„Musik ist unseren Entscheidungen ausgeliefert“

Im Gespräch mit dem Pianisten Igor Levit über Europa, politisches Engagement und klassische Musik

Igor Levit gilt schon jetzt als einer der ganz großen Pianisten dieses Jahrhunderts und hat zahlreiche Preise für sein musikalisches Schaffen erhalten. Einen davon, den „Echo Klassik“ gab er nach der Auszeichnung zweier durch antisemitische Ausfälle aufgefallene Musiker zurück. Vor unserem Gespräch ist er gerade erst gelandet, zurück aus den USA. Wer ihm bei Twitter folgt, konnte bereits daran Anteil nehmen, wie die US-Einreisebehörde 500 Fluggäste stundenlang warten ließ, weil von 20 Schaltern nur einer funktionierte. Trotz eines langen Fluges fangen wir gleich an über Politik zu sprechen und sind sofort beim aktuellen Rechtsruck.

Igor Levit: … schlimmer als die Wahlerfolge der AfD finde ich die gesellschaftliche Normalisierung, wenn menschenverachtende Positionen sich im Alltag fest verankern. Dazu gehört, dass ständig in Talkshows Geflüchtete als Problem behandelt und ausgerechnet AfDler als vermeintliche Experten eingeladen werden.

Als 2015 z.B. in München die Menschen die Geflüchteten mit Beifall begrüßten, das war – wie Freunde in den USA sagen, „a moment of political beauty“, ein Moment der Schönheit, wie man es von Deutschland kaum kannte. Doch dann wurde die Stimmung schneller gekippt, als man es sich hätte vorstellen können.

prager frühling (pf): Als ob auf drei Monate Menschlichkeit eine mehrjährige Teufelsaustreibung folgen musste, um diesen Moment zu bearbeiten.

Igor Levit: Ja, genau.

Austerität und Europa

pf: War die Auseinandersetzung mit dem Rechtsruck der Anlass, für Sie als öffentliche Person sich stärker mit Politik zu beschäftigen?

Levit: Nein, das war eher 2008. Im Zuge der Finanzkrise und der Occupy- Proteste habe ich angefangen mich gründlicher in politische und wirtschaftliche Fragestellungen einzulesen. Mich ärgerte wie die deutsche Regierung ganz Europa die Austeritätspolitik aufgedrückt hat.

pf: Damit sind wir ja mitten in der Debatte um die europäische Union. Wie halten Sie es mit Europa?

Levit: Neulich diskutierte ich mit einigen Kollegen. An solche Gespräche gehe ich oft heran wie an eine erste Konzertprobe. Zunächst nehme ich mich zurück, höre zu, erst dann trete ich hervor und gebe meinen Ton dazu. In dieser Runde fiel immer wieder der Satz: „Europa ist toll.“ Nun würde ich die EU mit allem, was mir zur Verfügung steht, gegen rechts verteidigen. Aber „Europa ist toll“ – das ist doch keine Politik! Ich kann nur sagen: Fliegt doch mal nach Griechenland und informiert euch, wie da im Zuge der Austerität, eine demokratisch gewählte Regierung faktisch entmachtet wurde.

pf: Zur Austerität gehört auch ein Kurs, der auf Sozialkürzungen und Privatisierungen setzt …

Levit: Ja, dieser Kürzungskurs hat auch hierzulande geschadet. Vor Jahren haben uns die Neoliberalen eingetrichtert, der Staat muss schlanker werden, deshalb müssen wir in der Bildung Personal abbauen. Heute heißt es von denselben Leuten, wir hätten nicht genügend Lehrerinnen, die Flüchtlinge seien daran schuld.

… they fucked up our future.

pf: Sie waren gerade in den USA und kommentieren gelegentlich in den sozialen Netzwerken die politischen Entwicklungen dort.

Levit: Die Diffamierung von Protesten, die den Rechten nicht passen, verläuft hierzulande und in den USA recht ähnlich. Nehmen wir nur die Versuche die Frauenproteste gegen Trump in den USA und hier #unteilbar zu diffamieren. Da wird eine kleine Gruppe unter Hunderttausenden rausgepickt, die Positionen vertreten, die inakzeptabel sind, aber dann wird der Fokus allein darauf gelenkt, um von den tollen Anliegen der Hunderttausenden abzulenken.

pf: Nicht nur Sie verfolgen mit Interesse die politischen Aktivitäten von Alexandra Ocasio Cortez, eine junge Demokratin mit migrantischen Hintergrund, die bis zu ihrer Wahl als Kellnerin ihren Lebensunterhalt verdiente.

Levit. Da passiert gerade bemerkenswertes. In New York traf ich eine junge engagierte Frau. Mit ihr sprach ich darüber, dass es eine erstaunliche Koalition zwischen der jungen linken Generation und den älteren Linken gibt. Die wilden Zwanzigjährigen beziehen sich nicht auf die mittlere Generation, sondern eher auf die über Siebzigjährigen …

pf: … personifiziert durch Bernie Sanders, der sich selbst als demokratischer Sozialist bezeichnet ...

