Das Proletariat

Die große Karriere kommt an ihr gerechtes Ende

Peter Decker, Konrad Hecker: Das Proletariat. Politisch emanzipiert - sozial diszipliniert - global ausgenutzt - nationalistisch verdorbenGegenStandpunkt Verlag München 2002, 279 S. (20 EUR)

Vom Proleten, der einstmals die neue Zeit erkämpfen sollte, redet mittlerweile, spätestens nach dem Fall der letzten Marx-Standbilder östlich von Berlin, niemand mehr. Allenfalls als Beschimpfung findet das Wort noch Verwendung, wenn unhöfliches Betragen, Mangel an Geschmack und Stil gegeißelt werden soll. Wer heutzutage noch eine ökonomische und soziale Lage lohnabhängiger Menschen mit dem Begriff Proletariat kennzeichnen will, erntet nicht einmal mehr geifernde Verwünschungen, nur noch Kopfschütteln. Der Augenschein gibt den Beweis: Wo sind sie denn, die Armutsquartiere, wo die feuchten Löcher, in denen ausgemergelte Proleten samt Familie hausen, wo sind die Elendsbilder, die man aus den Romanen von Charles Dickens kennt?

Eine Neuerscheinung aus dem GegenStandpunkt- Verlag stellt jetzt die Gegenfrage: "Aber wer macht eigentlich" - heutzutage - "die Arbeit und macht die Unternehmer reich?" (S. 5) Sicher bedeutet eine Existenz als "abhängig Beschäftigter" nicht mehr das, was sie zu Zeiten und in den Formen des Manchesterkapitalismus bedeutet hat. Und doch ist besagte Klassenlage schon in den gängigen Sprachregelungen, in denen es um "unsere Wirtschaft" oder "unsere Sozialsysteme" geht, ständig präsent, wie die Autoren Peter Decker und Konrad Hecker im Einleitungskapitel ihres Buches erläutern.

Wann immer etwa der deutsche Kapitalstandort auf dem Weltmarkt Mißerfolge zu verzeichnen hat, und noch mehr, seit sich im Zuge der momentanen Krise ein Rückfall gegenüber konkurrierenden Nationen einstellt, ist klar, daß Löhne und Lohnnebenkosten einfach zu hoch sind. Der Lebensstandard der Lohnabhängigen - der schließlich durch Löhne und Sozialleistungen definiert wird - ist mit größter Selbstverständlichkeit als Hebel kapitalistischen Konkurrenzerfolgs verplant; so niedrig muß das nationale Lohnniveau jedenfalls sein, daß deutsche Unternehmen ihre Konkurrenten aus dem Feld schlagen können. Wenn Firmen mit der Übersiedlung auf Niedriglohnstandorte drohen, zu denen mittlerweile auch die "befreiten" Ostgebiete zählen, dann spricht das nicht gegen eine Wirtschaftsweise, bei der die arbeitende Weltbevölkerung auf fünf Kontinenten durch Billigkeit und Willigkeit darum konkurrieren darf, in die Gnade kapitalistischer Arbeitsplätze zu kommen. Nein, es spricht gegen die Beschäftigten, die einfach "zu teuer" sind. Die Ansprüche der lohnabhängigen Schicht - um das böse Wort "Klasse" nicht zu benutzen - stehen offenbar im Gegensatz zum Wachstum der nationalen Wirtschaft und zur "Stabilität" der staatlichen Haushalte.

