Ein Geist geht um

Boltanski und Chiapello zu Künstler- und Sozialkritik

Der neue Geist des Kapitalismus
by
Luc Boltanski, Ève Chiapello
Publisher:
UVK Verlagsgesellschaft
Published 2006 in
Konstanz
Luc Boltanski und Ève Chiapello versuchen in ihrer Untersuchung „Der neue Geist des Kapitalismus“ alte Wege der Kapitalismusanalyse zu verlassen und den Wandel des Kapitalismus von den sechziger Jahren bis zur Mitte der neunziger Jahre zu bestimmen. Das erfrischend Andere in ihrem Ansatz ist, normative Diskurse nicht auf Ideologie oder Macht zu reduzieren, sondern deren Eigenständigkeit anzuerkennen. Materielle Notwendigkeiten und Systemzwänge halten sie für nicht hinreichend, um den Kapitalismus dauerhaft zu festigen. Dieses Mehr an notwendiger Rechtfertigung fassen die Autoren als Geist des Kapitalismus, als Gesamtheit von Glaubenssätzen, die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigen.
Historisch unterscheiden sie drei kapitalistische Geister. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ist der Kapitalismus vor allem von einem familienweltlichen Geist geprägt, zwischen 1930 und den 70er Jahren stand dagegen die Organisation und nicht der einzelne Unternehmer im Vordergrund. Weniger einzelne Innovationen als gesellschaftliche Rationalität und institutionalisierte Solidarität sollten gesellschaftliches Wohlergehen garantieren. Der dritte und neue Geist schließlich, der eingehend analysiert wird, ist geprägt von der Struktur des Netzes.
Als empirische Grundlage dient Boltanski und Chiapello französische Managementliteratur der sechziger und neunziger Jahre. Dies halten sie für einen zielführenden Ansatz, da die Führungskräfte, an die sich diese Literatur wendet, einerseits materiell relativ gut abgesichert sind und daher selbst erst von einem Engagement im Rahmen des Kapitalismus überzeugt werden müssen. Zum anderen sind sie in ihrer herausgehobenen Position selbst ständigen Rechtfertigungszwängen, etwa gegenüber ihren Mitarbeitern, ausgesetzt und daher auf überzeugende Argumente angewiesen.
Kritik am Kapitalismus fungiert in „Der neue Geist des Kapitalismus“ als Motor von Transformationsprozessen. Zentrales Moment für den Wandel der Arbeitswelt und die Entmachtung von Kritik nach 1968 sehen sie in einer veränderten Reaktion der Arbeitgeberseite ab Mitte der Siebziger. Diese reagierten nicht länger auf die Sozialkritik, also vor allem mit mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern auf die Künstlerkritik, welche Forderungen nach mehr Autonomie und sinngebender Arbeitstätigkeit beinhaltet. So wurde Sicherheit gegen Autonomie eingetauscht und die projektbasierte Polis zum anerkannten Gerechtigkeitsmodell, in dem vor allem Flexibilität und die Tätigkeit als Vermittler in einem Netz von Kontakten hohes Ansehen genießen.
Boltanski und Chiapello gelingt es mit ihrem Ansatz, der den Abschluss und die Zusammenführung einer Vielzahl von vorhergehenden Arbeiten darstellt, die Veränderung des Kapitalismus begrifflich zu erfassen. Auch wenn ihr Analysemodell sicherlich weder das einzig mögliche noch zwingend ist, ermöglicht es insbesondere die Veränderungen zu begreifen. Dabei machen sie hinreichend deutlich, dass dies der Schwerpunkt ist, auf den sie sich konzentrieren, während bestimmte Konstanten und solche Strukturen, die ihrer Natur nach nicht in einem Rechtfertigungsprozess erfasst werden können, mit diesem Ansatz notwendig unterbelichtet bleiben.

Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK Verlagsgesellschaft: Konstanz 2006, 735 Seiten, 29 Euro.