AIDS als Ausweg

Susan George: Der Lugano-Report oder Ist der Kapitalismus noch zu retten?, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2001, 288 Seiten, 19,90 Euro

Die Sonne strahlt auf die betörend schöne Landschaft von Lugano. In einem luxuriösen Konferenzgebäude beraten Wissenschaftler der angesehensten Denkfabriken über einen Report zur Frage, wie Kapitalismus und Natur zu retten seien. Alle wissen, wenn Chinesen und Afrikaner auf dem westeuropäischen Konsumniveau lebten, hätte die Menschheit es so weit wie die Dinosaurier gebracht: Die Erde wäre uns los. Deshalb kommen die hochdotierten Experten - Zynismus gehört zum Handwerk - zu dem Schluß, daß die Zahl der Menschen drastisch reduziert werden müßte - durch Eroberung, Krieg, Hungersnot und Seuchen.

Eroberung: Hier geht es nicht um die Kolonisierung eines Gebietes, sondern um die der Köpfe. Da der Griff ins Bücherregal immer nützlich ist, wenn man die Tötung von Massen rechtfertigen will, rammen die Geistesgrößen ihre ideologischen Stützpfeiler ein, indem sie den frühchristlichen Theologen Tertullian zitieren:

Und was das beste Zeugnis für die große Zahl der Menschen ist: Wir sind der Welt zur Last geworden! Kaum reichen die Elemente für uns aus, die Not wird dringender, und bei allen gibt es Klagen, weil die Natur uns nicht mehr erhält. Man muß wahrhaftig Pest, Hungersnot, Kriege und das Sinken von Städten in den Abgrund als Heilmittel, als eine Art Beschneidung des überwuchernden Menschengeschlechts betrachten.
Die Experten empfehlen, diese Art christlicher Sicht mit heutigen Medienmittel zu propagieren.

Krieg: Man solle möglichst nicht direkt eingreifen, sondern alles fördern, was Bürgerkriege begünstigt, etwa Trinkwasserknappheit und hohe Bevölkerungsdichte, halbdemokratische Regimes und Waffenhandel.

Hungersnot: Da Bodenerosion und Versalzung, Umweltverschmutzung und Urbanisierung fortschreiten, brauche man nur flankierend alle wirtschaftlichen Maßnahmen zu fördern, die das Nahrungsmittelangebot verknappen und die Preise steigen lassen.

Seuchen: Nicht allein AIDS, sondern vor allem alte wiederkehrende Krankheiten wie Tuber^kulose und Malaria könnten wirkungsvoll den Überschuß an Menschen reduzieren.

Nur durch die Beschneidung des wuchernden Menschengeschlechtes sei der Kapitalismus zu retten - ansonsten produziere er zu viel Verlierer und zerstöre die Natur. Der Luganoreport ist einerseits eine Fiktion der aus den USA stammenden und in Frankreich lebenden Publizistin Susan George, andererseits basiert er auf Analysen und Statistiken einflußreicher Denker und Wissenschaftler. Mit Karl Kraus kann man sagen: Die grellsten Erfindungen sind Zitate.

Seitdem sogar Spekulanten den Part des Börsenkritikers geben, kann Kapitalismuskritik wieder "in" sein. Susan George ändert die Perspektive und schreibt keine direkte Anklage, sondern eine scheinbare Verteidigung - und mit erschreckender Ruhe und unerbittlicher Konsequenz enthüllt sich: Wer klar analysiert und die bestehende Weltordnung beibehalten will, ist zu wachsenden Brutalitäten gezwungen. Die Logik der Sachzwänge ist die Logik der Gewalt.

in: Des Blättchens 5. Jahrgang (V) Berlin, 5. August 2002, Heft 16