Going Public makes trouble

Frauen und Männer, die sich als MuslimInnen definieren, verwenden diverse Taktiken, um als soziale Gemeinschaft von Individuen einen Platz im öffentlichen Raum zu erobern.

"Es tut mir wirklich herzlich leid, aber die Leute interessieren sich nicht für den Islam", behauptet Emma, ein Mädchen der "Groupe de Paroles des Filles" aus einem kleinen Ort nahe Marseille. "Niemand hat mich jemals gefragt, wie ist das oder das bei euch?"
Assema hat andere Erfahrungen: "Doch, in meiner Klasse fragen sie oft. Einige fragen mich und sagen, das und das verstehe ich nicht." "Mich hat nie wer gefragt." "Ich frage die Christen auch Sachen, z.B. wie sie das mit den jungen Leuten halten." "Du kennst Christen? Ich kenne keine Christen!" "Sicher kenne ich Christen!" Die Väter der Mädchen kamen aus Marokko, Tunesien, Spanien und Italien in den 1970er Jahren nach Frankreich und errichteten das Atomkraftwerk, die Mädchen selbst sind bereits alle in Frankreich geboren. Die gebildeten, eloquenten Töchter vertreten andere Ansichten als ihre erschöpften, schweigenden Väter, die sich abarbeiten, um die Familie zu ernähren.
Einen riesigen Generationenkonflikt sieht die belgische Wissenschafterin Nadia Fadil in ihrem Aufsatz "The Making of an Islamic Political Subject" in dem Buch "Politics of Visibility. Young Muslims in European Public Spaces", das gerade erschienen ist: "Etikettierungen wie ‚Europäische MuslimeÂ’ oder ‚Ethnisierung des IslamÂ’ zeigen einen Wechsel an. Das Label ‚IslamÂ’ wird zu einer neuen Identitätsform der Beteiligung an der öffentlichen Meinung in Europa.
"Auf der einen Seite gibt es eine Differenzierung und Distanzierung von ethnischer Identität, die junge MuslimInnen dazu befähigt, sich in Westeuropa zu positionieren. Auf der anderen Seite kann diese Praxis auch als defensive Identifizierung mit dem Islam verstanden werden, als Reaktion auf die negativen Stereotypen über Muslime und den Islam." Hinzu komme noch, ganz wichtig, die hohe Arbeitslosigkeit der zweiten Generation, die schwache, sozioökonomische Integration.
Die französische Herausgeberin des Buches, Valerie Amiraux, stellt die gewagte These auf, dass die jungen MuslimInnen in dem Moment, in dem sie nun selbstbewusst ihre BürgerInnenrechte und Raum in der Öffentlichkeit, feste Plätze beim Bilden von öffentlichen Meinungen einfordern, bildlich gesprochen, eins "auf die Birne" kriegen, "aufs Haupt", "aufs Kopftuch" sozusagen. Wobei die Mädchen in Marseille keine Kopftücher tragen, sondern alle die gleichen riesigen, runden, silbernen Ohrringe, die wohl hier in Frankreich als eine Art Erkennungszeichen fungieren. Alle Ansprüche der zweiten Generation, die eine gute Bildung hat und sicher auch die Universität besuchen will, auf adäquate Arbeits- und Lebensmöglichkeiten würden mit dem Hinweis "Religion" abgeschmettert.
Der öffentliche Raum ist nicht neutral, sondern Produkt einer spezifischen Geschichte, die nicht nur mit Kolonisation und Arbeitsmigration zu tun hat. "Europäische Staaten können nicht mehr länger MuslimInnen als BürgerInnen ansehen, ohne ihnen auch den öffentlichen Raum zu öffnen", schreibt Amiraux. Die unterschiedlichen Strategien der Generationen zur Erlangung desselben seien ein "work in progress". Die Debatte könne nicht weiterhin als Migrationsthema behandelt werden, denn es ginge um demokratische Einbindung und die Politik der BürgerInnenschaft.
Die gerne publizierten Leidensberichte der jungen Frauen aus den Ghettos würden die wahren Konflikte in einer hierarchischen und ausschließenden Gesellschaft, die aber Partizipation behauptet, auf die Mitleidsebene reduzieren.
Dass sich muslimische Gemeinschaften gerne separieren würden, wird angenommen, dabei wird in Wirklichkeit eine Verbannung in die banlieues verordnet und gewalttätig durchgesetzt. Warum konnten sonst plötzlich "nach 15 Jahren der Fluktuation zwischen Schweigen und öffentlichem Drama" ein paar Hundert Mädchen, die Kopftuch in der Schule tragen wollten, zu einer Bedrohung der Demokratie und der Meinungsfreiheit, bzw. des säkularen Prinzips an sich oder sogar der weiblichen Emanzipation werden?

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at