Angst

Der sowjetisch-russische Schriftsteller Daniil Granin begann seine 1999 auf
Deutsch erschienenen Erinnerungen mit den Worten: »Dies sind Aufzeichnungen
über die Angst. Die ANGST, die einen so großen Raum in meinem Leben
einnahm, die so wunderbare geistige Impulse in meiner Generation erstickte,
unsere Charaktere verbog, uns kraftlos machte und so bittere Erinnerungen
hinterließ … Ich meine nicht die normalen alltäglichen Ängste um Freunde
und Verwandte, um die Arbeit. Sie gehören zu jedem Leben. Mir geht es um
jene Ängste, die heute, noch Jahre später, Scham und Reue auslösen. Ängste,
die ein Merkmal der Zeit waren, die die Schicksale von Millionen von Menschen
zerstörten …«


Granin, Jahrgang 1919, verdeutlicht an seinem eigenen Lebensweg und an
dem von Kollegen, Bekannten und Freunden, daß in der Sowjetunion seit den
zwanziger Jahren, insbesondere aber mit dem Anschwellen der systematischen
innenpolitischen Repressionen stalinscher Prägung in den dreißiger Jahren,
die existentielle Angst zu einer Grundkonstante des Lebens breiter Bevölkerungskreise
wurde. Eine Angst, in die Mühlen und Fänge eines allmächtigen
Staates – konkret der Partei und der Geheimdienste – zu geraten, der mit einer
für den einzelnen in seiner Logik nicht durchschaubaren Willkür agierte,
und darin – für die Außenwelt oft spurlos – zu verschwinden oder erst nach
Jahren im Gefängnis, im Arbeitslager und/oder in der Verbannung wieder aufzutauchen.
Diese Angst, dafür liefern Granins nicht sehr umfangreiche Erinnerungen
beeindruckende Beispiele, vergiftete das Leben mehrerer Generationen,
und sie erhielt auch nach dem Ende der großen »Säuberungen« der
dreißiger Jahre – die mit der massenhaften Ermordung von Menschen aus allen
Schichten der sowjetischen Bevölkerung einhergingen – in den nachfolgenden
Jahrzehnten immer wieder neue Impulse durch die Art und Weise der
Herrschaftsausübung im Lande.

Wie der Stalinsche Terror nach innen funktionierte, wer die Opfer, wer die Täten
waren, wie die Lager im sowjetischen Gulag-System betrieben wurden –
mindestens unter Inkaufnahme des massenhaften Todes der Inhaftierten –, das
ist in Kunst und Wissenschaft mannigfach reflektiert und analysiert worden.
Für die kritische Literatur zu diesem Themenkreis soll neben Granin nur stellvertretend
auf Arthur Koestlers Roman Sonnenfinsternis, die Werke Alexander
Solschenizyns, Anatoli Rybakows Tetralogie Die Kinder vom Arbat, die
Kolyma-Erzählungen von Warlam Schalamow sowie auf jüngere historische
Werke wie Stalin und seine Henker von Donald Rayfield verwiesen werden.


Dieser Publikationskanon ist jüngst durch eine weitere Facette in Gestalt
von Orlando Figes’ Buch Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland erweitert
und durch bisher kaum dokumentierte Aspekte bereichert worden. Der Autor
untersucht, »wie Familien auf die Zwänge des Sowjetregimes reagierten«. Vor
allem bewegt ihn die Frage: »Welche Überlebensstrategien, stillen Übereinkünfte,
Lügen, Freundschaften und Treuebrüche, moralische Kompromisse
und Anpassungsbemühungen prägten Millionen Leben?«


Figes erschloß dafür in mehrjähriger Arbeit mit einem Team von Mitarbeitern
einerseits ein breites Spektrum an Materialien sowohl in den staatlichen
Archiven Rußlands, soweit diese zugänglich waren, als auch in Sammlungen
von Dokumenten Betroffener (Tagebücher, Briefwechsel …), die insbesondere
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von diversen gesellschaftlichen
Gruppen und Organisationen an verschiedenen Orten des Landes zusammengetragen
wurden. Und andererseits befragten er und seine Mitarbeiter zahlreiche
Zeitzeugen, überwiegend Opfer der Terrorzeit oder deren Angehörige.


Die große Fülle von belegten, detailreich geschilderten Familienschicksalen
verleiht Orlandos Buch den Charakter einer Dokumentation zu Granins
Erinnerungen und insbesondere den eines Belegs für Granins Fazit, daß die
Stalin-Ära Millionen von Menschen um ihr Lebensglück gebracht hat.


Daß die überlebenden Opfer des Terrors, sobald sie entlassen waren, häufig
alles daran setzten, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren – gerade auch
politisch –, ist ein Phänomen, dem Figes ebenfalls nachgeht, und die entsprechenden
Passagen zählen zu den berührendsten des Buches. Und zu den beunruhigendsten
zugleich, denn dieses Phänomen steht nicht zuletzt dafür, wie es
Hans-Dieter Schütt kürzlich in einer Laudatio zu Heiner Müllers 80. Geburtstag
formulierte, daß es »immer wieder … in der Geschichte (gelang), Menschen
davon zu überzeugen, es gäbe, einer höheren Ethik zufolge, so etwas
wie die Versittlichung des Mordens Klassenkampf genannt.«


Figes’ Untersuchung und Darstellung weist allerdings auch große Lücken
auf. Die hat jedoch nicht der Autor zu verantworten, und sie werden womöglich nie zu schließen sein. Da nämlich, wo Figes seinem Hauptanliegen folgt,
kann er dies natürlich nur unter Rückgriff auf vorhandene Dokumente und
Zeitzeugen tun, und die stammen überwiegend aus der wissenschaftlichen,
künstlerischen und administrativen Intelligenz beziehungsweise aus Kreisen, in
denen zumindest die Tradition von schriftlichen Lebensäußerungen, Familienchroniken
oder auch – wenngleich weniger systematisch – mündlichen Überlieferungen
oft über Generationen gewachsen und auch unter schwierigsten
Bedingungen nicht vollständig abgetötet werden konnten. Dazu zählten Fabrikarbeiter,
Kolchosbauern, Krankenschwestern und Verkäuferinnen in der
Regel nicht. Die übergroße Mehrheit der arbeitenden sowjetischen Bevölkerung
spiegelt sich in Figes’ Buch daher nicht wider.


Apropos Zeitzeugen. Die sind, einem verbreiteten Bonmot der Branche zufolge,
des Historikers größter Feind: wegen des zwangsläufig subjektiven
Charakters ihrer Erinnerungen, Zeugnisse und Wertungen. Figes selbst thematisiert
dieses Problem als ein grundsätzliches im Nachwort seines Buches
und gibt einen knappen, aber informativen Überblick über seine methodologischen
Ansätze, die damit verbundenen Klippen zu umschiffen. Wieweit ihm
das gelungen ist, bleibt dem Urteil des Lesers anheimgestellt.


Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland, Berlin Verlag 2008,
1036 Seiten, 34 Euro