Rezension zu Vladimir Gavrilovič Mosolov: IMĖL. Das Marx-Engels-Lenin-Institut, 1921-1956

Vladimir Gavrilovič Mosolov, Jg. 1932, nahm nach seinem Studium an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität 1956 die Arbeit am Marx-Engels-Lenin-Institut (MELI) auf. Er begann als Bibliothekar und wechselte später als Oberassistent in den Marx-Engels-Sektor. Seine in kleiner Auflage von 500 Exemplaren erschienene, vom IISG (Amsterdam) geförderte Studie über die Geschichte des Parteiinstitutes ist die erste zusammenfassende Abhandlung über die von David Rjazanov gegründete Einrichtung, sieht man von den von Rolf Hecker herausgegebenen Studien zu einzelnen Aspekten der vom Institut besorgten MEGA-Edition ab.1 Das fünfte und letzte der chronologisch angelegten Kapitel (545-579) hat die Jahre 1953-1956 zum Gegenstand, die Zeitspanne, in der der Verfasser seine Arbeit am Institut aufnahm.

Im ersten (10-106) und zweiten Kapitel (107-184) werden die zunächst parallel existierenden Institute, die sich mit der Aufbewahrung und Verbreitung des Nachlasses von Marx und Engels (MEI 1921-1930) bzw. Lenin (LI 1923-1931) beschäftigten, behandelt. Im dritten (185-378) und vierten Kapitel (379-544) geht es um das neugegründete Marx-Engels-Lenin-Institut, unter Einbeziehung des kurzzeitig zum vierten Klassiker erhobenen Stalin. Das Institut wird mit einem Rädchen in der Parteimaschinerie verglichen, dem in der ideologischen Arbeit eine außerordentlich wichtige Rolle zukam.

Mosolov hat im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI), im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), im Russischen Staatsarchiv für neueste Geschichte (RGANI) sowie im Zentralarchiv für sozialpolitische Geschichte Moskaus (CAOPIM) recherchiert und die Institutspublikationen sowie die in Fachzeitschriften (insbesondere in Form von Rezensionen) geführten Debatten ausgewertet. Dabei fiel ihm das Fehlen von Erinnerungsberichten an die Arbeit am Institut auf. Auch die älteren Kollegen, schreibt er, erinnerten sich - von ihm zu einzelnen Ereignissen befragt - nur ungern an die vergangenen Jahre. Leider konnte der gut erhaltene Bestand der Parteiorganisation des Institutes, der im Zentralarchiv für sozialpolitische Geschichte Moskaus aufbewahrt wird, für die Forschung aber noch nicht vollständig zugänglich ist, nur zum Teil genutzt werden.

In der Gründungsphase des 1920 zunächst als Museum konzipierten Institutes war den Initiatoren keineswegs bewußt, welche Ausmaße die begonnene Sammlungs- und Editionstätigkeit einmal annehmen würde. Vladimir V. Adoratskij, damals noch Mitarbeiter, schätzte das für die Edition des Briefwechsels von Marx und Engels erforderliche Begleitmaterial dem Umfang nach auf eine Paketsendung (16). Rjazanov indes brachte von einer seiner Reisen nach Westeuropa, die 1921 der Materialsammlung dienten, 14 Koffer, gefüllt mit Fotos und Manuskripten und 240 Bücherkisten mit. Das Institut zählte gerade 14 Mitarbeiter. Mosolov schließt mit seinem Buch einige der von Jakov Rokitjanskij in seiner Rjazanov-Biografie2 belassene Lücken. Rokitjanski konzentrierte sich, wie schon in der gemeinsam mit Reinhard Müller herausgegebenen Studie3 mehr auf den Dissidenten als auf den Direktor.

