Zurück ins Osmanische Reich?

Seit ihrer Gründung 1923 widerstreiten in der Türkei säkulare und religiöse politische Strömungen. Ausgerechnet eine Sufi-Bruderschaft, die Naqshbandiyya, ist in dieser Auseinandersetzung ein relevantes Fallbeispiel. Präsident Erdoğan ist einer ihrer Schüler.

»Europa wird islamisch, so Allah will« oder »Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert«: Die Sammlung von als islamistisch oder nationalistisch interpretierbarer Statements des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist umfangreich. Umfassend ist auch der Wandel der Türkei von der säkularen Republik zum autoritären Präsidialsystem unter der Vorherrschaft Erdoğans und der Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei).

Ein kulturpolitisches Moment dieser Rückwärtsbewegung ist der Neo-Osmanismus, das heißt die wachsende Rückbesinnung auf das Osmanische Reich. Bis zu dessen Niedergang in den frühen 1920er-Jahren erstreckte es sich zeitweise vom Balkan bis nach Arabien und über weite Teile Nordafrikas. Die Herrschaft lag in den Händen des osmanischen Hofes sowie der militärischen und geistlichen Eliten nach der Maßgabe der Scharia hanafitischer Rechtsschule – welche im sunnitischen Islam vorherrscht und gerade im ehemaligen Osmanischen Reich bestimmend war.

Erdoğan bedient mit seinen Referenzen zum Neo-Osmanismus die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der die Türkei noch mächtig war und islamisch regiert wurde. Diese Rückbesinnung ist nicht neu. Schon seit dem Ende des Osmanischen Reiches und der Ausrufung der säkularen Republik Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk 1922/23 arbeiten konservativ-islamische Vereinigungen an der Rückgewinnung ihrer alten Machtposition.

 

Aufstieg und Fall weltlich-religiöser Macht

Ein bedeutendes Beispiel für diese Vereinigungen ist die Naqshbandiyya. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Sufi-Orden, wobei die bessere Bezeichnung Tariqa (»Pfad«) ist. Man darf sich diese Tariqa jedoch nicht als »tanzende Derwische« oder als toleranten Islam vorstellen, wie es das vorherrschende Bild des Sufismus im Westen suggerieren könnte. Die Naqshbandiyya ähnelt eher der prominenteren, missionarisch netzwerkenden Gülen-Bewegung (siehe iz3w 342). In der vom sunnitischen Islam dominierten Türkei existieren neben der Naqshbandiyya auch die sufistischen Tariqa der Tijaniyya, Quadiriyya, Bektaschi und Mevleviyya.

Weltweit hat die Naqshbandiyya etwa 50 Millionen AnhängerInnen und ist mit etwa sechs Millionen AnhängerInnen die größte Tariqa in der Türkei. Neben ihren spirituellen Aktivitäten übt sie auch politischen Einfluss aus. So ist sie etwa auf die Erziehung kommender Eliten spezialisiert. Der junge Erdoğan stand längere Zeit unter dem Einfluss des Naqshbandiyya-Cheikhs Mehmed Zahid Kotku.

Seit ihrer Gründung wird in der modernen Türkei um das Verhältnis von Politik und Religion gekämpft. Das Sultanat, das Kalifat, aber auch die Scharia-Gerichte wurden bis 1924 abgeschafft und die Religionsgemeinschaften verloren signifikant an Macht. Die Religionsangelegenheiten gingen an die türkische Regierung über und Religion wurde in der Verfassung als eine private Einstellung definiert. Seit den Anfängen der Republik gibt es aber auch Bestrebungen, diesen Umstand wieder umzukehren. Gerade die Bruderschaft der Naqshbandiyya arbeitet seit Jahrzehnten an der Rückkehr des Islam in Politik und Wirtschaft. Mit dem Wahlsieg der AKP wurde dies zur Regierungspolitik. Diese Kehrtwende hat allerdings eine lange Vorgeschichte.

