Bildung und Netz

Wenn von Mängeln im Bildungssystem und über Wege zu deren Behebung gesprochen wird, ist sehr schnell von Digitalisierung die Rede, oft freilich, ohne dass dieses Schlagwort inhaltlich weiter ausgeführt wird. Als Allheilmittel taugt die Digitalisierung im Bildungswesen jedenfalls nicht, resümiert Markus Deimann.

"Die Unbekanntheit der Zukunft, erfahren und bewältigt als Krise, ist die Integrationsform der nächsten Gesellschaft"1.

Das Internet trat einmal an als das Leitmedium einer neuen, vernetzten, friedlichen und offenen Gesellschaft, die sich von all den Komplikationen der materiellen Welt befreit hat und den Menschen völlig neue Möglichkeiten zur Vernetzung und Vergemeinschaftung bot. Ein unregierbarer virtueller Raum, das Cyberspace, wurde 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos von John Perry Barlow proklamiert. Mit den Werkzeugen des Web 2.0 wie Wikis, Blogs und Podcasts konnten Versprechungen, wie mehr Teilhabe von Bürger*innen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, tatsächlich eingelöst werden. Als Ende 2010 und im weiteren Verlauf des folgenden Jahres in mehreren nordafrikanischen Staaten Protestbewegungen zu politischen Umstürzen führten, wurde das auch als Erfolg von Social Media gewertet. Zumindest für eine Zeit lang.

Ambivalente Freiheitsversprechen

Spätestens mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsident kam auch eine andere Seite des Internet ans Tageslicht. So wurde etwa das Phänomen "Alternative Facts"2 weltweit publik und wies auf eine längere, bis dahin im Verborgenen ablaufende Entwicklung hin, die auch als eine kulturelle Ausprägung des Cyberspace betrachtet werden kann. Damit gemeint ist, dass die Freiheitsversprechen des Internets nicht per se für positive Zwecke genutzt werden, sondern auch für das Gegenteil. Dafür haben Internet-Serviceprovider und Geheimdienste ein ganzes Arsenal an Technologien entwickelt, die u.a. beim sog. Cambridge Analytica-Skandal zum Einsatz kamen. Dabei handelte es sich um die Manipulation der Informationsdarbietung im Sinne eines A/B-Tests, wie zum Beispiel wenn einer Gruppe ohne deren Wissen (und Einverständnis) ausschließlich negativ gefärbte Nachrichten angezeigt werden. Ähnlich wirken auch Filterblasen, bei denen Algorithmen aufgrund des Nutzerverhaltens die sog. Timeline bestimmen. Es geht hierbei nicht um umfassende Aufklärung, sondern um Maximierung des Profits der Konzerne und so werden nur Nachrichten angezeigt, die der eigenen Weltsicht entsprechen, damit man auch möglichst lange auf der Plattform bleibt.

Wie sehr diese digitalen Entwicklungen auf die physische Welt mittlerweile ausstrahlen, zeigte sich kürzlich, im Spätsommer 2018 bei den Ausschreitungen in Chemnitz. Digitale Medien werden zugleich als Werkzeuge der Vergemeinschaftung als auch zur virtuellen und realen Gewaltanwendung gegen bestimmte Gruppen eingesetzt. Die digitalen Netzwerke passen perfekt zu den seit langer Zeit aufgebauten Strukturen in rechtsradikalen Milieus. Aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums können Mobilisierungsschübe durch das digitale Netz ausgemacht werden, etwa bei den Protesten rund um den Hambacher Forst, die ebenfalls im Spätsommer 2018 medial präsent waren.

Das Internet kann so als digitaler Kulturraum mit ambivalenten bzw. paradoxen Tendenzen aufgefasst werden. Diese sind bildungswirksam, d.h. sie schaffen unterschiedliche Möglichkeiten für Bildungsprozesse. Je nach Konfiguration der Netzwerke, die sowohl im digitalen wie im analogen Raum präsent sind, gestaltet sich Bildung anders. Die vielfach beschworene Kraft der Bildung zu mehr Aufklärung und Humanität relativiert sich dadurch, denn Bildung ist nicht außerhalb von Netzwerken zu denken, sondern konstitutiv darin verwoben. Durch digitale Infrastrukturen werden die Organisationsstrukturen der Netzwerke deutlicher und von ökonomischen Interessen ("Plattformkapitalismus") überlagert und verstärkt.

Mit dem vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, ein Bildungs- und Technikverständnis zu entwickeln, das sich an den Prinzipien von Netzwerkstrukturen und deren Funktionsweisen orientiert.

Bildung als in Netzwerken eingelagerter Prozess

Bildung wird spätestens seit Wilhelm von Humboldt verstanden als Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit sich, mit anderen und der Welt. Dabei kommt es zu Transformationen der Welt- und Selbstverhältnisse, die sich über einen längeren Zeitraum dann in der persönlichen Lebensgeschichte niederschlagen. Bildung hilft so, sich in der Welt zu orientieren und kompetent darin zu handeln. Gerade in Zeiten von Umbrüchen, Krisen und Konflikten werden Bildungsprozesse wirksam, da sie neue Denk- und Handlungsoptionen eröffnen.

