Balance oder Zerstörung

Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung

Rezension zu: Franz Josef Radermacher: Balance oder Zerstörung. Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung, Ökosoziales Forum Europa Wien 2002, 312 S. (1

Mit der "Formel für Wachstum und Gerechtigkeit " dürfte Franz Josef Radermacher der Diskussion um Wege zu mehr Nachhaltigkeit einen wichtigen Impuls gegeben haben. Dazu wird auch die zuspitzende Formel 10 Ë 4:34 und die Forderung eines beschleunigten Wirtschaftswachstums beitragen.

Der Autor, Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, Professor für angewandte Informatik und Leiter des Forschungsinstitutes für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm, zentriert seine Untersuchung auf drei Fragen: (1) die Equity (Gerechtigkeit) - Frage des weltweiten sozialen Ausgleichs bei ökologischer Nachhaltigkeit, (2) wahrscheinliche Entwicklungspfade bei unterschiedlichen politischen Weichenstellungen, insbesondere auch die Gefahren, die mit der gegenwärtigen Orientierung der US-Administration unter George W. Bush verbunden sind und (3) die notwendigen Schritte zu einem Weltgesellschaftsvertrag für eine ökosoziale Marktwirtschaft. Er konstatiert den Zustand einer "globalen Apartheid", gekennzeichnet durch unerträgliche Ungleichheit; ein Zustand, der "absolut nicht zukunftsfähig ... und langfristig nicht haltbar (ist)" (S. 116). Diese Ungleichheit quantifiziert er mittels eines neuen Ansatzes für die Messung der Verteilung, den sogenannten Equity-Faktor. "Dieser neue Ansatz ist unmittelbar durch die EU-Definition von Armut inspiriert. In dieser Definition werden Menschen als arm definiert, wenn sie über weniger als das halbe Durchschnittseinkommen verfügen" (S. 78). Aus der Definitionsgleichung für den Equity-Faktor ergibt sich ein Faktor von 1:1 (100 %) bei völliger Gleichverteilung und ein Faktor von 1:2 (50 %) bei einer Verteilung mit 75 % der Bevölkerung unter dem Durchschnittseinkommen.

Es soll hier nicht auf die mathematische Seite seiner Überlegungen eingegangen werden - seine Ergebnisse ähneln nach eigener Einschätzung denen, die bei Berechnung von anderen Meßgrößen für die soziale Ungleichheit, zum Beispiel Gini-Koeffizienten, entstehen ( S. 80) -, vielmehr sollen zwei empirische Ergebnisse, die für die weiteren Überlegungen essentiell sind, vorgestellt werden: Erstens haben industriell hochentwickelte Länder Equity-Faktoren zwischen 46 % (USA) und 65 % (Österreich). Zweitens: Wird nicht die Ungleichheit innerhalb der Länder gemessen, sondern die Welt als Ganzes, das heißt, wird nicht die soziale Schichtung eines Landes untersucht, sondern die einzelnen Länder als Teil der Welt insgesamt, so ergibt sich ein Faktor von 12,5 %. Dieser Faktor liegt noch unterhalb des Faktors von Brasilien (27 %), dem Land mit der größten sozialen Ungleichheit auf der Erde (S. 84 f). In der Analyse der Ursachen legt Radermacher kein systematisches Konzept vor, vielmehr finden sich Äußerungen zu diesem Komplex an verschiedenen Stellen der Arbeit, dann jedoch teilweise sehr rigoros. Die Weltwirtschaft leide unter einem falschen "ökonomischen Design" (S. 39), gekennzeichnet von "Vorteilsnahme", "Plünderung" und "Elementen von struktureller Gewalt" (S. 42). Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß es die "Ungerechtigkeit der Eigentumsordnung " (S. 97) ist, die zu Ungerechtigkeiten führt und daß das "Paradigma einer immer weiter gehenden Deregulierung" einen paradigmatischen oder Systemfehler hat (S.156). Letztlich macht er die "Freihandelslogik" für die schwerwiegenden Fehlentwicklungen der Weltwirtschaft verantwortlich: "In einer Welt mit falscher Ordnung rechnet es sich, das Falsche zu tun" (S. 249). Die wahrscheinlichen Entwicklungen der nächsten fünfzig bis hundert Jahre beschreibt Radermacher anhand von vier Szenarien, die anhand von jeweils zwei Fragestellungen geordnet werden: Werden die ökologischen Grenzen des Wachstums berücksichtigt? Und: Kommt es zu konsensbasierten Lösungen unter Beachtung der bürgerlichen Freiheiten? Bei der Behandlung dieser Szenarien geht er besonders ausführlich auf zwei Entwicklungsmöglichkeiten ein: die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Welthandelsordnung, verbunden mit der Zementierung der sozialen Ungleichheit bei Absicherung des in den reichen Ländern erreichten Standards durch massive Sicherheitsmaßnahmen (Szenario B) und die ökosoziale Marktwirtschaft, das heißt die Berücksichtigung ökologischer Grenzen und der Freiheits- und Menschenrechte bei Steigerung der Equity (Szenario C).

