Wer schützt die Verfassung?

in (26.06.2002)

Till Müller-Heidelberg u.a. (hg.): "Grundrechte-Report 2002 - Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland", rororo-Taschenbuch, 271 Seiten, 9.90 Euro

Die Innenminister legen alle Jahre mit ernsten, sorgenvollen Mienen ihre Verfassungsschutzberichte vor. Darin kann man lesen - man kannÂ’s aber auch lassen -, wie emsig die Feinde der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung im Untergrund wühlen. Der diesjährige Bericht des Bundesinnenministers Otto Schily warnt zum Beispiel vor dem "Friedensratschlag" (der kürzlich die großen Antikriegsdemonstrationen anläßlich des Bush-Besuchs organisiert hat), und im Bericht des Hamburger Innensenators Ronald Barnabas Schill wird die "Plattform gegen Rassismus" attackiert, zu der sich im vergangenen Jahr die Internationale Liga für Menschenrechte, die Humanistische Union, die wichtigsten Organisationen von Verfolgten des Nazi-Regimes und auch die Redaktion Ossietzky zusammengetan haben. Tonangebende Politiker und Publizisten nehmen diese sogenannten Verfassungsschutzberichte immer gern zum Anlaß, Ängste im Publikum zu schüren und sogleich zur Sicherheit den Abbau von Freiheitsrechten zu propagieren - nach dem alten Motto der politischen Reaktion "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit".
Seit sechs Jahren gibt es aber auch alljährlich den "Grundrechte-Report", herausgegeben auf Initiative der Humanistischen Union von mehreren (inzwischen sieben) Bürgerrechtsorganisationen. Er sei hiermit dringend zur Lektüre empfohlen, denn im Gegensatz zu den Veröffentlichungen der Innenminister ist er verläßlich, vernünftig und stets an der Verfassung orientiert. Der Wortlaut der einzelnen Grundgesetz-Artikel wird jeweils vorangestellt, und sachkundige Autoren berichten dann in knappen Beiträgen, wie im Berichtszeitraum staatliche Stellen eben diesen Verfassungsbestimmungen zuwidergehandelt haben.
Alle historische Erfahrung lehrt: Wenn Freiheit und Demokratie beschädigt werden, dann gerade nicht von unten, sondern allemal von oben, wo die institutionalisierte Macht ist und wo folglich auch permanentes Interesse besteht, diese Macht abzusichern gegen jegliche Gewalt, die vom Volke ausgehen könnte.
Wahlperioden werden verlängert, Wahlkreise vergrößert, Parlamente verkleinert; so schrumpft die Zahl der Gewählten und wächst der Abstand zu den Wählerinnen und Wählern. Abgeordnete werden zu Berufspolitikern und sorgen für staatliche Finanzierung der Parteien - wodurch der Einfluß beitragszahlender Mitglieder zurückgedrängt wird, nicht aber der Einfluß wirtschaftlicher Interessen, im Gegenteil. Der Fraktionszwang tut ein übriges zur Disziplinierung der parlamentarischen Demokratie. Wenn das Allerheiligste des Staates, der Krieg, zur Abstimmung steht, kann die Vertrauensfrage des Kanzlers sogar bewirken, daß Koalitionsabgeordnete mit Ja stimmen, wenn sie Nein sagen möchten, und Oppositionsabgeordnete mit Nein, wenn sie Ja sagen möchten. Das Wählervolk - immer wieder enttäuscht, weil die von ihm gewählten Parteien Wahlversprechen brechen - soll laut Grundgesetz eigentlich per Meinungsäußerungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit inkl. Streikrecht sowie per Volksabstimmungen unmittelbar Einfluß nehmen können; aber gegen diese Möglichkeiten richtet sich nicht nur die Vermachtung der Medien, sondern auch eine sich schnell vermehrende Zahl von Notstands-, Stabilitäts-, innere Sicherheits-, Anti-Terror-, Vereinfachungs- und Erleichterungsgesetzen.
Von "dramatischen Grundrechtsverlusten", von "fortschreitender Erosion besonders nach dem 11. September" sprach bei der Vorstellung des diesjährigen "Grundrechte-Reports" der bisherige Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling, jetzt Bundesvorstandsmitglied der Humanistischen Union. Der frühere Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) nannte es eine "innenpolitische Aufrüstung ohnegleichen", was Gesetzgeber und Verwaltung seit Jahren betreiben. Er zählte auf: Verbot von Vermummung und "passiver Bewaffnung" bei Demonstrationen; Rasterfahndung; Kontaktsperre; Beobachtende Fahndung; Erfassung in Dateien sogenannter reisender Gewalttäter und anderen Dateien; verdeckte Ermittler, die auch im Strafverfahren verdeckt bleiben; das beschleunigte Verfahren einschließlich "Hauptverhandlungssicherungshaft"; erleichterte