Weltsichtige Einsichten

Rezension zu: Andre Gunder Frank: Orientierung im Weltsystem. Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte, Promedia Verlag Wien 2005, 160 Seiten, 11,90 Euro

Wer immer hier herrschte, die Maharadschas oder die Großmoguln, Indien war immer reich. Arm wurden wir erst, nachdem die Engländer gekommen waren", sagte der indische Professor zu mir, als wir über die Geschichte seines Landes redeten. Kürzlich hatte ich das Buch eines ehemaligen britischen Seeoffiziers gelesen, in dem er nachweist, daß die Chinesen mit einer riesigen Hochseeflotte, die 1421 losgeschickt wurde, die ganze Welt umsegelt und Amerika, Afrika und Australien kartographiert hatten. Columbus soll, als er lossegelte, angeblich bereits eine Karte von Amerika gehabt haben. Wenn man nicht Däniken und anderen Schwindlern glauben mag, daß diese von Außerirdischen gereicht worden ist, ist jene These plausibel. China und Indien waren die kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zentren der Menschheit. Dann kamen die Europäer als Räuber, nicht als "Zivilisatoren", und eroberten die Welt. Betrachten wir nun die Entwicklungen der Weltwirtschaft im 21. Jahrhundert, so geht es jetzt dorthin zurück.

Dies wissenschaftlich zu erklären, ist der Inhalt des kürzlich erschienenen Buches von Andre Gunder Frank. Er, geboren 1929, ist der Sohn von Leonhard Frank, einer jener deutschen Schriftsteller, deren Werke Goebbels 1933 auf den Scheiterhaufen werfen ließ. Als 1973 der Putsch in Chile wütete, lebte Andre Gunder Frank im Lande seiner Frau und mußte erneut flüchten. Während dort nun seine ehemaligen Kommilitonen und Professoren aus Chicago den Neoliberalismus einführten, wurde Frank einer ihrer schärfsten Kritiker.

Doch auch dem Realsozialismus stand er kritisch gegenüber, weil er als Ökonom bereits in seiner Dissertation nachgerechnet hatte, daß die sowjetische Kollektivierung der Landwirtschaft die Ukraine ruiniert hatte. Sein Lebenswerk aber war der Untersuchung des Nord-Süd-Verhältnisses gewidmet. Dem westlichen Mainstream stand er stets kritisch gegenüber und folgte zunächst Fernand Braudels und Immanuel Wallersteins Analysen des kapitalistischen Weltsystems, arbeitete mit Samir Amin und Giovanni Arrighi zusammen und wurde dann zum Vater der Dependenz-Theorie, nach der, kurz gesagt, die wesentliche Ursache der Armut des Südens in der Ausbeutung durch den Norden zu finden ist.

In Auseinandersetzung mit Braudel und Wallerstein entwickelte Frank die Weltsystem-Analyse weiter und begründete, daß die Fokussierung auf Europa als Ursprung des Kapitalismus falsch sei - ebenso wie die auf das Jahr 1492 als des wesentlichen Gezeitenwechsels. Dies ist in dem soeben erschienenen Buch nachzulesen. Frank setzt an dem Umstand an, daß schon Karl Marx und Friedrich Engels wie Max Weber und Werner Sombart in ihrem Denken von Europa ausgingen und die Entwicklung sowie die Ausbreitung des Kapitalismus aus den europäischen Verhältnissen ableiteten. In diesem Sinne wurden wir alle Schüler einer "völlig eurozentristischen Sozialwissenschaft und Geschichte". Frank dagegen fordert auf, die Perspektive zu wechseln, und schlägt vier Schritte des Neudenkens vor: den Osten (im Sinne des alten Verständnisses vom Orient, also einschließlich China, Indien, Indonesien) wirklich zu erforschen, den Westen neu zu erforschen, Westen und Osten analytisch in ein Verhältnis zueinanderzusetzen und beide schließlich aus der Perspektive der Weltwirtschaft und des Weltsystems zu betrachten.

