Antiamerikanist Johnson

Chalmers Johnson: Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie, Karl Blessing Verlag München 2003, 476 Seiten, 23 Euro.

Und auch: Chalmers Johnson: How China and Japan See Each Other (Welche Sicht China und Japan aufeinander haben), in: Alvin D. Coox & Hilary Conroy (Ed.): China and Japan. A Search for Balance Since World War I (China und Japan. Auf der Suche nach dem Gleichgewicht seit dem 1. Weltkrieg), Santa Barbara & Oxford 1978, Seiten 5-16

Nein, ein Rebell ist er nicht, dieser Chalmers Johnson. Vielmehr gehört er, der weithin anerkannte Experte für China, Japan und die ostasiatischen Verhältnisse insgesamt, zum Bildungsestablishment. Als solchen habe ich ihn auch in Tokio erlebt, damals, Anfang der achtziger Jahre, als wir - Journalisten aus aller Welt - die Begegnung mit Männern seines Schlages dankbar genossen: die von ihnen präsentierte, so nüchterne wie treffliche Analyse des komplizierten asiatisch-pazifischen Kräftespiels, ihr besonnenes Abwägen der Möglichkeiten und Spielräume der USA und der Sowjetunion, Chinas und Japans - und auch ihr selbstzufriedenes Lächeln, wenn sich eine Prognose als richtig, eine These als überlegen erwiesen hatte.
Lustig machte sich Chalmers Johnson, Professor für politische Wissenschaften an der University of California, damals zum Beispiel über diejenigen, die geglaubt hatten, die USA könnten, als sie Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre zaghaft begannen, ihren Blick in Richtung Verständigung mit der Volksrepublik China zu lenken, Japan für eine Art Brückenschlag instrumentalisieren. "Ein kurzer Moment des Nachdenkens hätte genügt", schrieb er damals - und dieser Pfeil war auf keinen Geringeren als den Säulenheiligen der amerikanischen Ostasienpolitik Edwin O. Reischauer gerichtet -, "um erkennen zu können, daß dies eine Brücke gewesen wäre, auf die kein Chinese je seinen Fuß gesetzt hätte."
Nein, die USA müßten den Weg nach Peking schon alleine gehen - und würden dann ihrerseits als Brücke dienen, und zwar zwischen China und Japan. "Und so", triumphierte er in einem Rückblick aus dem Jahre 1978 auf das Jahr 1972, "ist es dann ja auch gekommen."
Was war so besonderes an dieser doch scheinbar ganz harmlosen Erkenntnis? Das Besondere war, daß Johnson mit seinen gründlichen Chinakenntnissen die Fähigkeit erworben hatte, sehr zeitig und sehr gründlich über den Tellerrand der ungetrübten Gewißheiten, wie man sie in den USA so häufig vorfindet, hinaus schauen zu können. Er wußte, daß man die Welt nicht (nur) aus der Sicht des eigenen Landes beurteilen darf, wenn man zu auskömmlichen Beziehungen mit anderen gelangen will - und machte daraus ein Prinzip seines Forschens und öffentlichen Auftretens.
Mit solchen Ansichten ist er Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auch, wie er heute freimütig berichtet, für den Geheimdienst CIA Partner und Berater gewesen - in jenem dramatischen Zeitabschnitt, da die US-Regierung verzweifelt nach Wegen suchte, um aus dem Vietnamkrieg, den sie in selbstherrlichem Unschlagbarkeitswahn angezettelt und zum Preis von Millionen toten Vietnamesen und mehr als 50 000 toten US-Soldaten immer mehr ausgeweitet hatte, irgendeinen Ausweg zu finden.
Aber obwohl seine Anregungen zum Umgang mit China offenbar durchaus Gehör fanden, hat Johnson für die Geheimdienstberichte, die ihm damals zur Begutachtung vorgelegt worden waren, heute nur Spott übrig. Er habe sich - schreibt er in seinem gerade erschienen Buch Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie - "keine Sorgen" machen müssen, "aus Versehen irgendwelche nationalen Geheimnisse auszuplaudern ". Warum nicht?
Weil "der beste Grund dafür", diese Berichte "streng unter Verschluß zu halten", ihre "absolute Banalität" gewesen sei. "Höchst peinlich" hätte es werden müssen, hätte die Öffentlichkeit "erfahren, daß sich die strategischen Analysen, die im Weißen Haus diskutiert wurden, auf dem Niveau von ganz normalen Zeitungsartikeln bewegten."