Rjazanov verhielt sich zu seinem Arbeitsgebiet wie zu einer Wissenschaftsdisziplin, was immer wieder in Konflikte mit Führungsmitgliedern der KP mündete, die die Propaganda in den Vordergrund rückten. Solange das Institut dem Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitee und nicht unmittelbar dem ZK der KPR(B) unterstand, war die Instrumentalisierung der Theorieproduktion kein Thema und das anvisierte Verlagsprofil ging weit über den Nachlaß von Marx und Engels hinaus. Doch mit zunehmendem Einfluß der KPR(B) über die Parteiorganisation am Institut verengte sich das Forschungsprofil. Von den geplanten Werkeditionen erschien nur die unvollendet gebliebene Plechanov-Ausgabe4, die Veröffentlichung der Werke von Michail Bakunin, Vera Zasulič, und Pavel Aksel'rod konnten Führungsmitglieder der KPR(B) unter Hinweis auf die Priorität der Arbeit am Marx-Engels-Nachlaß verhindern, eine Lafargue-Edition war sofort kommentarlos gestrichen worden. Publikationsprojekte zur Geschichte der I. bzw. II. Internationale kamen über Ansätze nicht hinaus.

Nach Lenins Tod nahm der Druck auf Rjazanov zu. Da die Grundlinien dieses Konfliktes zwischen Rjazanov und der Parteiführung sowie die anschließende „Säuberung" in den von Hecker herausgegebenen Sonderbänden skizziert worden sind, kann an dieser Stelle auf die Darlegung der Vorbereitung und Durchführung dieser Kampagne verzichtet werden. Mosolov rekonstruiert in seinem Buch neben der Rolle der Parteiorganisation auch die des Jugendverbandes und der Gewerkschaftsorganisation des Institutes.

Das Lenin-Institut, unterstreicht Mosolov, diente von Gründung an der Legitimation eines gezielten Kampfes der jeweiligen Führungsriege gegen linke und rechte Abweichler innerhalb der Partei. Die Bandbreite reichte von „redaktionellen Eingriffen" in den Wortlaut der Artikel und Reden von Lenin bis hin zur Unterdrückung oder dem Umschreiben sachdienlicher Kommentare. Jede politische Wendung und Kursänderung konnte mit einem Dokument bzw. Fragment aus der Feder Lenins „begründet" werden. Wie im MEI, dem 1927 durch das ZK der KPdSU(B) eine Beschäftigung mit der Theorie des Marxismus untersagt wurde, blieb die Arbeit an der Edition der Werke Lenins, vom Anmerkungsapparat ganz zu schweigen, in den Jahren 1927 bis 1929 auf der Strecke. Es wurde weder eine vollständige Ausgabe der Korrespondenz noch eine „historisch-kritische" Erschließung des Nachlasses angestrebt. Erst nach der Zusammenlegung des Lenin-Instituts und des Instituts für Parteigeschichte rückte die Ausarbeitung des Leninismus an erster Stelle.

1928 - in diesem Jahr reichte Rjazanov sein erstes Rücktrittsgesuch ein - erfuhr die Sammlung der Aufsätze Stalins eine Aufwertung, 1931 begann die Materialsammlung zum ersten Band seiner Werke. Ein Beschluß über den Beginn der Arbeit an der Ausgabe wurde 1935 gefaßt. Es ist aufschlussreich, dass keine einzige der in dieser Zeitspanne geplanten Editionen zur Parteigeschichte erschien. Wie am MEI setzte am LI die politische Hexenjagd ein, in der fast alle Mechanismen, die in den Jahren des Großen Terrors zur Anwendung kommen sollten, erprobt wurden.

Lange vor Erscheinen des „Kurzen Lehrgangs" trat während der Arbeit an der Leninausgabe Stalin als eigentlicher Stichwortgeber hervor. Nach der Zusammenführung aller mit der Theorie befassten Parteiinstitute unter einem Dach war die Deutungshoheit garantiert. „Aktualisierung statt Historisierung", lautete das Motto. Unter Leitung des neuen Direktors Adoratskij setzte eine rege Publikations- und Übersetzungstätigkeit ein, um die „wertvollen tagesaktuellen Überlegungen der Klassiker der kämpfenden Arbeiterklasse als Waffe" in die Hand zu geben. Dabei wurde auch Material publiziert, das Rjazanov von der SPD und Privatpersonen unter der Bedingung übergeben worden war, vorerst von einer Veröffentlichung abzusehen. In diesem Zusammenhang erwähnt der Verfasser, ohne weiter darauf einzugehen, die vom Institut „illegal" angeeigneten Kopien (195 und 540).