Gestützt auf eine Reihe empirischer Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte betont Frank, daß im frühen 15. Jahrhundert, nach einer längeren Phase der Stagnation, eine lange Periode ökonomischer Expansion begonnen habe, die auch noch das gesamte 18. Jahrhundert lang anhielt. Sie begann in Ost- und Südostasien, und hatte vor allem in Asien ihre Grundlage, wenngleich sie durch die neuen Silber- und Goldlieferungen aus Amerika angeheizt wurde.

In China, Japan, Südostasien, Zentralasien, Indien, Persien und im Osmanischen Reich äußerte sich diese Expansion im raschen Wachstum von Bevölkerung, Produktion, Handel, Einkommen und Konsum. Die europäischen Bevölkerungen und Ökonomien hingegen wuchsen in jener Zeit wesentlich langsamer. Betrachtet man die Handelsbilanzen, die durch die weiträumigen Transfers von Silbergeld ausgeglichen wurden, so wanderte das Silber ostwärts um die Welt, über den Atlantik via Europa und über den Indischen Ozean, aber auch westwärts über den Pazifik. Am Ende landete dieses Geld in China. Dort regte es Produktion und Konsum an. China war letztlich das "Silberdepot" der Welt, weil es stets über einen beträchtlichen Überschuß an konkurrenzfähigen Waren verfügte, den die anderen durch das aus Amerika stammende Silber ausglichen. Um 1750 hatte Asien einen Anteil an der Weltbevölkerung von 66 Prozent, die etwa achtzig Prozent des globalen Bruttosozialproduktes erwirtschafteten. Europas etwa zwanzig Prozent der Weltbevölkerung erwirtschafteten weniger als ein Fünftel des globalen Produkts, weil ja aus Amerika und Afrika auch noch etwas kam.

Europa hatte eine Randposition in der Weltwirtschaft, die durch seinen privilegierten Zugang zum amerikanischen Geld weitgehend ausgeglichen wurde. Es erlaubte den Europäern, weltweit reale Konsum- und Investitionsgüter zu erwerben. Franks These, auf der Grundlage der vorhandenen Belege, ist, daß die Weltentwicklung zwischen 1400 und 1800 nicht die Schwäche, sondern die Stärke Asiens widerspiegelt. Eben weil Europa relativ höhere Löhne und durch die Kolonien reichlich vorhandenes Kapital hatte, kam es hier zur raschen Entwicklung arbeitssparender und energieproduzierender Technologien, während China auf Grund seiner dominanten Position in der Weltwirtschaft und zugleich niedriger Lohnkosten einen solchen Zwang nicht hatte. Das Gefüge änderte sich erst, nachdem der britische Kolonialismus einen beständigen Kapitalfluß aus Indien organisiert hatte. Mit den Opiumkriegen im 19. Jahrhundert nutzte Großbritannien dann seine Positionen in Indien, um China für den Kapitalismus sturmreif zu schießen.

Betrachten wir die Welt heute, so Frank, sei das weltweite Gravitationszentrum einmal um die Welt gewandert: von Ostasien/China nach Westeuropa, von dort über den Atlantik in die USA, dort von der Ost- an die Westküste und nun über den Pazifik zurück nach Ostasien. Die USA seien heute der "Konsument der letzten Instanz", während Ostasien/China wieder zum Kreditgeber letzter Instanz werde. Die gegenwärtige Situation der USA in der Weltwirtschaft nennt Frank "das größte Pyramidenspiel der Weltgeschichte". Von den jährlich etwa fünfhundert Milliarden Dollar Handelsbilanzdefizit der USA decken Japan und China jährlich je etwa einhundert Milliarden, indem sie ihren Handelsüberschuß in US-amerikanische Finanzanleihen stecken, damit die USA weiter ihre Waren kaufen. Das aber könne nicht auf Dauer funktionieren. Schon wenn China seine Erlöse etwa in den Euro stecken oder seine Ölkäufe auf den Weltmärkten in Euro fakturieren würde, müßte dieses Pyramidenspiel zusammenrutschen.

Das kann Andre Gunder Frank nicht mehr erleben. Er ist im April dieses Jahres in Luxemburg gestorben. Aber er hat uns diese hellsichtigen Texte hinterlassen, die Gerald Hödl für die deutschsprachigen Leser aufbereitet hat.

in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 5. Dezember 2005, Heft 25