona-Platz zu stoppen. Nach einer vorsichtigen Entkernung konnten immerhin aus circa 8000 Wohnhöhlen zumeist mit dem Standard des Jahres 1900 in den Seitenflügeln und „Gartenhäusern“, wie man in Berlin verschämt die Hinterhäuser nannte, bis 1984 6000 Wohnungen mit guter Wohnqualität entstehen.
Berlin hat Menschen wie Günter Peters viel zu verdanken. Im Vorfeld des 80. Geburtstages von Günter hatte ich ihn für die Verleihung des Verdienstordens des Landes vorgeschlagen. Die Antwort der Senatskanzlei Klaus Wowereits war lapidar: Man wisse um die Verdienste des Vorgeschlagenen, könne dem Vorschlag aber aufgrund der erheblichen Systemnähe nicht entsprechen. Stattdessen solle man doch für ihn das Bundesverdienstkreuz beantragen. Das wäre unproblematischer. Abgesehen davon, dass die höchste Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland quasi als billige Massenware betrachtet wurde, wurde damit seitens einer ostdeutschen Landesregierung die Lebensleistung von Generationen stellvertretend in Gestalt einer herausragenden Persönlichkeit mit dem berüchtigten „kann-weg-Vermerk“ versehen. Es spielte keine Rolle, dass diese Menschen aus der Trümmerlandschaft bei Potsdam – wie Brecht sie voller Erschütterung erlebte – wieder eine lebens- und liebenswerte Stadt machten. Der Wiederaufstieg Berlins zu einer weltweit geachteten und geschätzten Metropole wäre ohne ihre Arbeit nicht denkbar.
Semantisch gesehen ist „systemnah“ völliger Quatsch. Versteht man unter „System“ die untergegangene zweite deutsche Republik, dann waren Menschen wie Peters „das System“. Sie waren dem nicht irgendwie „nah“, sie verkörperten es. Nicht zufällig verlieren die gegenwärtigen politischen Eliten dieser Republik zunehmend an Akzeptanz vor allem im Osten des Landes, weil sie eben solche Lebensleistungen nach wie vor nicht anzuerkennen gewillt sind.