Fußball und Sozialismus

»Ich bedaure jenen Jungen, jenes Mädchen, jenen Mann und jene Frau, die niemals von diesem geheimnisvollen Zauber des Sinneslebens erfasst wurden, mit seiner – wenn man so will – Irrationalität, seiner Wachheit und tiefen Glückseligkeit. Die Feier des Lebens sind dessen wesentlich, denn sie sind oder sollten wenigstens von diesem magischen verantwortungslosen Zauber umhüllt werden.«

Woran denken wir, wenn wir über Fußball nachdenken? Fußball betrifft komplexe, gegensätzliche und widersprüchliche Dinge: Gedächtnis, Geschichte, Ort, Klasse, Geschlecht in all seinen — auch unbehaglichen — Variationen (insbesondere der Männlichkeit, aber in zunehmenden Maße auch Weiblichkeit), familiäre, ethnische und nationale Identität, Gruppenverhalten – sowohl der Spieler*innen als auch der Fans sowie die oftmals gewalttätigen, manchmal auch friedlichen und still bewundernden Verhältnisse zwischen den der eignen und der fremden Gruppe.

Fußball ist ein Strategiespiel. Es erfordert Disziplin und hartes Training, um die Leistungsfähigkeit der Spieler*innen zu erhalten. Noch wichtiger – das Team in Form zu bringen. Ein Team ist ein Netzwerk, eine dynamische Konfiguration, eine Matrix aus sich bewegenden Knotenpunkten, endlosen Verschiebungen, die in Form gebracht wird. Das Team ist eine mobile, veränderliche Form, die gegen eine andere Formation — das gegnerische Team — gestellt wird.

Der Zweck der Formierung des Teams — unabhängig von Ballbesitz und unabhängig von defensivem oder offensivem Spiel — ist Besetzung und Kontrolle des Raums. Die Art und Weise wie ein Team den Raum zu kontrollieren sucht, wirft offenkundige Analogien zu polizeilichen und militärischen Besetzungen des Raums auf. Sei es in Begriffen von Angriff und Verteidigung, Besetzung und Belagerung. Ein Fußballteam ist organisiert wie eine kleine Armee: eine kompakte, vereinheitlichte, mobile und geschulte Kraft mit einer klaren Befehlskette.

Fortsetzung des Krieges …

Viele haben das vor mir gesagt: Fußball sei die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. In jedem Fall sind die Mittel des Fußballs kriegerisch. Es geht um Sieg (und manchmal um die heroische Niederlage).[1] Bill Shankly – Held meiner Kindheit und legendärer Manager des FC Liverpool von 1959 bis 1974 — sagte einmal, beim Fußball geht es um drei Dinge: Ballkontrolle und Pass, Ballkontrolle und Pass und das die ganze Zeit. Wenn Ballkontrolle und Pässe mit Bewegung und Geschwindigkeit kombiniert werden, gibt es nach jedem Pass zwei oder drei Varianten, die sich dem Spieler mit Ballbesitz bieten, an deren Ende möglicherweise ein Tor des ballbesitzenden Teams stehen kann. Und wer die meisten Tore erzielt, gewinnt. So einfach ist es. Doch wie der große Johan Cruyff sagt: „Fußballspielen ist sehr einfach, aber einfachen Fußball spielen ist eine der schwierigsten Dinge, die es gibt.“

Kollektives Handeln auf dem Platz

Anders als Golf oder Tennis oder auch Baseball, Cricket und Basketball ist Fußball nicht individualistisch. Es gibt zwar ohne Zweifel ein promigetriebenes Starsystem, in dem Spieler immer höhere Gehälter verlangen. Aber nichtsdestoweniger geht es beim Fußball nicht um einzelne Spieler, egal wie begabt sie auch sein mögen. Es geht um das Team. Fußball ist im Kern kooperativ. Es geht um die Bewegung zwischen den Spielern, die zusammen, die mit einander und für einander spielen und ein mobiles, räumliches Netzwerk bilden. Ein Team kann aus wirklich begabten Einzelspielern bestehen wie Barcelona oder aus weniger begabten Einzelspielern, die miteinander zu einer effektiven selbstorganisierten Einheit verschmelzen, in der jeder Spieler genau seine Rolle in der Gesamtformation kennt. Ich denke dabei an Teams wie Leicester City in der englischen Premier League in der Saison 2015/2016 (die den Fußball wirklich den Fans zurückgegeben haben) oder an Teams wie Costa Rica während der Weltmeisterschaft 2014 oder wie Island in der Europameisterschaft 2016. In solchen Teams ist das Ganze größer als die Summe seiner Teile.

