Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V.: Moskau 1938. Szenarien des Großen Terrors

in (18.07.2002)

herausgegeben von Klaus Kinner in Verbindung mit Willi Beitz, Leipzig 1999, 196 S.

In der Erforschung des Stalinismus ist seit 1990 auch von deutschen Wissenschaftlern aus dem linken Spektrum viel geleistet worden. Es gibt unterdessen nicht wenige politische Stimmen, die in Distanz zu diesen Leistungen meinen, es reiche nunmehr. Die politischen Motive sind durchsichtig. Die Rosa-Luxemburg- Stiftung Sachsen, eine der kreativsten linken Institutionen im deutschen Sprachraum, hat viel mit den ihr verbundenen Wissenschaftlern - hier sei nur an Klaus Kinner, Wladislaw Hedeler, Ulla Plener, Lutz-Dieter Behrendt erinnert - zur Entwicklung der Stalinismusforschung beigetragen. Vorliegende Beiträge für ein Kolloquium am 25. April 1998 dokumentieren ein weiteres Zwischenergebnis.

Ein erster großer Komplex fragt nach Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des "Großen Terrors" der Jahre 1936 bis 1938. Der Begriff "Großer Terror" stammt aus der russischen Historiographie. Das spezielle Interesse der Autoren gilt in dem Band den Mechanismen des Zusammenspiels von Partei- und Staatsapparat. Allein jene Fakten, die Hedeler zur Archivsituation in Rußland auflistet, lassen die Dramatik jener Jahre aufscheinen. Hedeler plädiert dafür, "das Übergewicht des noch nicht verarbeiteten empirischen Materials in Erinnerung zu rufen und vorschnelle Definitionen der Komplexität der dahinter verborgenen Wirklichkeit zu relativieren." (S. 11). Bisher konnten die Szenarien der Moskauer Schauprozesse vom Erscheinungsbild her erschlossen werden. Hedeler fordert hingegen, "das Wesen des Terrors, der zunehmend zu einem Element der Wirtschaftsplanung wurde und vor Ort eine wichtige macht- und systemstabilisierende Ventilfunktion erfüllte" (S. 11), zu bestimmen. Hier wird ein ganzes Forschungsprogramm angerissen. Anhand von zwei Dokumenten stellt Hedeler Anfang und Ende, Idee und Ausführung der Moskauer Schauprozesse genauer dar als bislang bekannt. Bei dem ersten Dokument handelt es sich um das von Jeshow 1935 begonnene und von Stalin sowie von Mitgliedern des Politbüros des ZK der KPdSU(B) redigierte Manuskript, das ein Szenario der Schauprozesse sowie die Grundelemente der Rundschreiben des ZK der KPdSU(B) in den Jahren des Großen Terrors enthält. Bei dem zweiten Dokument handelt es sich um das Stenogramm des Schauprozesses gegen den "Block der Rechten und Trotzkisten" vom 2. bis 12. März 1938 im Umfang von 1 200 Blatt. Hedeler spürt dem Zusammenspiel von Partei- und Staatsorganen exakt nach.