Die Naqshbandiyya entstand im 14. Jahrhundert im usbekischen Buchara. Die Tariqa steht auf der Seite des orthodoxen, sunnitischen Islam. Sie verteidigt vehement die Scharia und lehnt ebenso vehement die Lehren der Schiismus ab. Dabei wird dem Mystizismus ein zweitrangiger Platz innerhalb des Glaubenssystems zugewiesen, was für Tariqas ungewöhnlich ist. Von Beginn an verzichtete die Naqshbandiyya auf Musik, Tanz und Gesang und befolgte schweigende Zeremonien. Die Schüler (Talibé) finden in Stille zur Ekstase und zum Göttlichen. Es wurde vor allem auf die enge Beziehung zwischen Lehrer (Cheikh) und Schüler Wert gelegt. Der Mensch soll hart arbeiten und Wohlstand anstreben, lautete das Leitbild. Das Ziel ist keineswegs ein verschwenderisches Leben, sondern die Förderung von Erziehung und Gesundheit. Die Naqshbandiyya erschloss Ländereien, baute die osmanische Verwaltung aus und gründete Schulen. Dabei gewannen die Tariqas an Einfluss und Reichtum. Dem setzte die säkulare Politik Mustafa Kemals jedoch ein Ende.

Die Tariqas suchten demgegenüber neue Wege der Einflussnahme. Im Februar 1925 gab es einen kurdischen Aufstand unter der Führung des Naqshbandiyya-Cheikh Said. Aus heutiger Sicht ist diese Koalition aktueller Erzfeinde bizarr. Die damalige Erhebung sollte Kemals laizistische Ordnung beenden und die kulturelle Autonomie der einzelnen Regionen, wie Kurdistan, wieder herstellen. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands wurden Said und 47 weitere Cheikhs der Naqshbandiyya öffentlich hingerichtet. Zeremonielle Stätten, Heiligengräber und Schulen der Tariqa wurden geschlossen, enteignet, geplündert, zerstört oder umfunktioniert. Neben Cheikh Said arbeitete vor allem Said Nursi (1876-1960) an der Wiederkehr der Naqshbandiyya. Er eröffnete eine eigene Schule im ostanatolischen Van, in der die religiöse Lehre mit Mathematik und anderen Wissenschaften kombiniert wurde.

 

Einflussreiche Schüler der Naqshbandiyya

Mehmed Zahid Kotku (1897-1980) übernahm 1952 die Iskender-Pascha-Gemeinschaft der Naqshbandiyya in Istanbul. Kotku gewann später einflussreiche Persönlichkeiten wie Arif Emre, Necmettin Erbakan, Turgut Özal, Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdoğan als Schüler der Naqshbandiyya. Diese spielten bald eine tragende Rolle für die konservativ-islamische Elite der Türkei. Cheikh Kotku propagierte einen politischen Islam, der den Kemalismus scharf kritisiert. Die Tariqa expandierte in Wirtschaft und Bildung. Neben Reisebüros entstanden Stiftungen, Institute, Erziehungszentren, Colleges, Privatschulen, Verlagshäuser sowie eigene Firmen und Holdings. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich aus der Tariqa ein wirtschaftliches und wissenschaftliches Netzwerk entwickelt.

Die Kotku-Schüler Necmettin Erbakan und Turgut Özal trugen als Ministerpräsidenten den Einfluss der Bruderschaft bis in die höchsten politischen Ämter. Erbakan gründete 1969 die international aktive türkisch-islamistische Millî Görüş-Bewegung (Nationale Sicht«). 1973 trat Erbakan mit der Nationalen Heilspartei (MSP) zu Wahlen an und die Iskender-Gemeinschaft sammelte Wählerstimmen. Zwischen 1973 und 1979 war die MSP Koalitionspartner verschiedenster Regierungen. Erstmals kam damit eine Partei mit deutlich islamistischen Zügen in die Regierungsverantwortung. 1975 bildeten die konservative Gerechtigkeitspartei unter Demirel, die faschistische MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) von Arpaslan Türkes und der MSP mit Erbakan eine Regierung.

Die Forderung nach einem islamischen Staat führte schließlich zum Verbot der MSP. Beim Militärputsch 1980 wurden nicht nur Linke, sondern auch Erbakan und Türkes verhaftet. Einige Jahre später gründete Erbakan die Wohlfahrtspartei RP (Refah Partisi), die 1995 die Mehrheit der Stimmen erlangte und Erbakan 1996 für ein Jahr zum Ministerpräsidenten machte. Er kündigte an, die Bindungen zu Europa zu lockern und eine Wirtschaftsgemeinschaft mit arabischen Staaten anzustreben. Dann zwang das Militär Erbakan wegen »islamistischer Aktivitäten« zum Rücktritt. 1998 wurden die Wohlfahrtspartei und 1999 die ähnlich positionierte Tugendpartei FP (Fazilet Partisi) vom Verfassungsgericht verboten. Aus der Tugendpartei entwickelte sich die AKP.