Untersuchungshaft ohne Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr; polizeiliche Vorbeugehaft; Kronzeugen; elektronisches Belauschen innerhalb und außerhalb von Wohnungen schon bei einfachem Tatverdacht; Telefonkontrolle einzelner Personen und gegebenenfalls ganzer Unternehmen; Überwachung der Auslandsgespräche nach Stichworten durch den Bundesnachrichtendienst; Verdachtsdateien von Personen, die "nach ihrer Persönlichkeit" in Zukunft eine Straftat begehen könnten; Verdatung auch von Zeugen, Hinweisgebern und "Begleitpersonen"; das Recht der Polizei, als sogenannte Schleierfahndung Personenidentität ohne äußeren Anlaß festzustellen; drastische Erleichterung der Paßversagung und des Ausreisevebots, ohne daß dem oder der Betroffenen die Aufnahme in die entsprechende Datei mitgeteilt werden muß; die Errichtung einer europäischen Polizeibehörde ohne staatsanwaltliche Kontrolle und mit Immunität der Beamten bei Straftaten, die im Dienst begangen wurden. Und so weiter. Unter den demokratischen Staaten sei die Bundesrepublik Deutschland inzwischen Weltmeister im Telefonabhören, sagte Hirsch. Und zu alledem seien nun nach dem 11. September die Zuständigkeiten des Bundeskriminalamtes, der Geheimdienste, der Ausländer- und anderer Behörden drastisch erweitert worden.
In der Einleitung des "Grundrechte-Reports" schildert Hirsch mit knappen Worten, wie der Bundestag am 14. Dezember 2001 "in einem unerhörten Verfahren" 17 Gesetze änderte: "Der Referentenentwurf des Innenministeriums bestand überwiegend aus Vorschlägen, die schon vor Jahren abgelehnt worden waren. Seine Begründung war formelhaft und nichtssagend. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen brachten den komplizierten Gesetzentwurf gleichzeitig in Bundesrat und Bundestag ein. Die Sachverständigen einer Anhörung konnten sich nur wenige Tage vorbereiten. Sie forderten umfangreiche Änderungen und Beratungen. Am Vorabend der unverzüglich folgenden einzigen Sitzung des federführenden Innenausschusses legten die Koalitionsfraktionen 36 zum Teil außerordentlich umfangreiche Änderungsanträge vor und nahmen dann ihre eigenen Vorschläge an. Das Plenum entschied noch in derselben Woche in zweiter und dritter Lesung." Aber die Innenminister sind damit noch längst nicht zufriedengestellt; sie planen immer neue Ermächtigungen, wie der Verfassungsrechtler Jürgen Seifert am Ende des Buches exemplifiziert.
Die einzelnen Beiträge befassen sich u.a. mit der Einschüchterung und Kriminalisierung des politischen Protests, zum Beispiel in Gorleben, und mit regierungsamtlicher Desinformation. Martin Finkenberger nimmt die Disziplinierung von Lehrern in den Blick, die sich mit Erwartungen verbindet, wie sie ein brandenburgischer Schulrat formuliert hat: "Es ist Ihre Aufgabe, behutsam, aber konsequent die Einschätzung der Landes- und Bundesregierung zu übermitteln." Mißstände in Untersuchungshaft, Strafvollzug und Sicherungsverwahrung kommen im neuen "Grundrechte-Report" ebenso zur Sprache wie unter der Überschrift "Mißhandelt, eingesperrt, entmündigt" die tägliche Entwürdigung alter Menschen. Wohin sich der im Grundgesetz postulierte Sozialstaat entwickelt, zeigt Peter Grottian ("Rot-grüne Armutspolitik findet nicht statt") allein schon mit dem knappen Hinweis, daß der Sozialhilferegelsatz seit 1993 um 6,3 Prozent erhöht wurde, während die Lebenshaltungskosten seit 1993 bereits bis 2000 um 15,9 Prozent angestiegen waren. (Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sagt selber, daß "soziale Ausgrenzung und Verteilungsungerechtigkeit zugenommen" haben.)
Der "Grundrechte-Report" will mit all diesen bitteren Feststellungen nicht entmutigen. Im Gegenteil: Die herausgebenden Organisationen bemühen sich ja darum, die Grundrechte zu verteidigen, sie sind die wirklichen Verfassungsschützer, und sie können auch den einen oder anderen Erfolg vorweisen, sogar einzelne Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Bekräftigung von Bürgerfreiheiten. Aber dasselbe Gericht trägt seinerseits zum Grundrechtsabbau bei, wie Wolfgang Däubler am Beispiel Tarifautonomie zeigt und Norman Paech am Beispiel parlamentarischen Entscheidendürfens über die Militärpolitik: Als die NATO vom Verteidigungsbündnis zum Interventions-, sprich Angriffsblock umgewandelt wurde, war das Parlament ausgeschaltet, und das Bundesverfassungsgericht nickt dazu.