Radermacher sieht starke Anzeichen dafür, daß die USA die Ereignisse vom 11. September 2001 dafür benutzen, um auf egoistische Weise ein Szenario vom Typ B durchzusetzen. Bei der Kritik an diesem Weg läßt er es an starken Worten nicht fehlen; für ihn ist der 11. September eine "Reaktion", wenn auch unangemessen und verurteilenswert, des Südens auf die globale Ungerechtigkeit: "...den etwa dreitausend Opfern des Anschlages vom 11. September (stehen) mindestens vierundzwanzigtausend Menschen gegenüber, die täglich weltweit verhungern" (S. 190). Die Formen dieser Strategie analysiert er anhand der US-Politik und am Beispiel Israels. Er ordnet diesem Szenario eine hohe Wahrscheinlichkeit zu; es sei äußerst gefährlich und vermag die aufgezeigten globalen Probleme letztendlich nicht zu lösen: "Kommt es wegen der Auflehnung der Zivilgesellschaft gegen die Sicherheitsmaßnahmen früher zum Crash oder kann der Druck im Kessel noch etwas länger gehalten werden, so daß der Crash erst später kommt? Ein Crash, vielleicht in Form von Terror, als Reaktion auf das massive Verhungern rund um den Globus bei gleichzeitigem großen Reichtum an der Spitze der Pyramide und als deutlicher Ausdruck des Widerstands gegen eine für jeden ethisch geprägten Menschen offensichtliche und unerträgliche Ungerechtigkeit, die dieser Form globaler Ordnung innewohnt." (S. 196) Zwei wesentliche Schlußfolgerungen werden aus der Analyse dieses gegenwärtigen weltpolitischen Trends deutlich: Es wird keine nachhaltige Entwicklung geben, wenn die USA nicht in eine Trendwende einbezogen werden können und er unterstreicht zweitens die Notwendigkeit einer Wende, eines "new deal" als einer Frage von Krieg und Frieden. Es ist nicht ein ökologischer Kollaps, der die Welt in nächster Zeit bedroht, sondern der Krieg um knapper werdende Ressourcen. Vgl. hierzu seinen Beitrag in UTOPIE kreativ 148 (Februar 2003).

Den Ausweg in Richtung auf eine zukunftsfähige Entwicklung (Szenario C, oder auch "dritter Weg") verbindet er mit vier Momenten: (1) die Formel 10 Ë 4:34; (2) die ökosoziale Marktwirtschaft; (3) das Konsensmodell und einen Weltvertrag; (4) eine sogenannte Doppelstrategie zur Verhinderung der sicherheitspolitischen Hegemonie der USA.

Einen völligen sozialen Ausgleich lehnt Radermacher ab, dies sei "extremer Kommunismus ". Für eine hohe Gleichverteilung zahle man als Preis den Verlust an Dynamik (S. 86). Aber der gegenwärtige Zustand sei "absolut nicht friedens- und zukunftsfähig" (S. 85) und ebenso mit niedrigerem Wachstum verbunden. Das mindestens anzustrebende Ziel sei zunächst ein Wert von 47 % (S. 127).

