Fliegender Holländer

in (16.02.2002)

Günter Grass: "Im Krebsgang", Steidl-Verlag Göttingen, 222 Seiten, 18 Euro

Um die "Wilhelm Gustloff", jenen Dampfer, der "Volksgenossen" im Dritten Reich auf Kreuzfahrten nach Norwegen und Madeira "Kraft durch Freude" spenden sollte, ranken sich in dem neuen Werk von Günter Grass - einer Novelle, dickleibig wie ein Roman - weitere Geschichten: wie das KdF-Traumschiff zu seinem Namen kam, wie es als überfrachtetes Flüchtlingsfloß im Januar 1945 von einem russischen U-Boot (dessen Kommandant zum tragischen Helden werden sollte) versenkt wurde und wie es bis heute als Fliegender Holländer mythenumwabert durch die rechtsextreme Propaganda geistert.
Grass verarbeitet gleich mehrere dunkle Kapitel deutscher Geschichte. Das ist, wie gewohnt, sehr lehrreich, bisweilen etwas belehrend. Zu einem ansprechenden literarischen Werk wird "Im Krebsgang" erst durch die Figuren: Da ist vor allem der Journalist und Ich-Erzähler Paul Pokriefke, dessen Hauptlebensleistung darin besteht, am 30. Januar 1945, nur wenige Minuten nach dem Untergang der "Gustloff", geboren worden zu sein. Das meint seine seit Kriegsende in Schwerin lebende Mutter, die als Hochschwangere die letzte Fahrt des Schiffes überlebte. Schwerin, hier finden die Erzählstränge zusammen, ist auch die Geburtsstadt des Nazifunktionärs Wilhelm Gustloff, der bis zu seiner Ermordung durch David Frankfurter in Davos 1937 der schweizerischen NSDAP vorstand. Durch seinen gewaltsamen Tod zum NS-Märtyrer erhoben, erhielt neben dem Suhler Waffenwerk mit Außenstelle Buchenwald auch das KdF-Schiff seinen Namen.
Paul Pokriefke hat einen aus einer gescheiterten Ehe hervorgegangenen Sohn. Konrad ist intelligent und gut erzogen, bewegt sich jedoch, obwohl alles andere als ein tumber Neonazi, ideologisch im rechtsextremen Fahrwasser. Pokriefke kommt seinem Sprößling im Internet auf die Schliche. Dort unterhält Konrad die Homepage "www.blutzeuge.de", auf der er die Vor- und Nachgeschichte der "Gustloff" brauntönig verklärend darstellt. Großmutter Pokriefke, bekennende Verehrerin von Gustloff und Stalin, hat durch ihre Augenzeugenberichte vom Schiffsuntergang nachhaltigen Einfluß auf das revisionistische Wirken ihres Enkels, während Konrads antisemitische Haltung einmal mehr "die Projektion eines Minderwertigkeitskomplexes" (Friedrich Dieckmann) sein dürfte.
Damit aus dieser Erzählung eine Novelle wird, muß - wie Goethe sagte - eine "unerhörte Begebenheit" eintreten. Zu der kommt es, als des Ich-Erzählers Sohn Konrad zum Mörder an einem Altersgenossen wird, der sich David nennt und mit dem der Pokriefke-Sohn via Internet kommuniziert hat, bevor sie sich, just am 20. April 1997, in Schwerin treffen. Erst der Knast wird für den Jugendlichen zum Augenöffner. Als sich bei dem 17-jährigen Konrad eine geistige Wende abzuzeichnen beginnt, muß Vater Pokriefke im Internet eine rechtsradikale Homepage entdecken, die nunmehr seinen Sohn als "Märtyrer der Bewegung" feiert. Der Alptraum - wenngleich unter wechselnden Vorzeichen - geht also weiter.
Erste Interpreten haben Flucht und Vertreibung als zentrales Thema herausgehoben. Aber Grass‘ Novelle handelt vor allem von der Wiederkehr des ewig Gleichen aus dem viel zitierten fruchtbar-furchtbaren Schoß. Die von Familie und Gesellschaft nicht verarbeitete NS-Vergangenheit setzt, wie der Fliegende Holländer, immer wieder ihre Segel.