Erbakan gilt heute als Begründer der modernen, nationalistisch ausgeprägten islamistischen Bewegung in der Türkei. Nach seiner Auffassung beutete der Westen die muslimische Welt, vor allem die Türkei, seit Jahrzehnten aus. Dahinter stecke eine weltweit operierende »zionistische Verschwörung«. Dagegen sollte die Türkei eine Union aller islamischen Staaten der Welt gründen. Zur Beerdigung von Erbakan im Jahr 2011 kamen sowohl Vertreter der ägyptischen Muslim-Bruderschaft als auch der palästinensischen Hamas. Auch bei späteren AKP-Treffen waren diese beiden radikalislamistischen Gruppierungen Ehrengäste.

Einen vergleichbaren Einfluss auf das religiös-nationalistische Selbstverständnis der Türkei hatte Erbakans Naqshbandiyya-Mitschüler Turgut Özal. Er war 1977 Abgeordneter der MSP und erzielte 1983 mit seiner Mutterlandspartei (ANAP) über 45 Prozent der Stimmen. Von 1983 bis 1989 war er Ministerpräsident und zwischen 1989 und 1992 Präsident der Türkischen Republik. Özal selbst trat öffentlich für eine »Groß-Türkei« ein. Während seiner Amtszeit hob Özal das Verbot der Propagierung der Scharia auf und verschaffte so den Bruderschaften mehr Spielraum.

Nun konnten sie aus dem »privaten Bereich« heraustreten und verstärkt Stiftungen und Vereine gründen. Ebenso wurde die religiöse Erziehung der Gesellschaft wieder offen praktiziert. Der Imam Fethullah Gülen erlangte zu dieser Zeit mit seiner islamischen Reformbewegung eine breite Öffentlichkeit und sein Netzwerk von Bildungszentren erstreckte sich über zahlreiche Staaten. Vor allem Özal setzte sich für die Gülen-Bewegung ein. 1993 besuchte Özal das Mausoleum des Naqshbandi in Buchara und spendete 45.000 US-Dollar für dessen Wiederaufbau.

Özal prophezeite, dass wenn die Türken keine Fehler machen würden, das 21. Jahrhundert ein türkisches Jahrhundert sein würde. Dieses Zitat wirkt wie ein Kommentar zur aktuellen Außenpolitik der Türkei. Die alten osmanischen Provinzen im Nahen Osten, dem Balkan und in Afrika rücken wieder in den Fokus der Politik Erdoğans – sogar militärisch (siehe das Interview zum türkischen Militärüberfall auf Afrin, Seite 12).

Mitte der 1990er-Jahre trat eine neue Generation von Naqshbandiyya-Schülern auf den Plan. Hierzu zählen zuvorderst Abdullah Gül und Recep Tayyip Erdoğan. Abdullah Gül kam 1991 als Abgeordneter der Wohlfahrtspartei ins türkische Parlament. Nach deren  Verbot trat er in die Tugendpartei ein. Ab 2002 war Gül Ministerpräsident und danach Außenminister. Während dieser Tätigkeit forderte er die diplomatischen Vertretungen auf, die Millî Görüş-Bewegung im Ausland zu unterstützen. 2007 wurde Gül gegen den Widerstand des Militärs zum elften Präsident der Republik gewählt. 2014 wurde er von Erdoğan abgelöst.

 

Um Gottes Willen an die Macht

Erdoğan besuchte eine Imam-Hatip-Schule. Dabei soll er durch besondere Religiosität aufgefallen sein und pflegte enge Kontakte zu Zahid Kotku. Erdoğan folgt dessen Lehren bis heute. Bis 1981 studierte er Wirtschaftswissenschaften und engagierte sich in der Millî Görüş-Bewegung Erbakans. Mit 22 Jahren wurde er Vorsitzender der Jugendorganisation der MSP und stieg schließlich zum Vorsitzenden der Wohlfahrtspartei auf. Das Bezugssystem von Erdoğan war immer der Islam. 1998 rezitierte er aus einem Gedicht: »Die Demokratie ist ein Mittel, (…) eine Straßenbahn, von der wir abspringen, wenn wir am Ziel sind«. Daraufhin wurde Erdoğan wegen »islamistischer Aktivitäten« zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.