Die Formel 10 Ë 4:34 beinhaltet die Wachstumsrelationen zwischen Nord und Süd, wenn innerhalb von etwa 50 Jahren dieses Verteilungsziel erreicht werden soll, nämlich eine Vervierfachung des Konsumniveaus in den hochentwickelten Ländern, während es sich in den Entwicklungsländern auf das 34fache steigern muß (S. 127 f.). Weltweit steigt das Bruttosozialprodukt damit insgesamt um den Faktor 10, wobei der Autor von einem "doppelten Faktor 10" (S. 29) ausgeht und dieses Wachstum eine Verzehnfachung der Ökoeffizienz einschließen muß.

Auch wenn diese Dynamik illusorisch erscheint (Die Wirtschaft der Entwicklungsländer wuchs mit einer Rate von 3,2 % im Durchschnitt der letzten Jahre; mit diesem Wachstum könnten sie ihr BSP bis 2050 verfünffachen. Die entsprechende Rate der OECD-Länder lautet 1,5 %, was eine Verdopplung bedeuten würde.), so wird damit zumindest die Richtung und die Dynamik deutlich, die erforderlich wären, um in absehbarer Zeit zu einem globalen Ausgleich zu gelangen. Die Bedingung für eine solche Entwicklung in den nächsten fünfzig bis hundert Jahren sieht Radermacher in der Schaffung einer ökosozialen Marktwirtschaft, wobei er auf Josef Rieglers Konzept verweist, in einem neuen "weltökonomischen Design" (S. 258) mittels eines Weltvertrages, für den er konkrete Schritte der Implementierung entwickelt, und einer massiven Aufrüstung Europas, um die Hegemonie der USA brechen und mit ihr "auf gleicher Augenhöhe" operieren zu können, "auch wenn das im weitesten Sinne gegen die soziale Logik Europas ist" (S. 289). Radermacher bezeichnet dies als Doppelstrategie, weil Europa zwar erklärt, die Aufrüstung sei nicht gewünscht, aber mit einer stärkeren Aufrüstung droht für den Fall eines amerikanischen Alleingangs.

In der EU sieht Radermacher das Modell eines zukunftsfähigen Weltsystems. Im Rahmen dieses Modells werde mit den neuen Mitgliedern über "Kompensationen" verhandelt: schrittweise Akzeptanz der erforderlichen sozialen und ökologischen Standards durch die neuen Staaten im Ausgleich für die Einbeziehung in das ökonomische System mit entsprechenden Kompensationszahlungen. Detailliert beschreibt er die Schrittfolge zur Übertragung dieses Modells in die Dimension eines Weltvertrages. Seine zeitliche Abfolge sieht für 2052 die "volle Implementierung einer Weltdemokratie (Rio + 50)" vor (S. 267). So sympathisch und notwendig dem Rezensenten das Entwerfen einer Langfriststrategie mit dem Ziel eines Weltvertrages und einer Weltdemokratie scheint, so problematisch erscheint ihm deren Inhalt. Obwohl an vielen Stellen die dem bestehenden System innewohnenden Fehlorientierungen für die wirtschaftliche Entwicklung benannt werden, will nicht recht einleuchten, warum die EU, die seit ihrem Bestehen fester Bestandteil des Systems ist und die bisherige Fehlentwicklungen keineswegs verhindern konnte, nun als die Lösung der globalen Probleme betrachtet wird. Problematisch scheinen dem Rezensenten auch die Überlegungen zur europäischen Rüstungspolitik, weil damit faktisch ein neues Wettrüsten, diesmal zwischen der EU und den USA, in Gang gesetzt würde. Diese Vorbehalte schmälern freilich nicht den großen Gewinn, den die Lektüre des Buches zurückläßt.

in: in: UTOPIE kreativ, H. 150 (April 2003)