Da die am Institut unter Rjazanov tätigen „Archivratten", wie Stalin die Mitarbeiter im „Brief an die Redaktion der Proletarskaja Rewoljuzija" genannt hatte, verjagt worden waren, fehlte es an qualifizierten und vor allem fremdsprachenkundigen Mitarbeitern. Die um Hilfe gebetenen Kominternsektionen konnten nicht immer helfen. Auch gelang es nicht, faktologische und prinzipielle Fehler in den Editionen der Lenin-Werke zu vermeiden. Mosolov skizziert eine Reihe solcher „Fehlerdiskussionen", die bis hinein in das Politbüro geführt und von Fall zu Fall nur durch Einschaltung der Zensurbehörde „Glavlit" gelöst werden konnten, die die trotzkistisches oder sonstiges von der Linie abweichendes Gedankengut enthaltenen Druckerzeugnisse aus dem Verkehr zog und einstampfen ließ. Nur in einigen Ausnahmefällen konnte ein Teil der Auflage „für den Dienstgebrauch" erhalten und vor dem Reißwolf gerettet werden. Zudem machte die sich ständig ändernde politische Linie eine Planung der stets mit dem Politbüro abzustimmenden Arbeit einfach unmöglich. Die interne Einschätzung war eine andere als die nach Außen hin vertretene. Im Abschnitt „Wie das IMEL funktionierte" (223-242) führt der Verfasser die internen Berichte und Rechenschaftslegungen über die Planerfüllung aus den 1930er Jahren an (337).

Auch unter Adoratskij blieben die Probleme ungelöst, die Fluktuation am Institut blieb unverändert hoch, 1934 waren hier 544 Mitarbeiter beschäftigt (242); eine kontinuierliche Arbeit nur unter Einbeziehung Oppositioneller und Abweichler möglich (231). Da das Schwergewicht auf der Ausgabe der Marx-Engels-Werke in russischer Sprache lag, wurde die Arbeit an der „Historisch-kritischen Ausgabe" eingestellt. Ausgerechnet Mitarbeitern, die an den Editionsprinzipien dieser Ausgabe festhielten, wurde vorgeworfen, ein pseudowissenschaftliches System zu kultivieren (253). Die Veröffentlichung neuer Lenin-Dokumente erfolgte nur nach Zustimmung durch Stalin, dessen unveröffentlichte Schriften für die Forschung gesperrt blieben.

Ausführlich geht Mosolov auf die Nachbesserung und Ausdünnung der zwischen 1935 und dem „Kurzen Lehrgang" veröffentlichten Reden, Aufsätze und Briefe von Lenin ein. Ganze Passagen wurden getilgt, Namen Oppositioneller durch ihre Funktion ersetzt, bei Texten die nur in Form von zum Teil von einander abweichenden Zeitungsmeldungen vorlagen, die jeweils passendere zur verbindlichen Fassung erklärt, Texte, die nachweislich nicht Lenin zugeordnet werden konnten, weiter als solche in die Ausgabe der Werke übernommen, anderslautende Anmerkungen aus vorhergehenden Ausgaben ignoriert usw. Manipulationen dieser Art sind bis in die 5. Ausgabe der Sämtlichen Werke Lenins nachweisbar (265). Besonderer Aufmerksamkeit unterlag der Anmerkungsapparat und die kommentierten Personenregister. Hier waren ständig Nachbesserungen erforderlich. Oft genug war es die Direktion des Instituts und nicht ZK-Abteilungen oder deren Leiter, die das Einstampfen ganzer Auflagen veranlasste, notiert Mosolov im Abschnitt „Aus dem Verkehr zu ziehen" (272-283). Der Zugang zu ausländischer oder sekretierter Literatur war für einfache Mitarbeiter ausgeschlossen. Nur auf der Direktions- und Abteilungsleiterebene konnten stets nur auf einzelne Titel bezogene Genehmigungen durch den Direktor erteilt werden. Aufschlußreich ist, dass 1935 und 1936 keine Anträge dieser Art gestellt wurden. 1938 gehörte die Bibliothek zu den insgesamt fünf im ganzen Land, die die „konterrevolutionäre Literatur" nicht vernichten mußten (335).