Das aber - so fährt Johnson fort - könne letztlich gar nicht verwundern, denn "das eigentliche Geschäft der CIA" seien "verdeckte Operationen " gewesen - und eben nicht, wie mancher immer noch glauben mag, das "Sammeln und Analysieren von nachrichtendienstlichen Informationen." Und weiter: "Diese Erfahrung kurierte mich auch von allen Spekulationen darüber, daß die Regierung gewisse Dinge aus Gründen der nationalen Sicherheit geheim halten könnte." Nein, die Gründe seien ganz andere: "Die Nachrichtendienste klassifizieren Vorgänge oder Informationen, um sich selbst vor der Überwachung durch den Kongreß oder vor politischen oder bürokratischen Gegenspielern innerhalb der Administration zu schützen." Und schließlich: "Interessanterweise ließ die CIA im Herbst 2002, als die Bush-Regierung die Welt täglich mit neuen Meldungen über Saddam Husseins geheime Waffenarsenale und die Notwendigkeit einer präventiven Invasion im Irak erschreckte, verlautbaren, daß es keinen nationalen Geheimdienstbericht zum Irak gebe und man seit über zwei Jahren auch keine Notwendigkeit gesehen habe, einen solchen Bericht zu erstellen."
Und dies, vermerkt Johnson resignierend, habe ja sogar Logik, denn "mit dem wachsenden Militarismus in den Vereinigten Staaten" habe sich "die CIA über die Jahre hinweg zur Privatarmee des Präsidenten" entwickelt - aller öffentlichen Kontrolle entzogen und scheinbar niemandem rechenschaftspflichtig. Und dies bei einem Geheimdienstetat, den zwar niemand genau kenne, von dem man aber immerhin wisse, daß er größer ist als der Betrag, den "die Volkswirtschaften Nordkoreas, Libyens, des Iran und des Irak zusammen erwirtschaften".
Der Befund "Militarismus" ist es, der Chalmers Johnson heute umtreibt, und mit der gleichen Sorgfalt, mit der er früher etwa den Zusammenhang zwischen dem bäuerlichen Nationalismus und der Macht der Kommunisten in China analysierte, seziert er heute die Strukturen dessen, was er unverhohlen "das amerikanische Imperium" nennt. Er schreibt ein Kapitel zur "Enthüllung" dieses Imperiums, ein nächstes zu "altem und neuem Imperialismus", ein weiteres über die "Wurzeln des amerikanischen Militarismus" und eines über dessen "Institutionen"; er gibt Auskunft über die "Söldner und Soldaten" der USA, erörtert die Entwicklung des "Imperiums der amerikanischen Militärbasen", analysiert "die Irakkriege". Und im Kapitel "Was geschah mit der Globalisierung?" formuliert er: "Die Doktrin der Globalisierung ist, und das zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung, nichts weiter als eine hübsch drapierte Fassade, mit der ihre Opfer in der dritten Welt beruhigt und abgelenkt werden sollen, während die reichen Länder sie aussaugen und dafür sorgen, daß sie niemals in der Lage sein werden, die imperialen Mächte herauszufordern."
Und mit großer Hellsichtigkeit gelangt er in der Analyse der Politik des Internationalen Währungsfonds zur Unterwerfung der Entwicklungsländer unter die Interessen des internationalen Kapitals zu einem Schluß, wie er aus solcher Richtung so schnell nicht zu erwarten war: "Der Sturz der Regierung Salvador Allendes in Chile 1973 und die Errichtung der Militärdiktatur Augusto Pinochets waren frühe und klassische Beispiele für diesen Prozeß. Â… Ende der 1990er Jahre wurden rund 90 Staaten im Rahmen einer von Washington verordneten ökonomischen Schocktherapie ›strukturell angepaßt‹."
Er ist kein Rebell, dieser Chalmers Johnson, Jahrgang 1931. Aber er hat ein Buch geschrieben mit einem Maß an Kritik an der Politik seines Staates USA und insbesondere an der Regierung des George W. Bush, für das man ihn, wäre er Deutscher, flugs in die Ecke des "Antiamerikanismus " stellen würde.
Und vielleicht gehört er da ja auch hin? Weil er gegen etwas anschreibt, was vielleicht wirklich am besten mit "Amerikanismus" zu beschreiben ist?

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 5. Januar 2003, Heft 1