Justiz- und Machtmissbrauch in der UdSSR und der Russischen Föderation

Wladimir Perewersin beginnt und beendet seine 2013 veröffentlichten Erinnerungen an die sieben Jahre und zwei Monate währende Haft in Putins Gefängnissen und Lagern mit einem Bericht über die Entlassung. In 52 Skizzen geschildert werden Verhaftung, die zwei Jahre und acht Monate währende „Untersuchungshaft“, der Prozess und der Weg durch die Gefängnisse Butyrka, Matrosenruhe, Lefortowo sowie Abteilungen der Melechowo und Pokrow.
Am 16. Dezember 2004 wurde er als „Komplize Chodorkowskis“ verhaftet, am 1. März 2007 zu elf Jahren Freiheitsentzug im strengen Vollzug verurteilt, am 15. Februar 2012 entlassen. Zusammen mit Michail Chodorkowski – so lautet die Anklage – habe er 13 Milliarden Dollar gestohlen. Die Anklage – frei erfunden – war ein Kollateralschaden des Rachefeldzuges gegen seinen einstigen Chef, in dessen Firma alles „durchorganisiert und reglementiert“ war. Es traf ihn, obwohl er zwei Jahre vor seiner Verhaftung den Jukos-Konzern verlassen hatte, in dem er als einer von fünf Direktoren einer zypriotischen Tochtergesellschaft tätig war, weil er sich weigerte, seinen Chef durch Falschaussagen zu belasten.
„Die Tage gehen in absoluter Gleichförmigkeit dahin, vereinen sich zu Wochen und Monaten, die sich nicht von anderen Wochen und Monaten unterscheiden.“ – „Jeder Tag sieht so aus wie der vorhergehende.“ Die Monotonie des Alltags – Zählappelle, die katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Gefängnissen, der Schliff im Lager, der Versuch der Administration, die Häftlinge, im Regelfall Kriminelle, in gefügige Zombies zu verwandeln –, in Stalins Gulags erfolgreich erprobt und praktiziert, erlebt Perewersin in modernisierter Form. Im Unterschied zum in den Berichten über den Gulag-Alltag allgegenwärtigen Hunger ist bei ihm die Willkür das zentrale Thema.
Im verschärften Vollzug haben die Häftlinge ein Recht auf Korrespondenz und Paketempfang. Erlaubt ist der Besitz von 50 Kilogramm Lebensmitteln (je härter die Vollzugsbedingungen, desto besser die Ernährung), zur Ausstattung gehören Fernsehgeräte und Münztelefone, viermal im Jahr sind Besuche von Angehörigen erlaubt. Über Konflikte mit seinen Mithäftlingen berichtet Perewersew nicht, die Häftlingsgesellschaft lebt nach einfachen und verständlichen Regeln, die er als gerecht und menschlich empfindet. Ihr Gegner ist die Lageradministration: „Ein Feldwebel sieht nur flüchtig meine Sachen durch. Trockenbrei, Trockenfrüchte, Nüsse, Bücher, Papiere, Kleidung, Waschzeug, Sportanzug, Turnschuhe – keinerlei Kostbarkeiten.“ Bei der nach der Verlegung in ein anderes Lager vorgenommenen Filzerei kamen folgende Sachen abhanden: Kugelschreiber, Vitamintabletten, T-Shirts, Zigaretten und eine Dose Handcreme.
Die immer wieder aufflammende Hoffnung auf vorzeitige Entlassung wird immer wieder enttäuscht. Hinzu kommen von der Administration erfundene Verstöße gegen die Haftordnung, die ihm vorgehalten werden. Als er dagegen protestierte und vor Gericht klagte, wurden ihm neue „Probleme“ angedroht. Später erfuhr er, dass aus Moskau der Befehl durchgestellt worden war, ihn „ordentlich zu piesacken“. Damit war für ihn die Grenze des Erträglichen erreicht. Während eines Zählappells schnitt er sich mit einer Rasierklinge den Bauch auf. So erreichte er sein Ziel: Verlegung in eine andere Abteilung. „Aber das System hat mich nicht kleingekriegt. Ich habe den Glauben an die Menschen nicht verloren und nicht die Hoffnung auf Gerechtigkeit.“
Perewersew hatte nicht vor, Russland zu verlassen. Doch in seiner Heimat erging es ihm nicht anders, als den „Volksfeinden“ zu Stalins Zeiten. Seine Familie wurde in Sippenhaft genommen, weder seine Frau noch sein Sohn fanden eine Arbeit. Sieben Jahre nach der Entlassung verließ er mit Ehefrau und Sohn Russland in Richtung Deutschland.
Einmal ergreift Wladimir Perewersin in seinem Bericht Partei für die politischen Gefangenen. Diesem Personenkreis ist das Buch von Manuela Putz gewidmet, dem ihre im Januar 2017 an der Universität Bremen verteidigte Dissertation zugrunde liegt. „Wer definierte eigentlich wann, wo und zu welchem Zeitpunkt wer und was ein politischer Gefangener in der Sowjetunion ist“ und durch welches Handeln sich politische Gefangene und Unterstützer auszeichnen? Diese Frage ist auch mit Blick auf das Russland von heute angebracht.