Soweit die idealistische Konzeption. Was hier ausgeblendet ist und im Anschluss an Humboldt von der kritischen Bildungstheorie thematisiert wird, sind die vielfältigen sozialen, ökonomischen und politischen Einflüsse der Welt und der Gesellschaft. Wie in den Arbeiten von Foucault3 deutlich wird, wirken diese als ein Netz aus Macht- und Herrschaftsformen auf den Einzelnen und schränken dadurch auch die Bildungsmöglichkeiten ein. So galten etwa zu Zeiten des Nationalsozialismus bestimmte Kunstwerke als "entartet" und Bücher verschiedener Autor*innen wurden öffentlich verbrannt. Die Netzwerke, bestehend u.a. aus Kindergärten, Schulen und Universitäten, waren politisch kontrolliert und ideologisch unterfüttert und ließen kaum Raum für alternative Zugänge zu Bildungsangeboten. Ziel war die "totale Erziehung" zur Durchsetzung einer rassistischen Ideologie, die sich über mehrere Zeitabschnitte realisieren sollte.

Nach dem Ende der Nazi-Diktatur wurde das Netzwerk von den Alliierten umgebaut mit dem Ziel der "Re-Education" der deutschen Gesellschaft. Die Re-Education gestaltete sich höchst unterschiedlich, bedingt durch die jeweiligen sozio-politischen Interessen der Siegermächte. So kam es beispielsweise in Westdeutschland im Bereich der höheren Bildung sowohl zu Neugründungen wie 1947 der Staatlichen Akademie für Verwaltungswissenschaften Speyer als auch zur Wiedereröffnung und Weiterführung bestehender Universitäten (inklusive der Weiterbeschäftigung des aus der NS-Zeit vorbelasteten Personals). Auch die Ausrichtung von Bildung änderte sich und es ging nun stärker um berufsqualifizierende Ausbildung (dazu wurde ein neuer Typus gegründet, die Fachhochschule) und weniger um die vormals dominante Bildung durch Wissenschaft. Mit dem Übergang von der Elite- zur Massenuniversität ab den späten 1960er Jahren fand eine weitere Umgestaltung des Netzwerks statt und zog beispielsweise erheblich mehr Menschen als zuvor an. Mit dem Leitbild der Wissensgesellschaft wurde und wird die Akademisierung weiter politisch gesteuert.

Mit dem Vormarsch der Informations- und Kommunikationstechnologien finden seit den 1990er Jahren weitere Modifikationen statt. Dies betrifft zum Beispiel die Auslagerung von Lehr- und Lernprozessen auf sog. Lernplattformen oder die Integration digitaler Medien in Forschung und Lehre. Die Begriffe "Open Science" und "Open Education" weisen hier auf eine Öffnung des Systems hin, die wiederum mit neuen Praktiken einhergeht.4

Diese vielfältigen sozio-politischen und technischen Veränderungen der letzten Dekaden sind mit der gängigen bildungstheoretischen Konzeption nur ansatzweise beschreibbar. Im Folgenden wird daher eine alternative Konzeption vorgestellt.

Denken in Netzwerken

Das Denken in Netzwerken ist nicht nur ein technisches Thema, verbunden mit dem Aufkommen des Internets Ende der 1960er Jahre, sondern auch in der Soziologe verbreitet. Als wichtiges Werk gilt hierbei die Netzwerkgesellschaft von Castells5, mit der die "Superstruktur" einer globalen Gesellschaft, bestehend aus Information, Macht, Technik und Kapital, beschrieben wird. Diese ist hochgradig ambivalent und so haben Netzwerkstrukturen aus Information, Technologie und Kapital nur für bestimmte Gruppen Vorteile, während andere Menschen systematisch davon ausgeschlossen werden (Digital Divide).

In der Bildungswissenschaft beschäftigten sich unter anderem Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen mit den Auswirkungen von Online Communities im Rahmen der strukturalen Bildungstheorie.6 Sie prognostizierten neue Möglichkeiten des Umgangs mit der eigenen Identität und sprachen von "Flexibilisierung von Biographieentwürfen". Dadurch finden Bildungsprozesse statt, die beispielsweise helfen, sich in den komplexen Online-Welten zu orientierten und kompetent darin zu interagieren. Demgegenüber stehen allerdings aktuelle Entwicklungen der technologischen Infrastrukturen, die auf eine gegenläufige Bewegung hinweisen: Identitäten werden quantifiziert, vermessen und algorithmisch analysiert. Bildung wird somit erschwert bzw. verunmöglicht, da es nicht mehr um die Transformation bestehender Selbst- und Weltbilder geht, sondern um die Anpassung an von außen vorgegebene Reize (beispielsweise wenn ein Algorithmus die nächsten Lernschritte vorausberechnet).