Erdoğan und Gül gründeten 2001 die AKP und 2002 gewann diese Partei die politische Macht. Damit erhielten die Naqshbandiyya und der politische Islam Zugriff auf die höchsten Kreise der türkischen Politik. Da die AKP ganz offensichtlich das kemalistische Erbe rückgängig machen wollte, entging sie 2008 nur knapp einem Verbot.

Die Naqshbandiyya gehört zum Fundament jener restaurativen Kräfte in der Türkei, die den ohnehin sehr hindernisreichen Weg des Landes zu einer fortschrittlichen republikanischen Ordnung erfolgreich umkehrten. Die Renaissance der Naqshbandiyya und des politischen Islams insgesamt setzte um 1950 ausgerechnet mit der Einführung des Mehrparteiensystems ein.

Der Orden betreibt jedoch nicht nur im Inneren der Türkei eine massive Einflussnahme, sondern ist auch international vernetzt, bis hin zur Verbindung mit bewaffneten Milizen im Kaukasus, Afghanistan, Syrien und dem Irak. Diese Tariqa, die auf internationaler Ebene kaum jemand kennt, ist mit ihren weltweit 50 Millionen AnhängerInnen eine der größten der Welt. Naqshbandiyya ist gewiss nicht die alleinige »Schaltzentrale« der türkischen Restauration, aber ein relevantes Fallbeispiel für die religiös-konservativen Netzwerke, die seit Jahrzehnten an diesem Umschwung arbeiten. Auch aufgrund ihres Wirkens ist der politische Islam zur stärksten politischen Kraft in der Türkei geworden und führt die Republik in die Diktatur.

 

Die Afrikapolitik der Türkei

Seit Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich die Kontrolle der Osmanen über die Küsten Eritreas, des Sudan, Somalias und Kenias ausgedehnt. Hier traten sie als Sklavenhändler und Kolonialherren auf. Offiziell verloren die Osmanen die afrikanischen Provinzen erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Somit verbindet die Türkei mit einigen Ländern Afrikas eine 400-jährige Geschichte. In der West-Türkei leben heute noch etwa 30.000 Afro-TürkInnen, Nachkommen ehemaliger SklavInnen. Sie sind gesellschaftlich wie ökonomisch marginalisiert und ständigen Diskriminierungen ausgesetzt. Erst 2006 konnten sie sich im Verein der Afro-Türken (Afrikalılar Kültür ve Dayanışma Derneği) organisieren.

Seit den 1990er-Jahren wurden 41 neue Auslandsvertretungen in afrikanischen Ländern eröffnet und die Türkei hat einen Beobachterstatus bei der Afrikanischen Union (AU). Sie nimmt an UN-Einsätzen in Somalia und dem Sudan teil. In Mogadischu unterhält das türkische Militär ein Trainingslager für die somalische Armee. Auch in wirtschaftlichen Bereichen ist die Türkei verstärkt aktiv. Das Handelsvolumen mit afrikanischen Ländern wächst stark, 2017 betrug es 14 Milliarden US-Dollar. Im Sudan wurde der Hafen von Suakin gepachtet. Zudem wurden türkische Privatschulen in afrikanischen Ländern eröffnet sowie die Ausbildung von afrikanischen Imamen angeboten.

Von Suakin aus soll erneut die Kontrolle über die Pilgerreise der Muslime (Hajj) aus Afrika nach Saudi-Arabien übernommen werden. Bis zur Abschaffung des Kalifats in der Türkei 1924 hatten die osmanischen Herrscher diese Kontrolle 600 Jahre lang inne gehabt. In Suakin soll nicht nur der Hafen ausgebaut, sondern auch die osmanischen Paläste für 650 Millionen US-Dollar restauriert werden. Ägypten protestierte gegen den steigenden Einfluss der Türkei am Roten Meer als Sicherheitsbedrohung. Vielleicht dachte man dabei an einen Ausspruch Erdoğans nach dem AKP-Wahlsieg 2011: »Glauben Sie mir, Sarajevo gewann heute genauso wie Istanbul, Beirut gewann genauso wie Izmir, Damaskus gewann genauso wie Ankara, Ramallah, Nablus, Gaza, die Westbank und Jerusalem gewannen genauso wie Diyarbakir.« In diesem Satz zählt Erdoğan die Hauptstädte und Regionen des alten Osmanischen Reiches auf.

 

Oliver Schulten ist Experte für afrikanische Geschichte.