Die letzte Aktion Adoratskijs als Institutsdirektor war der 1936 unternommene Versuch, den von Boris I. Nikolaevskij aus Deutschland herausgebrachten Nachlaß von Marx und Engels für das IMEL zu erwerben. Auch hierzu liegen einschlägige Skizzen von Rolf Hecker vor. Die Jahre des Großen Terrors (beschrieben im Abschnitt „Die Ära der Wachsamkeit", S. 312-341) gingen nicht spurlos am Institut vorbei. Auf jeden Schauprozeß folgten Entlassungen und neue Denunziationen. Die Institutsleitung arbeitete nicht nur mit dem NKWD zusammen, sondern lieferte gezielt und unaufgefordert „kompromittierendes Material" sowie Listen mit Namen verdächtiger Mitarbeiter. Zu keiner anderen Zeit war die Zahl der Publikationen so gering. 1937 erschienen 17 Titel, darunter sehr viele Nachauflagen (333, 355). Im Ergebnis der Säuberung war das Institut nicht mehr arbeitsfähig. Adoratskij nahm die Verantwortung auf sich und wurde im Januar 1939 unter Hinweis auf die keiner Kritik standhaltende Arbeitsorganisation (284) durch Mark Mitin abgelöst. Sämtliche Leitungsfunktionen wurden neu besetzt, der Personalbestand - z.B. im Zentralen Parteiarchiv zu 90% - ausgewechselt (349).

Unter dem neuen Direktor, der das Institut bis Mai 1944 leitete, begann eine intensive Arbeit an der Vorbereitung der Ausgabe der Stalin-Werke (356). Stalin seinerseits mischte sich in die Ausgabe des Alterswerkes von Engels und Marx ein. Briefe von Engels wurden als „fehlerhaft", Arbeiten von Marx und Engels zu Fragen der russischen Geschichte als „wissenschaftlich wertlos" verworfen (360). Von Rjazanovs Mitabeitern angefertigte Übersetzungen und erläuternde Kommentare wurden durch neue ersetzt und der Auslegung in den „Fragen des Leninismus" angepasst. Der Arbeitsplanung hinsichtlich der 4. Ausgabe der Lenin-Werke (sie sollte in anderthalb Jahren, d.h. zum Juli 1942 vorliegen) lag die Gliederung des „Kurzen Lehrgangs" zugrunde.

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion änderte sich die Arbeit und Aufgabenstellung des Instituts von Grund auf. Die Wendung ist Gegenstand des fünften Kapitels „Die ideologische Bastion des Stalinismus. Das IMEL in den Jahren 1941-1953". Ein Teil der Bestände wurde nach Ufa evakuiert, viele Dokumente und Dubletten vernichtet, zahlreiche Mitarbeiter einberufen. Das Institut arbeitete dem Büro für militärpolitische Propaganda zu. Die in Moskau verbliebenen Archivalien lagerten im unbewachten Gebäude. Aus einem im Oktober 1947 erstellten Bericht geht hervor, daß eine „gewaltige Menge von Akten der Direktion, die ein Licht auf die Gründungsphase der Institute" werfen, spurlos verschwunden sind (382). Die Ablösung von M. B. Mitin durch V. S. Kružkov (er leitete das Institut bis August 1949) war vom üblichen Ritual der Kritik und Selbstkritik begleitet (390). Die Vorwürfe lauteten: zu geringe Editionstätigkeit, Einstellung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit, willkürliche, nicht mit dem ZK abgestimmte Eingriffe in Arbeiten von Lenin. Erneut wurden massenhaft Mitarbeiter entlassen. Im Januar 1945 arbeiteten nur noch 56 vor Kriegsbeginn eingestellte Mitarbeiter im Institut (395).

Die Neuen widmeten sich der Vorbereitung der 4. Ausgabe der Lenin-Werke, der Ausgabe der Stalin-Werke sowie der Weiterführung der Marx-Engels-Ausgabe. Den Arbeits- und Lebensbedingungen in den Nachkriegsjahren, der Komplettierung und Aufwertung der Bibliothek sowie der Einbeziehung von Dokumenten aus Beutearchiven sind einzelne Abschnitte gewidmet. Die Tätigkeit der mit dieser Aufgabe betrauten Emissäre M. V. Osipov und V. M. Pozner in der SBZ und M. Poltavskij in Österreich wird ausführlich geschildert. Es wurde konfisziert, gekauft und getauscht. Privatpersonen boten Dokumente im Austausch für ihre in Kriegsgefangenschaft geratenen Angehörigen an. Auch in Polen und Tschechien wurde man fündig. Im Wettlauf mit zahlungskräftigen amerikanischen Institutionen fehlte es immer wieder an Geld für den Erwerb angebotener Archive und Bibliotheken. Doch es gab auch Hindernisse anderer Art. Als die Kampagne gegen die Kosmopoliten auf Touren kam, lehnte das Institut den Ankauf des Nachlasses von Moses Hess ab (416).