Allerdings gehen diese und andere Ansätze nach wie vor von der Denkfigur des autonomen Subjekts aus. Der Mensch wird der Welt gegenübergestellt und nicht als Teil von übereinander gelagerten Netzwerken begriffen. So gilt auch alles außerhalb des Subjekts als Objekt, über das man verfügen kann. Demgegenüber gelten im Netzwerkdenken alle Einheiten als Aktanten, die über unterschiedliche Bezüge verknüpft sind. Wichtig dafür ist die Affordanz, d.h. der Angebotscharakter. Ein Stuhl hat in der Regel eine höhere Affordanz zum Sitzen als ein Tisch, während ein Tisch einladender zum Essen ist. Ein Restaurant baut auf diesen Affordanzen auf und formt zusammen mit Kellner*innen, Servicekräften und Köch*innen ein stabiles Netzwerk, das eine zentrale Rolle in der Kulturgeschichte des Menschen hat.

Gleiches gilt für das digitale Netz, wenn auch in ungleich höherer Dynamik. Erst mit einiger Verzögerung nach der Einführung neuer Internetdienste und Geräte prägen sich kulturelle Praktiken aus und wirken wie im Bildungsbereich als bereichernd oder bedrohend. Durch die rasante Geschwindigkeit an technischen Entwicklungen kann es zu Überschätzungen der pädagogischen Kraft kommen wie etwa bei den Massive Open Online Courses (MOOCs), die bei ihrer (zweiten) Einführung 2012 vorschnell als Revolution ausgerufen wurden, ohne deren Zusammenspiel mit dem Menschen ausreichend in Betracht zu ziehen. Das Netzwerk zog nämlich nur ganz bestimmte Personen an und grenzte andere aus.7

Insofern ist Vorsicht geboten, wenn digitale Technologien (Blockchain, Künstliche Intelligenz) im Brustton der Überzeugung als "Lösungen" für alle möglichen Bildungsprobleme ausgerufen werden. Je komplexer die Technologien werden, desto mehr erhöht sich auch die Komplexität im Zusammenspiel mit dem Menschen. Ein Verständnis der Netzwerkprozesse kann helfen, Bildungsmöglichkeiten angemessen einzuschätzen. Dafür sollten zunächst die Mitglieder, d.h. die Aktanten des Netzwerkes bestimmt werden. Das können für das Beispiel "Einführung einer Lernplattform an einer deutschen Hochschule" sein: Das Produkt (z.B. Moodle), der Hersteller (bei Moodle ist das eine weltweit agierende Gemeinschaft aus Entwickler*innen), verschiedene Arten von Software (z.B. PHP), Datenbanken, Server, Mitarbeitende im Rechenzentrum, Datenschutzbeauftragte, Fakultätsrat, Studiengangskommission, Prüfungsausschuss, Prüfungsamt, Studiengang, Modul, Lehrende, Lernende, Computer, Laptops, Smartphones. Diese Elemente stehen in Wechselwirkungsbeziehungen zueinander. Lehrende und Lernende haben bestimmte Erwartungen an die Lernplattform, die nicht immer im Einklang mit dem Datenschutz stehen. Die Entwickler*innen orientieren sich an technologischen Innovationen und versuchen dies pädagogisch zu übersetzen. Die Hochschule verspricht sich durch den Einsatz einer innovativen Plattform einen Wettbewerbsvorteil im Kampf um Geld und Studierende. Ebenso die Landes- und die Bundespolitik, die mit Gesetzen, Verordnungen und Strategien weitere Erwartungen produzieren8.

Lohnenswert wäre es, die verschiedenen zum Teil implizit vorhandenen Erwartungen und Bedeutungszuschreibungen soweit es geht zu explizieren, um daraus die darin eingeschriebenen Vorstellungen von Lernen und Bildung herauszulesen. Wenn das dann im Zusammenhang mit verschiedenen Netzwerken passiert, kann eine überaus spannende Kartographie von Bildung im Netz jenseits überhöhter normativer Zuschreibungen entstehen.

Anmerkungen

1) Dirk Baecker 2018: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig: 94.

2) Entgegen der medialen Berichterstattung, die zeigte, dass bei der Amtseinführung von Trump deutlich weniger Menschen als vier Jahre zuvor bei Barack Obama anwesend waren, setzte seine Beraterin den Ausdruck "alternative facts".

3) Michel Foucault 1994: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main.

4) Markus Deimann 2018: Open Education. Auf dem Weg zu einer offenen Hochschulbildung, Bielefeld.

5) Manuel Castells 2004: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen.

6) Winfried Marotzki / Benjamin Jörissen 2010: "Dimensionen strukturaler Medienbildung", in: Jahrbuch Medienpädagogik 8: 19-39; hier: 39.

7) Rolf Schulmeister (Hg.) 2013: MOOCs - Massive Open Online Courses: Offene Bildung oder Geschäftsmodell?, Münster.

8) Siehe zum Beispiel die KMK-Strategie "Bildung in der digitalen Welt", Kultusministerkonferenz, 2016.

Markus Deimann ist habilitierter Bildungswissenschaftler und Privatdozent an der FernUniversität in Hagen. Er lehrt und forscht an der Schnittstelle von Bildung und Technik und mischt sich als Kolumnist und Podcaster kritisch in die Debatten zur Digitalisierung von Bildung ein. Mehr unter: https://markusmind.wordpress.com und http://feierabendbier-open-education.de/.