Levit: … genau. Über die Generation der Clintons sagte eben jene junge Aktivistin: „This generation fucked up my future.“ Diese Generation hat unsere Zukunft versaut. Donald Trump kann in vielen auf Dingen aufbauen, die schon von der Clinton Administration angeschoben wurden, z.B. die Abschiebegefängnisse. Nein, wirklich: was die junge Generation der Demokraten gerade auf die Beine stellt, ist zutiefst inspirierend.

Politik und Kunst

pf: Seit Anfang beschäftigt sich unsere Redaktion mit dem Verhältnis von Politik und Kunst. Kein einfaches Verhältnis. Uns interessierte vor allem der Moment, wenn sich beide berühren und Funken schlagen, wie Heiner Müller einst sagte.

Levit: Ja es gibt da gute Beispiele, aber auch schreckliche Beispiele für kulturelle Vereinnahmung.

pf: Zum Beispiel?

Levit: Das Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie zum G20-Gipfel. Da saßen Staatsleute, darunter Despoten, die höchstens wissen wie man „Demokratie“ buchstabiert. Die lauschten Beethovens 9. Sinfonie. „Alle Menschen werden Brüder“ und klopften sich auf die Schulter, während draußen eine Art Bürgerkrieg tobte. Diese Situation, dieses Zusammenspiel empfand ich damals wie heute als verstörend, empörend und einfach furchtbar.

pf: Dass Musiker politisch Position beziehen kennt man vom Punk, Rock oder von Liedermachern, aber aus der Klassik?

Levit: Doch, das gibt es schon immer. Im 17. Jahrhundert z.B. gab es Komponisten wie Agostino Steffani, die zugleich Diplomaten waren. Oder nehmen wir Ignacy Jan Paderewski, Komponist, Freiheitskämpfer und polnischer Ministerpräsident, der ganze Staatsverträge mit aushandelte.

pf: Und in der heutigen Klassikwelt? Sind Sie da nicht eher eine Ausnahme?

Levit: Naja, da gibt es schon bei vielen das Gefühl, was kann ich schon machen. Andererseits wächst bei vielen die Überzeugung, dass es eine institutionelle und eine persönliche Verantwortung gibt. Früher gab es oft Sprüche, wie: „Schuster bleib bei deinen Leisten.“ Das gibt es nicht mehr. Mir hat noch kein Konzertveranstalter gesagt, dass ich mein Engagement sein lassen soll.

pf: Speist sich Dein Engagement auch aus der Musik?

Levit: Ja. Zwar bin ich nicht der Meinung, dass Musik die Welt rettet. Musik ist unseren Entscheidungen ausgeliefert. Sie ist gefährdet, kann sich nicht gegen Vereinnahmungenwie beim G20-Gipfel wehren. Aber sie kann ein Klima erschaffen, das zu Herzen geht. Beethovens „Alle Menschen werden Brüder“ kann die Menschenliebe bestärken. Ich glaube nicht an eine höhere Macht, aber an die Menschen.

El Pueblo Unido

pf: Sie haben die Variationen auf „El Pueblo unido“ von Frederic Rzewski eingespielt. Erzählen Sie wie es dazu kam?

Levit: Zunächst ich bin mit dem Komponisten befreundet. Frederic ist ein großer Komponist und außerdem ein Eins-a-Kommunist. Dieses Stück ist eines von den ganz großen, deshalb habe ich es auch mit anderen mit Bachs Goldberg- und Beethovens Diabelli-Variationen aufgenommen und dem Stück so eine andere Plattform gegeben.

pf: Wie reagiert das Publikum darauf?

Levit: Dieses Stück weckt Sehnsüchte. Ich habe es zum Beispiel auch im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins aufgeführt. Denen habe ich das Stück quasi aufgedrückt, da ich kurzfristig eingesprungen bin. Dabei wurde klar: Es lässt keine Neutralität zu. Wenn ich es spiele, gibt es im Saal entweder Pro oder Contra, aber kein „Ist mir egal“. Als ich es in Bremen spielte, war echt was los. Mehrere Leute sprachen mich hinterher an: „Diese Protestlieder, die da zitiert werden, diese Lieder waren meine Jugend.“

pf: Neulich haben Sie eine Aufnahme von 136 Sekunden Beethoven getwittert mit der Anmoderation: „Die Welt, wie sie sein könnte, wenn wir nur wollen würden.“ Welche Musik möchten Sie mal bei einer politischen Kundgebung oder Demo hören?

Levit: Es gibt wunderbare, leider ungespielte Musik. Um nur ein Stück zu nennen, das mich begeistert: Guernica von Paul Dessau.

pf: Welches Stück würden Sie für den 8. März, den Frauenkampftag empfehlen?

Levit: Dazu überlege ich mir was.

pf: Wir sind gespannt! Vielen Dank für das Gespräch

Levit: Gern geschehen. Übrigens, ich bin ja kein Parteimitglied bei niemanden. Aber wenn es irgendwann mal eine Koalition der Nicht-CDUler, also der links von ihr, geben würde, das wäre toll.

Im Anschluss an unser Gespräch macht sich Igor Levit auf die Suche nach einer Wohnung in Berlin. Seine bisherigen Erfahrungen mit dem Thema brachte er neulich in einem Tweet wie folgt auf den Punkt: „Wer bei der Beschäftigung mit dem Berliner Mietmarkt nicht zum Vollsozialisten wird, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“