Das 41. Jahr

Da ist einer Ossi und hat in Wien eine gute Arbeit. Professor ist er, an
der Universität, am Institut für Politikwissenschaft, und sein Arbeitsfeld
sind Transformationsprozesse in Mittel-, Ost und Südosteuropa. Der Weg
dorthin ist von Erfolg bestimmt. In Moskau macht er 1978 seinen Doktor,in Berlin (DDR) beruft man ihn im September 1989 in eine Professur;
1992 belegt er eine Gastdozentur im südenglischen Bath; 1993 gehört er
zur Handvoll derjenigen Gesellschaftswissenschaftler aus der DDR, die
auch im vereinigten Deutschland auf eine Professur berufen werden. Bis
1998 bleibt er an der Humboldt-Universität, dann folgen Vorlesungen an
der Karls-Universität Prag und der Viadrina Frankfurt/Oder sowie drei
Jahre Mitarbeiterschaft bei der Bundeszentrale für politische Bildung in
Bonn. Und seit Februar 2005 also Wien.


Der Name des Ossis ist Dieter Segert. Seine Biographie ist alles andere
als die eines »Wende-Verlierers«, und dennoch ist das Buch, das er gerade
vorgelegt und dem er den Titel Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte
der DDR gegeben hat, von, wie er schreibt, »Trauer erfüllt«. Trauer über
die »Geburtsfehler der deutschen Einheit«, die er darauf zurückführt,
daß Art. 23 des Grundgesetzes mit seiner simplen Beitritts-Regulierung
den Vorzug erhalten hat vor Art. 146, in dessen Verwirklichung sich das
ganze deutsche Volk eine neue Verfassung hätte geben sollen; Trauer
über den hohen Preis, der für unzweifelhaft positive Veränderungen zu
zahlen war: »Millionen Ostdeutsche verloren ihre Arbeit, die in der Arbeitsgesellschaft
DDR in vieler Hinsicht für das Leben der Menschen
zentral gewesen war. Ihr Selbstbewußtsein wurde durch die Art der
DDR-Geschichtsdarstellung ernsthaft beschädigt«; und Trauer schließlich
auch darüber, »daß der Veränderungsbedarf der alten Bundesrepublik
auf Eis gelegt wurde«.


Aber keine Angst: Es ist kein Trauerbuch. Es ist ein Buch voller vielschichtiger
Erinnerung – Bundespräsident Richard v. Weizsäcker wird
zum Beispiel mit dem schönen Weihnachtswort von 1989 »Wir haben allen
Grund, den Deutschen in der DDR mit wahrer Achtung zu begegnen«
zitiert –, und es ist ein Buch voller kluger Vorschläge: Jetzt, im Jahre
2008, sei »ein Programm ›Aufbau Ost, Teil III‹« wichtig, aber es könne
»nur ein Teil einer umfassenderen Lösung sein. Die deutsche Problemsituation
ist nämlich Teil einer Politik auf europäischer Ebene. (…) Die
verfehlte deutsche Einheit würde aus dieser Perspektive nicht allein
mehr als ein Problem der ost- oder der westdeutschen Verlierer erscheinen.
Die Überwindung ihrer negativen Folgen wäre als Teil des Kampfes
um Entwicklungschancen und politische Teilhabe für jeden europäischen
Bürger sowie gegen die Entsolidarisierung in Europa zu sehen.«
Vorschläge gemacht hat Dieter Segert auch 1989/90 – im seither vom
Meinungshauptstrom gezielt dem Vergessen anheim gegebenen 41. Jahr
der DDR. Mit Michael Brie und Rainer Land bildete er den Kern einer
Unternehmung, die sich – vom Prorektor für Gesellschaftswissenschaften
Dieter Klein befördert und umhegt – seit 1987 als »Sozialismusprojekt
an der Humboldt-Universität« zunächst ganz behutsam und auch einwenig geheimnisvoll, im Herbst 1989 aber mit erheblicher Öffentlichkeit
einen Namen machte.