Es ist kein Zufall, dass Jean-Paul Sartre, als er über die Eigenschaften von Organisationen nachdachte, beim Fußball landete.[2] Das freie Handeln und die freie Tätigkeit — bei Sartre „praxis“ genannt — des einzelnen Spielers ist dem des Teams untergeordnet, darin eingebettet und transzendiert diese, in dem es das gemeinsame Handeln der Gruppe die Vervollkommnung des individuellen Spiels durch die Einbettung in die organisatorische Struktur des Teams erlaubt. Im organisierten Fußballteam materialisiert sich die unaufhörliche Dialektik zwischen der vergemeinschaftenden kollektiven Aktivität einer Gruppe und der unterstützenden, schwunghaften Tat des Einzelnen.

Was Sartres Aufmerksamkeit fortwährend fesselt ist die Frage, wie die Organisation das Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Handeln im sich ständig dynamisch wandelnden Gebilde des Fußballteams formt. Die Handlungen der einzelnen Spieler werden durch ihre Funktion — als guter Torwart, annehmbarer Mittelfeldspieler oder was auch immer — vorbestimmt. Aber diese individuellen Funktionen werden in der kollektiven und kreativen Praxis des gut zusammen spielenden Teams übertroffen und transzendiert.

Wenn ein Team nicht gut zusammen spielt, kollabiert das kollektive Handeln. Es zerfällt in atomisierte Einzelteile und das Ganze versinkt in gegenseitigen Vorwürfen der Spieler untereinander und Schuldzuweisung der Fans gegen einzelne. Das ist schlechte Form in jeder Hinsicht.

Der grundlegend kollektive Charakter des Fußballs erstreckt sich auch auf die Muster des Sozialverhaltens der Spieler und dem Kontrast zwischen dem Team das füreinander spielt und dem Team, in dem jeder Spieler für sich spielt — gewissermaßen die Dialektik eines Lionel Messi gegenüber der von Christiano Ronaldo. Um es noch einmal deutlich zu sagen, ich meine damit das formale Sozialverhalten des Teams als eine funktionale Einheit, als interagierendes Netzwerk.

Ein Team, das gut auf dem Platz zusammenspielt, wird möglicherweise auch außerhalb des Platzes gut miteinander klarkommen. Das ist aber nicht notwendigerweise so. Einige der Spieler, der während der EM 1998 siegreichen Nationalmannschaft Frankreichs, sprachen jenseits des Stadions kein Wort miteinander. Der große Eric Cantona war offenkundig auch nicht besonders umgänglich, obwohl er den Stil von Manchester United während 1990er Jahre maßgeblich prägte, also in einer Zeit, in welcher der Verein die  Premier League über Jahre dominierte. Mit der wachsenden Sprachenvielfalt und kultureller Heterogenität (ganz zu schweigen davon, wie jung viele Spieler sind), frage ich mich manchmal, worüber sie reden und was sie überhaupt miteinander gemein haben.

Entscheidend ist aber die Grammatik der gemeinsamen Fußballsprache, in der sie sich ausdrücken, wenn sie zusammen spielen.

Im Verein freier Menschen – Fußball und Sozialismus

Diese Muster sozialen Verhaltens spiegeln sich im Gruppenverhalten der Fans. Die spezifischen sozialen Verkehrsformen haben sich im Englischen sogar noch in den Namen des Sports, über den wir sprechen, eingeprägt: „Association Football“, was in den USA als „soccer“ abgekürzt wird. In Großbritannien war es bis in die 1970er Jahre ebenfalls üblich von „soccer“ zu sprechen, bevor der Begriff später als Amerikanismus fehlinterpretiert wurde.

Fußball ist die Bewegung des socius, in einem Verein freier Menschen wie Karl Marx im Kapital schrieb (gleichwohl er leider nicht über Fußball schrieb).[3] Der Grund, warum Fußball für viele von uns so bedeutsam ist, liegt genau in der Erfahrung von Vereinigung, die ihn im Kern ausmacht und den lebendigen Gemeinschaftssinn, den er stiftet. Oder um es noch ein wenig weiter zu treiben und es zugegebenermaßen etwas gewagt zu formulieren: Die angemessene politische Form des Fußballs ist der Sozialismus.