In der Persönlichkeitsnegation im Parteikommunismus sieht Ulla Plener eine Grundlage des Massenterrors. Sie erblickt im "Ausschluß der selbständig denkenden Persönlichkeit aus dem Parteiverständnis, verbunden mit weitgehender Reduktion der lebendigen Persönlichkeit auf den Parteiapparat als Instrument des jeweiligen Parteiführers ... eines der konstitutiven Momente des Stalinismus" (S. 30). Plener problematisiert das Disziplinverständnis, den Treuegrundsatz, das Entweder-Oder-Denken, das Meinungsmonopol im Parteikommunismus und stellt alles sozialistischer Ethik gegenüber. Neues Material über den Terror in der Komintern-Zentrale, besonders in dem sogenannten Verbindungsdienst, dem Nervenzentrum der Kommunistischen Internationale, präsentiert Bernhard H. Bayerlein. Einen Kulturbruch erkennt Steffen Dietzsch noch nicht im Roten Terror unmittelbar nach der Oktoberrevolution, sondern erst in den Jahren um 1937/38. "Diese Zeit des exzessiven, nach innen gerichteten und längst nicht mehr schichten-, sozial oder klassenorientierten Massenterrors in den Dreißigern markiert einen definitiven Bruch in der Kultur sozialer Revolutionen überhaupt" (S. 66). Lutz-Dieter Behrendt erblickt in den roten Professoren, also in den Absolventen der von 1921 bis 1937/38 existierenden Instituten der Roten Professur, der ranghöchsten Bildungseinrichtung der sowjetischen Partei, eine Personengruppe, die unter dem stalinistischen Terror besonders zu leiden hatte. Er stellt aber differenzierend fest: Während die erste Generation dieser Roten Professoren, die in den zwanziger und dreißiger Jahren in leitende Funktionen aufgestiegen waren, mit geringen Ausnahmen ihren Einfluß und oft auch ihr Leben verloren, begannen andere in der Periode des Großen Terrors ihre steile Karriere, die sie bis in die siebziger und achtziger Jahre hinein in höchste Funktionen in Politik und Wissenschaft führten, so Suslow, Ponomarjow, Pospelow, Iljitschow, Pelsche, Mitin, Judin, Konstantinow, Kedrow, Minz. Der Kritik der Transformationsauffassung Bucharins durch Lenin spürt Andreas Eichler nach.

Ein zweiter Komplex des Bandes widmet sich der internationalen Dimension des Terrors. Auch hierzu ist viel zu finden. Carola Tischler verweist auf 688 Personen, die von den KPD-Führern Pieck, Florin, Hähnel und Wehner von September 1936 bis Juni 1938 aus der Partei ausgeschlossen wurden, davon 548, die nach ihrer Verhaftung durch den NKWD aus der Partei gefeuert wurden. Die KPD-Führung hat die Beschuldigungen gegen ihre Mitglieder zumindest in den ersten Monaten ohne Zweifel geglaubt. "Sie hat die Loyalität zum sowjetischen Staat höher gestellt als die zu den eigenen Mitgliedern" (S. 108). Noch sind nicht alle Opfer bekannt. Wie die KP Polens unter Mitwirkung des Präsidiums des Exekutivkomitees der Komintern zerschlagen wurde, untersucht Eva Seeber.

Die Seiten, auf denen Frido Seydewitz seine zehn Jahre umreißt, in denen er vom stalinistisnadäquates - Bewußtsein davon auf, was zumindest die Geschichtsschreibung den Opfern noch schuldig ist. Wie furchtbar sich der Große Terror auf den Antifaschismus und besonders auf das Ende der Volksfrontpolitik auswirkte, zeigt Klaus Kinner. Kinner, gegenwärtig wohl der beste Kenner der KPD-Geschichte, warnt davor, die Kchen Terror erfaßt war und sich in den Fängen des NKWD befand, zählen zu den einprägsamsten des Bandes. Spätestens hier scheint beim Leser ein - selbstverständlich iPD vorwiegend als Opfer stalinistischer Repressionen zu begreifen. Vielmehr: "Ihre führenden Kräfte und ihr Apparat wurden zunehmend selbst als Mittäter in die mörderischen Mechanismen des Terrors einbezogen" (S. 142). Der Auswirkung der Moskauer Prozesse auf die deutsche und internationale Sozialdemokratie widmet sich Herber Mayer, wobei er den Rahmen weiter faßt und die Stellung der Sozialdemokratie zur Sowjetrußland seit 1917 umreißt. "Schriftsteller unter dem Terror" heißt ein dritter Abschnitt des Bandes. Willi Beitz gibt einen Überblick über das Thema, und Wolfgang Geyer untersucht am Fall Gide-Feuchtwanger die Wahrnehmungen von Terror.

Der Band spiegelt den Arbeitsstand und ein Entwicklungsniveau der Stalinismusforschung des Jahres 1998 wider. Nach Gründung des Ständigen Kolloquiums zur historischen Sozialismus- und Kommunismusforschung in Leipzig im Jahre 2001 ist mit einer Konzentration von wissenschaftlichen Potenzen und mit weiteren Erkenntnissen auch zum Stalinismus zu rechnen.