Der Bedarf an Literatur jeder Art war in Folge der Verluste im Krieg hoch. Die Rangfolge der Editionen hatte sich zudem verschoben. Auf Stalin (der Beschluß erging im Januar 1946) folgte Lenin und erst dann Marx und Engels. Nur die Praxis der Auslassungen und Eingriffe in die Texte blieb unverändert. Einige sind auch in die 5. Ausgabe der Werke übernommen worden (430ff.). Auf Versammlungen der Parteiorganisation nach dem 20. Parteitag wurden die Zahlen genannt und besonders gravierende Beispiele zur Sprache gebracht. In die 4. Ausgabe der Lenin-Werke wurden 16 Artikel, 17 Reden und 1.377 Notizen nicht aufgenommen (427).

Auch in der UdSSR ging die Suche nach Dokumenten weiter. Besonders viele Nachfragen waren an das ZK sowie die Leitungen des Innenministeriums und der Staatssicherheit gerichtet, was mit seinerzeit übergebenen bzw. den während der Wohnungsdurchsuchungen konfiszierten Dokumenten geschehen ist (434). Es wäre interessant zu erfahren, wie die Antworten auf solche Fragen heute lauten. Erste Editionen, die diesbezügliche Dokumente enthalten, sind veröffentlicht. Hier sei nur auf die „führende Rolle" der KPR(B) bei der Verfolgung bürgerlicher Intellektueller zwischen 1917 und 1924 hingewiesen.5

Im Anschluß an Abschnitte über die begonnene Edition der Werke Stalins (1946 erschienen die ersten drei der auf 16 Bände konzipierten Ausgabe) und Lenins folgt eine Schilderung der Situation im Marx-Engels-Sektor. Als problematisch erwiesen sich Texte über Deutschland und Polen sowie Artikel, in denen die nationale Frage oder der Internationalismus zu stark betont wurde. Alles war der politischen Konjunktur untergeordnet. Sämtliche Projekte für populäre Volksausgaben in sechs bzw. zehn Bänden wurden im ZK nicht bestätigt. Die an das Institut herangetragenen Vorschläge, darunter aus der DDR, die MEGA weiterzuführen, fanden in Moskau keine Zustimmung. Am Institut hatte man mit der Neuübersetzung der russischen Ausgabe genug zu tun. Unter Hinweis darauf, dass bei Stalin Vieles viel genauer und präziser ausgeführt ist, wurde auf die Veröffentlichung von „Klassikertexten" verzichtet. So erschien keine der in Ufa vorbereiteten Marx- bzw. Engels-Biografien, auch eine Leninbiografie wurde unter Hinweis auf die zu geringe Berücksichtigung der Weiterentwicklung durch Stalin zurückgewiesen. Nicht anders erging es seinen verstorbenen Kampfgefährten Kalinin, Ordžonikidze, Ždanov und Ščerbakov. Den Vorgaben des ZK folgend, wurden deren ausgewählte Werke vorbereitet. Keines der Bücher wurde gedruckt. Stalin lehnte alle ihm vorgelegten Fassungen für die Fortschreibung des „Kurzen Lehrgangs" bis 1945 ab (450).

