Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus

Wolfgang Kraushaars Buch und die Debatte um den Antisemitismus der 68er

Wolfgang Kraushaar hat in seinem mittlerweile viel diskutierten Buch Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus die Geschichte eines infamen Anschlages rekonstruiert.

Am 9. November 1969 gedachte die Jüdische Gemeinde in Westberlin dem 31. Jahrestag der Reichspogromnacht. Was die 250 Versammelten, unter ihnen zahlreiche Überlebende des Nationalsozialismus, nicht ahnen konnten: Im Gemeindesaal tickte eine Bombe, die allerdings versagte. Gelegt hatte sie nicht ein Nazi, sondern ein linksradikaler "Tupamaro West-Berlins", nachdem er sie von einem agent provocateur des Berliner Verfassungsschutzes erhalten hatte.
Wolfgang Kraushaar hat in seinem mittlerweile viel diskutierten Buch Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus die Geschichte dieses infamen Anschlages rekonstruiert. Er hat mit Leichtigkeit geschafft, was der Polizei 30 Jahre lang nicht gelang: den Attentäter Albert Fichter zu finden und zu einem Geständnis zu bewegen. Fichter zeichnet sich dabei selbst als von Drogen beeinflussten Mitläufer und beschuldigt den Situationisten, Kommunarden und Spaßrebellen Dieter Kunzelmann, der Spiritus Rector und Drahtzieher des Terroraktes gewesen zu sein. Der dritte Hauptakteur in diesem Gruselkabinett ist Peter Urbach, V-Mann des Verfassungsschutzes, der die Bombe geliefert hatte und heute mit neuer Identität in den USA lebt.
Der bewaffnete Kampf der 68er begann also, so stellt Kraushaar fest, mit einem antisemitischen Akt. Spaß war nicht nur in Gewalt und Surrealismus in Terrorismus umgeschlagen, sondern man hatte sich im konstituierenden Akt ein Opfer gesucht, das in den Augen Kunzelmanns geeignet sei, den "Judenknax" zu überwinden. Dieser verhindere nämlich, den Staat Israel als Wiedergänger Nazideutschlands und den "arabischen Vietcong" (Arafats Fatah-Bewegung) als revolutionäre Kraft zu erkennen. Inwiefern dieser linke, sich als Antizionismus gebärende Antisemitismus konstitutiv für die gesamte 68er-Bewegung gewesen war, darüber streiten sich nun vorwiegend Intellektuelle, die selbst dieser Generation angehören.
Kraushaar (geb. 1948) selbst ist uneindeutig. Er suggeriert einen Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Terrorismus, allerdings ohne ihn systematisch zu entwickeln. Er sieht den Antisemitismus bei militanten Linken, also einem kleinen subkulturellen Ausschnitt, keineswegs in der ganzen Bewegung am Wirken. Gleichzeitig konstatiert er "die ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhanges".
Unverblümt konstatiert dagegen Götz Aly (geb. 1947), die deutschen 68er seien ihren Eltern vor allem hinsichtlich ihrer Sprache auf elende Weise ähnlich gewesen. Ebenso kennzeichnet Micha Brumlik (geb. 1947) das linksradikale Aufbegehren gegen die Generation nationalsozialistischer Eltern, das "1968" ja auch war, als widersprüchlichen Identifikationsprozess mit ihnen und ihrem Judenhass. Der antifaschistische Antisemitismus erscheint hier als ein Exorzismus, der sich unbewusst und fast zwanghaft mit der Geschichte verstrickt, die er hinter sich lassen will.
Solche psychohistorischen Herleitungen empfindet Gerd Koenen (geb. 1944) dagegen als "arge Vereinfachung". Der Anschlag habe der Provokation der linken Szene dienen sollen, "die ihren angeblich philosemitischen ‚JudenkomplexÂ’ und ‚hilflosen AntifaschismusÂ’ zugunsten eines militanten Antizionismus als Teil eines globalen Antiimperialismus überwinden sollte". Ihm sekundiert Rudolf Walther (geb. 1944), welcher der 68er-Bewegung keinen linken Antisemitismus, wohl aber "fahrlässige Vereinfachungen und ideologische Schwarzweißmalerei" im Weltbild vorwirft.
Der SDS war sicherlich keine deutschnationale Bewegung, und die Kennzeichnung der APO als antisemitisch mag heute nicht selten dem Bedürfnis dienen, die 68er insgesamt zu delegitimieren. Gleichwohl haben die Wahnidee vom Judenkomplex und das antiimperialistische Weltbild, die Koenen und Walther als Verteidigung vortragen, selbst schon Anleihen vom modernen Antisemitismus genommen. Die Vorstellung von einem "Judenknax" der deutschen Linken geht davon aus, dass die Zionisten Macht über das Bewusstsein selbst der antiimperialistischen und antifaschistischen Linken gewonnen habe. Und der Antiimperialismus hat den Nahostkonflikt als einen Kampf zwischen dem künstlichen und naziähnlichen Staat Israel und dem organischen und emanzipatorischen Volk der Palästinenser gezeichnet. Er hat damit nicht nur kaltschnäuzig die jüdische Leidensgeschichte ignoriert, die der Staatsgründung vorausging, sondern sich ausgiebig völkischen Gedankenguts bedient.
Gleichwohl muss die Geschichte von 1968 historisiert und die vielfältigen Motive müssen offen gelegt werden, warum Spaßrebellen zu Terroristen wurden und Antifaschisten sich Juden als Hauptfeinde vorstellten. Denn manch einen mag wie Kunzelmann der Hass auf die Juden angetrieben haben, andere aber haben infolge von gruppendynamischen Prozessen oder der hysterischen Suche nach klaren Freund-Feind-Unterscheidungen Israel den Prozess gemacht. Und die Frage, wer, wann und in welchen Fällen Gewalt als Mittel befürwortet hat, lässt sich nicht mit dem Antisemitismus der Linken beantworten.
Dass aber der Antisemitismus, besonders in der antizionistischen Variante, von der APO in der BRD gesellschaftsfähig gemacht worden ist, lässt sich wohl kaum bestreiten. So glauben heute 52 Prozent der Bundesbürger, dass sich das Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern grundsätzlich nicht von dem der Nazis gegenüber den Juden unterscheide. Insofern beschreibt Kraushaars Buch keineswegs nur die vergangenen Wahnideen von Sektierern.

Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im
Jüdischen Gemeindehaus. Hamburger Edition, Hamburg, 2005, 300 S., 20 Euro.

Jörg Später ist Mitarbeiter im iz3w.