In drei chronologisch angelegten Kapiteln werden die Repressionswellen gegen Intellektuelle und die Haftbedingungen in den Lagern für politische Gefangene in den Jahren 1956-1965, 1966-1972 und in den 1970er und 1980er Jahren untersucht. Die unter Nikita Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung ging nicht mit einer Abkehr von der Verfolgung politischen Gegner einher. Das alte Gulag-Lagersystem wurde unter neuem Namen weitergeführt, in der Strafgesetzgebung alte Bezeichnungen durch neue Begriffe ersetzt. Nun wurde nicht mehr von „konterrevolutionären Verbrechen“ sondern von „Staatsverbrechen“ gesprochen. „Im Zentrum der Analyse stehen daher die für dieses spezielle Häftlingskontingent in Potma in der Mordwinischen ASSR, in Perm und in Wladimir eingerichteten Strafvollzugseinrichtungen und die darin internierten Gefangenen.“
Dabei stützt sich Manuela Putz auf Erinnerungsberichte, Tagebücher, Memoiren und den in Archiven überlieferten Briefwechsel der Strafgefangenen mit ihren Angehörigen. Durch die Einbeziehung dieser bislang vernachlässigten Literatur gelingt es ihr, eine Forschungslücke zu schließen. Themen der zwei thematischen Kapitel sind Unterstützernetzwerke und Fragen der Aufarbeitung der Haftzeit. „Die Lebenswirklichkeiten sowjetischer Andersdenkender pauschal als ‚Gegenwelten‘ zu betrachten oder ihnen gar eine zentrale Rolle in staatlichen Erosionsprozessen zuzuschreiben, wird in der vorliegenden Arbeit negiert.“
Leider ist dem Vergleich mit dem Haftregime und dem Haftalltag im Gulag in der Chruschtschowära kein eigenes Kapitel gewidmet. „Seit Ende der 1950er Jahre hatte sich die Lebensqualität Gefangener in den Lagern deutlich verbessert. Auf der Grundlage der geltenden Haftordnung billigten die Behörden Gefangenen mehr Freiräume zu als in den Jahrzehnten zuvor.“ Dieser Sachverhalt erklärt auch den Titel der Studie: „Kulturraum Lager“. In den Lagern der Übergangszeit begegneten die neuen Gefangenen den ehemaligen Gulaghäftlingen, die wegen Kollaboration mit den deutschen Besatzern als sogenannte Kriegsverbrecher in Haft verblieben. Dieses Aufeinandertreffen zweier Welten spielt in den Erinnerungen eine größere Rolle als die für die Stalinzeit typischen Zusammenstöße Politischer mit Kriminellen. Abgrenzung und Selbstverortung der inhaftierten Tauwetter-Intelligenzija erfolgte auf andere Weise als in Stalins Lagern.
Das Lager erwies sich als der Ort, an dem „nicht nur der Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg zum Einsturz gebracht wurde“. Die Verfolgungspraxis und die Lagerwelt in der Amtszeit von Leonid Breschnew werden anhand des Falls Andrej Sinjawski/Julij Daniel beschrieben. Die Strafvollzugspolitik wurde rigider. Korrespondenz, Paket- und Besuchsempfang wurden eingeschränkt, die Trennung von Kriminellen aufgehoben. Dies ging mit der Herausbildung eines neuen Selbstbewusstseins und dem Nachdenken über die Häftlingsgesellschaft, der auch Balten und Ukrainer angehörten, einher. War man Teil des Gefangenenkollektivs oder nicht? Eine Fragestellung, die sich bei Perewersin überhaupt nicht findet.
M. Putz untersucht diese Fragen im Kontext der Entwicklung der Szene zur Bewegung. In den 1970er Jahren prägte eine fast „ununterbrochene Auseinandersetzung mit der Obrigkeit“ den Lageralltag. Der Staat und die Lageradministration reagierten darauf mit dem Versuch, das Strafvollzugssystem lenk- und kontrollierbarer zu machen. So blieb es bis zum Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Jahre 1985. Im Zuge der Amnestie 1987 wurden die politischen Gefangenen entlassen. Lewan Berdsenischwili, Spezialist für antike Literatur und Gründungsmitglied der Republikanischen Partei Georgiens, hat das, worüber er in „Heiliges Dunkel“ schreibt, selbst erlebt. Er musste nichts erfinden. Sein 2018 im Mitteldeutschen Verlag erschienenes Buch stellt die Zwangsgemeinschaft der Hochbegabten im Lager vor. Mit ihm saßen 150 politische Häftlinge im Lager. Sein Bericht handelt von 14, in der Amtszeit von Leonid Breschnew Verurteilten und davon, wie sie den Beginn der Perestroika hinter Stacheldraht erlebten.
Letztendlich waren es „staatliche Überlegungen zur Außendarstellung und Imagepolitik“, die Oberhand gewonnen hatten. Die Entscheidung war nicht auf den politischen Kampf Gefangener in den Lagern oder gar eine Unterstützung durch breite Bevölkerungskreise zurückzuführen. Wie hoch der Nachholebedarf ist, zeigt der Umgang des Staates mit der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ oder die Schließung des Museums im einstigen Haftort Perm.

Wladimir Perewersin: Matrosenruhe. Meine Jahre in Putins Gefängnissen, Ch. Links Verlag, Berlin 2019, 336 Seiten, 25,00 Euro.
Manuela Putz: Kulturraum Lager. Politische Haft und dissidentisches Selbstverständnis in der Sowjetunion nach Stalin, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2019. (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; 86), 280 Seiten, 49,00 Euro.