Die Geschichte dieses Projekts bildet den umfassenden ersten Teil
des Buches, und wer der seinerzeitigen (Ost-)Berliner Wissenschaftslandschaft
angehörte, wird darin viel eigenes wiederfinden. Segert
zeichnet am Berliner Beispiel das Bild einer »jüngeren Generation von
Reformern aus der SED«, und es ist von feiner Art, daß er diese »auf den
Schultern einer ersten Reformergeneration« stehen sieht, der er als unmittelbare
Partner des Projektes Uwe-Jens Heuer, Gerd Irrlitz, Peter
Ruben und Hans Wagner zuordnet. Er schildert die Entstehung erster,
noch zaghafter Papiere, mit denen über eine vorsichtige Veränderung
des DDR-Sozialismus nachgedacht wurde, und kommt dann in den Sommer
und Herbst 1989, in dem den Wissenschaftlern klar wurde, daß sie
endlich heraus müssen aus den Studierzimmern und hinein in eine Öffentlichkeit,
die ihnen aber nun ihrerseits mit ihrem Protest, ihren Unzufriedenheiten
und ihren Vorstellungen von dem, was auf das Zusammenbrechende
folgen soll, immer schon um etliches voraus war. Die
Kapitelüberschriften »Kaleidoskop vom ›Aufstand der SED-Basis‹«, »Mit
Künstlern unterwegs in eine kritische Öffentlichkeit« und »Zwischen
Anarchie und Erschöpfung« sind gut gewählt, weil sie beides in sich
führen: die über ein paar spannende, alle Kraft und Sinne fordernde Wochen
tragende, durch vielerlei Begegnungen, Kundgebungen, Zusammenkünfte,
Rundfunk- und Fernsehsendungen genährte Hoffnung, man
sei mit seinen Konzepten für eine andere, bessere DDR jetzt wirklich an
der richtigen Stelle, werde mit ihnen gebraucht und gewollt – und zugleich
die Ahnung von Hilflosigkeit, Isoliertheit und Zuspätkommen, die
schon kurz darauf nicht mehr nur Ahnung, sondern Erfahrung ist.


In der Mitte des Buches dann »Die Humboldt-Universität im 41. Jahr«.
Segert erzählt hier so persönlich wie im ersten Teil, und das macht die
Schilderung der Dramatik zwischen Emanzipation und Abwicklung
ebenso lesenswert wie die seiner eigenen Zerrissenheiten.


Im dritten Teil seines Buches sprengt Segert den Berliner Rahmen.
Jetzt geht es ihm – noch immer im 41. Jahr – um die vom Runden Tisch
der DDR erarbeitete Verfassung, die zur »Verfassung für die Abstellkammer
« wurde, dann mit Bezug auf den Einigungsvertrag um »Verhandlung
der bundesdeutschen Eliten mit sich selbst« und schließlich darum,
wie mit der Verteufelung der Staatssicherheit eine »zweifelhafte Mitgift
für das neue Deutschland« geschaffen wurde. Das letzte Kapitel enthält
erhellende Überlegungen zur »Geburt Ostdeutschlands« mit Abschnitten
wie »Seelischer Ausnahmezustand und erzwungene Identitätsverleugnung
« oder »Tradition und Identität«. Letzterer ist der Abdruck einer Reflexion,
die 1992 in Bath entstanden ist.»Wer nicht mit seiner Vergangenheit klar kommt«, schließt Segert sein
Buch, »dem fehlt auch das Selbstvertrauen, das nötig ist, um an die Veränderbarkeit
seiner Gegenwart zuerst zu glauben und dann gemeinsam
mit anderen dafür zu streiten.« Solchem »Ruf aus Wien« ist nichts hinzuzufügen.


Dieter Segert: Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Böhlau Verlag
Wien – Köln – Weimar, 284 Seiten, 24,90 Euro