Freiheit wird nicht in der Trennung von anderen, sondern nur in und durch die Vereinigung mit ihnen verwirklicht, durch kollektives Handeln wird das Handeln des Einzelnen integriert und transzendiert. Um ein weiteres Mal Bill Shankly zu zitieren — und ähnliche Gedanken lassen sich auch bei der brasilianischen Fußballlegende „Sócrates“[4] oder dem Marxisten und bundesrepublikanischen WM Gewinner von 1974, Paul Breitner oder dem früheren argentinischen Mannschaftskapitän Xavier Zanetti finden — „Der Sozialismus, an den ich glaube, hat nicht wirklich mit Politik zu tun. Er ist eine Art zu leben, er ist Menschlichkeit. Ich glaube eine Art zu leben und wirklich erfolgreich zu sein, besteht darin, dass alle für einander arbeiten, sich gegenseitig unterstützen und jeder am Ende mit einen Anteil am Erfolg belohnt wird.“ Brian Clough[5], der regelmäßig als Streikposten während der Bergarbeiterstreiks der 1980er Jahre fungierte, sagte: „Für mich kommt der Sozialismus aus dem Herzen. Ich sehe nicht ein, dass nur ein Teil der Gesellschaft ein alleiniges Recht auf Champagner und große Häuser haben sollte.“ Barney Ronay schrieb einst: „Die Mehrzahl der Clubs in der Premier League hat seine Wurzeln entweder in einer Kirchengemeinde oder in einem Pub … ein lebender Gegenbeweis zu Thatchers Behauptung: ‚So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht‘“.

Natürlich erscheinen solche sozialistischen Positionen abwegig oder geradezu lächerlich, wenn man die Autokratie und den korrupten Sumpf des Fußballdachverbands FIFA bedenkt, der in Zürichs bourgeoiser Annehmlichkeit residiert. Aber solche Gefühlsduselei erscheint auch wegen des immer größer werdenden Einflusses des Geldes im Fußball lächerlich. Fußballer werden ermutigt oder von ihren gierigen Managern teilweise geradezu genötigt, sich wie Söldner zu verkaufen. Die Clubs sind heute Spielzeuge der Mächtigen und Superreichen und der Ort, an dem die Hingabe der Fans gierig zu Geld gemacht wird und deren Loyalität für selbstverständlich genommen wird. Das ist wohlmöglich der Hauptwiderspruch des Fußballs: Seine Form besteht in Gemeinschaftlichkeit, in Sozialismus, in Vereinigung und kollektivem Handeln der Spieler*innen und der Fans. Nichtsdestoweniger ist sein materielles Substrat Geld — schmutziges Geld, nicht selten aus fragwürdigen und hochgradig undurchsichtigen Quellen. Fußball ist vollständig kommerzialisiert und von Sponsoren sowie vulgärem und dummen Marketing übersättigt (Man denke nur an die endlose Werbung während der Champions League — Heineken in den USA, Gazprom in Russland sowie die Omnipräsenz von den Sponsoren der Weltmeisterschaft wie McDonalds und Budweiser). Es ist ein kommerzialisiertes und manchmal schwer erträgliches Spektakel des Kapitalismus (welchen Stadiums auch immer – spät, sehr spät, der letzten Tage oder in den letzten Zügen), das wir dennoch durchzustehen versuchen. Es kann abscheulich sein und nichtsdestoweniger bestehe ich darauf, dass Fußball sich darin nicht erschöpft. Er ist viel mehr. Um noch einmal Cruyff zu zitieren: „Warum kann man keinen reicheren Verein schlagen? Ich habe noch nie einen Sack Geld ein Tor schießen sehen.“ Wahrscheinlich bringt uns als Zuschauer*innen und Liebhaber*innen des Spiels genau die gleichzeitige Wahrheit und Unwahrheit von Cruyffs Ausspruch zusammen.

Simon Critchley lehrt an der New School for Social Research in New York und ist ein lebenslanger, wenngleich oftmals enttäuschter Fan des FC Liverpool. In seinem vor einigen Jahren erschienenen Buch „What We Think About When We Think About Football“ geht er nicht nur dem Zusammenhang von Fußball und Sozialismus auf den Grund, sondern auch den Erzählstrukturen des Fußballs und der Verwandtschaft des Denkens von Jürgen Klopp und Martin Heidegger nach.

Die Übersetzung besorgte Stefan Gerbing.

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Fußnoten

[1] Der maßgebliche Titel zum Thema Fußball, Politik und Krieg in globaler Perspektive bleibt Simon Kupers „Football against the enemy oder: wie ich lernte, die Deutschen zu lieben“ Göttingen : Verl. Die Werkstatt, 2009.

[2] Sartre, “The Organization‘, Critque of Dialectical Reason, vol. 2, Verso, London and New York, 1991, S. 445-504.

[3] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 23, „Das Kapital“, Bd. I, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1968, S. 92

[4] Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira

[5] Spieler in der englischen Nationalauswahl in den 1950er Jahren und Fußballtrainer.