Die "Karriere" der ausgebeuteten Gestalten des Manchesterkapitalismus zu den sozial verwalteten "Arbeitnehmern" von heute ist zwar, wie die Autoren betonen, nicht zu bestreiten; aber an ihrer ökonomischen Lage als Menschen, deren Existenz ganz durch ihre kapitalistische Benutzung bestimmt ist, hat sich nichts geändert. In einem weit gespannten Bogen von den Gründerzeiten des Kapitalismus bis zu den heutigen sogenannten globalisierten Zuständen erläutert das Buch, wie die Durchsetzung der ökonomischen "Rationalität" des Kapitalismus erst einmal nichts anderes bedeutet hat, als die pure Ruinierung der Ausgebeuteten. Der Kampf war den Proleten somit regelrecht aufgezwungen; nicht aufgezwungen jedoch war die Richtung, die die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiterbewegung ihm gegeben haben: um Rechte und soziale Absicherung wurde gestritten, mit dem kapitalistischen Staat als Adressaten. Dies führte folgerichtig nicht zur Beseitigung der Ausbeutung, sondern zu ihrer Verrechtlichung, ihrer Verwandlung in ein politisch funktionales, den Staat nicht zersetzendes, ihm vielmehr dienendes Verhältnis. Mit der Einrichtung sozialstaatlicher Maßnahmen anerkannte der Staat laut Decker und Hecker, daß gewisse Rücksichten auf die Proleten nötig waren, um ihren Erhalt als Klasse zu gewährleisten. Die Ausbeutung wurde in funktionale Schranken gewiesen, um geordnet ihren Gang gehen zu können.

Das Produkt dieser Politik - der Sozialstaat - bedeutete deshalb auch nie, daß Armut und körperlicher Verschleiß unter Arbeitnehmern verschwunden wären; im Gegenteil hatten die Gesundheits- und Arbeitslosenkassen immer genug zu tun, weil es an freigesetzten oder gesundheitlich geschädigten Arbeitskräften nie mangelte; und Rentenkassen hätte es gar nicht geben müssen, wenn es nicht zum selbstverständlichen "Lebensabend" von Lohnarbeitern gehören würde, am Ende ihrer jahrzehntelangen Arbeit völlig mittellos da zu stehen. Weil die Maßnahmen Geld kosten, das für solche unproduktive Ver(sch)wendung viel zu schade ist, sind sie notwendigerweise stets knapp bemessen. Und wo bliebe denn der "Anreiz" zum Lohnarbeiten, wenn etwa mit der Annahme von Arbeitslosenhilfe nicht auch Senkung des Lebensstandards und die Verpflichtung auf Arbeitsbereitschaft verbunden wäre?

Wenn mittlerweile selbst diese bescheidenen Errungenschaften proletarischer Lebensführung ins Gerede gekommen sind und als im Grunde untragbarer "Wohlfahrtsstaat" denunziert werden, an dessen Abbau sich nicht zuletzt die Agenda 2010 betätigt, dann zeigt sich eine bittere Ironie der ganzen Geschichte. Die politisierende und erzieherische Wirkung des Sozialstaats - eine national integrierte, zuverlässig sozial friedliche Arbeiterklasse überdauert dessen Abbau und ermöglicht ihn dadurch ein Stück weit sogar. Auch darauf gehen die Verfasser ein, wie die kapitalistischen Nationen sich in der momentan ablaufenden verschärften Krisenkonkurrenz - die Expansion des Weltmarkts ist vorbei - soziale Standards von früher nicht mehr leisten wollen, sie einreißen und dabei gar nicht fürchten müssen, daß "Klassenkampf von unten" wieder in Mode kommt. Denn die von oben gewährte Rücksicht aufs Arbeitsvolk hat die Arbeiter und ihre Organisationen nachhaltig mit der Staatsgewalt versöhnt; jetzt steht man "Seit an Seit" mit Schröder und Stoiber und hat Verständnis für jeden Klassenkampf von oben - pardon: für jede unumgängliche Reform.

Das Buch des Gegenstandpunkts zum Proletariat ist jedenfalls ein Plädoyer dafür, mit dieser Unsitte aufzuhören. Wenn das Bild der Arbeiterbewegung im Buch so trist ausfällt, dann sollte man dies nicht den Autoren anlasten.

in: UTOPIE kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 79f

aus dem Inhalt

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