Kapitalkosmetik

Des Bürgers Menetekel, »Das Kapital« von Karl Marx, hat seit Erscheinen bei
Legionen von Tarotkartenlesern mit soziologischem Anstrich krampfartige Reizanfälle
ausgelöst. Immer wieder nahmen sie Anlauf, um Marx zu widerlegen,
abzuschlachten oder für irrelevant zu erklären. Was ist da nicht alles erfunden
worden: Grenznutzen und lange Wellen, Differentialoptionen und Sozialplanetarien,
Systemmechanisierung und kommunikatives Handeln, Eigenverantwortung
und Kundenzufriedenheit etc. pp. Immer wieder behaupteten diese
Geister, daß sie es letztlich geschafft hätten, dem ollen Marx seine Fehler und
Mißinterpretationen triftig unter die Nase zu halten. Nur, da stellt sich doch
die Frage: Wenn bereits von Böhm-Bawerk, Popper und von Hayek Marx
mehr oder weniger stilvoll »erledigt« haben, wieso müssen dann weiterhin
welche antreten und sich neuerlich an so ein Werk machen?


Den Konjunkturen wäre Marx sowieso abhold gewesen. Und er wäre sicher
nicht erfreut darüber, wenn er heute feststellen müßte, daß sich alle seine
analytisch extrapolierten Voraussagen erfüllt haben. Was, seid Ihr immer noch
nicht weiter? Man kann ihn Toben hören. Die Leute, die sich für die marxologische
Synthese halten, jedoch nur zusammengesetzte Fehlgriffe sind, sterben
auch im Spätimperialismus nicht aus. Die Charaktere sind aber die gleichen.


Marx erwähnt irgendwo im ersten Band des »Kapitals« einen zeitgenössischen
englischen Soziologen, den er in der Sphäre der Cirkulation oder des Waarenaustauschs
in einem Atemzug mit Freiheit, Gleichheit, Eigenthum nennt:
Jeremy Bentham. Jedem sei es auf dem Markt nur um sich zu tun, und das seiauch gut so. Denn die Marktteilnehmer vollbrächten, in Folge einer prästabilirten
Harmonie der Dinge, damit nur das Werk des Gesamtinteresses aller.


Wahrscheinlich hätte Marx mit dem Kapitalismus ein weitaus kleineres
Problem gehabt, wenn die Käufer der Ware Arbeitskraft und ihre bezahlten
Lakaien des Schriftgelehrtentums nicht so emsig damit befaßt gewesen
wären, Notstand und Mangel als naturgesetzliches Erdenheil zu preisen. Kurzum:
Bentham war hier das Beispiel für Schönrednerei ohne wirkliches Argument.
Seine vielen Nachfolger haben diese Methode perfektioniert.


Einer von denen heißt auch Marx. Reinhard Marx. Er ist Erzbischof von München
und Freising. Dieser Marx kam auf die marketingträchtige Idee, »Das
Kapital« noch einmal zu schreiben und damit richtigzustellen. Er war nicht so
größenwahnsinnig zu behaupten, nun den vierten Band vorzulegen, denn
dann hätte er mit den Klassen anfangen müssen, was freilich recht kompliziert
ist. Aber der Einband des Buches ist so schön blau, wie die Marx-Engels-
Werke. Um den Klassen aus dem Weg zu gehen, hat der neue Marx seiner Arbeit
den Untertitel Ein Plädoyer für den Menschen verliehen. All jene, die
sich in den 150 Jahren Marx-Tötung auskennen, werden sich jetzt an den Generalvorwurf
erinnern: Kommunismus ist nicht möglich, weil die Natur des
Menschen dafür nicht geschaffen sei. Auf diesem Niveau schreitet unser Autor
voran, nicht ohne vergessen zu betonen, daß alle Kultur des Abendlandes
sich aus dem Christentum speist, Individualität im Zentrum menschlicher Entwicklung
steht und einzig die katholische Soziallehre solide Perspektiven
dafür aufzeigt, wie der Kapitalismus mit Ethik versöhnt werden könne.


Dies aus der Feder eines Geistlichen ist natürlich nicht neu. Interessant ist
nur, daß man die ganzen theologischen Mucken weglassen und mit Versatzstücken
aus BWL-, VWL- und IWF-Lehren ersetzen könnte, um eine komplette
Bibliothek der gegenwärtigen Ausreden und Ratlosigkeiten einzurichten.
Anders herum erscheint die aktuelle Retheologisierung des Denkens der
Massen bei Reinhard Marx in Reinkultur. Mit derlei Rückenwind läßt sich
natürlich trefflich für einen moralisch geläuterten Kapitalismus werben.


So einer ist Bentham der nächste. Der Bischof beschreibt zwar alle Gebrechen
des Kapitalismus, hält aber flankierende Maßnahmen für das Wesen der
Aufhebung von Totaldefekten. Er nennt es einen »faszinierenden Ansatz«,
wenn die »Freiheitspotentiale der Menschen (…) sittlich entlastet werden und
obendrein Wohlstand für alle erzielt werden kann«. Er betrachtet den stupiden
und überholten Nationalökonomismus der sogenannten Freiburger Schule als
letzten Schritt zur Gesundung des Kapitals. (Übrigens nicht nur er, wenn man
sich die wirtschaftspolitischen Konzepte aller im Deutschen Bundestag vertretenen
Parteien ansieht.) Bentham hätte es nicht anders formuliert, nur die
Möblierung ist moderner. Kurzum: Dieser neue Marx ist konsensfähig. Gute
Aussichten für Kosmetik, schlechte für die Welt. Wieder einmal.


Reinhard Marx: Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, Pattloch-Verlag
München 2008, 320 Seiten, 19,95 Euro