Sowenig Zeit dafür auch blieb, einige Mitarbeiter konnten beachtliche wissenschaftliche Forschungsergebnisse vorlegen, die am Institut jedoch keine Beachtung fanden. Mosolov führt in diesem Zusammenhang Studien zu den Frühschriften von Marx und Engels, u.a. den „Deutsch-französischen Jahrbüchern" und der „Deutschen Ideologie" an. Doch das Sekretariat des ZK wies den Vorschlag der Direktion zurück, eine Schriftenreihe des Instituts ins Leben zu rufen, die der Publikation von die Editionen begleitenden Forschungsergebnissen gewidmet sein sollte (481). Auch der Versuch, den ersten Band als Geschenk zum 70. Geburtstag von Stalin herauszugeben, scheiterte. Im August 1949 übernahm P. N. Pospelov die Leitung des Institutes (518). In seiner Amtszeit kam die Arbeit an den Werkausgaben der vier Klassiker nur schleppend voran. Jetzt war die Reihe an Engels. Das ZK solle entscheiden, welche seiner Frühschriften aufgenommen werden und wie mit den zarismuskritischen Passagen im Werk zu verfahren ist, denn einige seiner Bemerkungen könnten den Nationalstolz der Russen verletzen (521). Mit Blick auf die bevorstehende Edition des „Kapital" wurde das Fehlen ausgebildeter Ökonomen konstatiert und intern davon Abstand genommen, der Edition in russischer Sprache die einst von Lenin angefertigten Übersetzungen zugrunde zu legen (525). Bei der Arbeit an den kommentierten Personenregistern und den Sachregistern sahen sich die Editoren schier unlösbaren Problemen gegenüber.

Wenige Tage nach Stalins Tod baten die Mitarbeiter des Instituts das ZK ihre Einrichtung in Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut umzubenennen. Alle Pläne, die Biographie fortzuschreiben, einen Fotoband herauszugeben usw., d.h. Stalin zu huldigen, blieben auf dem Papier, denn keiner der Führungsmitglieder wollte in diesem Sinne tätig werden. Die allmählich in Gang gekommene Rehabilitierung erfaßte schließlich auch das Institut. Aus dem Ausland und aus Archiven des Landes, u.a. dem KGB-Archiv trafen Lieferungen mit Dokumenten ein, langsam kam die internationale Zusammenarbeit, u.a. mit dem IISG, in Gang. Pünktlich zum 20. Parteitag plante die Institutsleitung, die Bände 14 und 15 der Stalinwerke vorzulegen, was jedoch nicht erfolgte. Die Reaktion auf N. S. Chruščevs Referat in der geschlossenen Sitzung ließ nicht lange auf sich warten. Am 28. März 1956 wurde das Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut in Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU umbenannt.

Die Grundlage für weitere Forschungen zur Institutsgeschichte ist damit gelegt. Die leider auch in dieser Studie fehlende durchgehende Untersuchung der Untergliederung des Instituts in Kabinette, Sektoren und Abteilungen sollte in einer zweiten Auflage oder Überarbeitung nachgereicht werden. Einige Fragen, wie die nach der Manipulation der in die Leninwerke aufgenommenen Artikel und Reden, der Auftraggeber und ausführenden Akteure, lassen sich von nun an präziser stellen. Stärkerer Gewichtung bedürfen die Untersuchung des Zusammenwirkens mit der Komintern und die Darstellung des Lebensweges wenigstens der leitenden Mitarbeiter und der im Ausland für das Institut tätigen „Korrespondenten", die dieser Einrichtung auch nach dem Sturz Rjazanovs die Treue hielten. Eine annotierte Bibliografie, die die am Institut vorbereiteten, jedoch nicht zu Ende geführten bzw. vernichteten Titel einschließt, ist, das beweist die vorliegende Studie, denkbar. Die vorrangige Aufgabe besteht jedoch in der Weiterführung und Fortschreibung der Institutsgeschichte für die in diesem Buch ausgesparte Zeitspanne von 1957 bis zur Umwandlung.

 

Anmerkungen

1          David Borisovič Rjazanov und die erste MEGA. (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 1.) Berlin: Hamburg: Argument-Verlag, 1997; Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941). Dokumente über die politische Säuberung des Marx-Engels-Instituts 1931 und zur Durchsetzung der Stalinschen Linie am vereinigten Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der KPdSU aus dem Russischen Staatlichen Archiv für Sozial- und Politikgeschichte Moskau. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 3. Berlin: Argument-Verlag 2001.

2          Jakov Rokitjanskij: Gumanist oktjabrskoj ėpochi: akademik D. B. Rjazanov. Moskva: Sobranie 2009.

3          Jakov Rokitjanskij; Rejnchardt Mjuller [Reinhard Müller]: Krasnyj dissident. Akademik Rjazanov - opponent Lenina, žertva Stalina. Biografičeskij očerk. Dokumenty. [Roter Dissident. Akademiemitglied Rjasanow: Lenins Opponent - Stalins Opfer. Biographische Skizze und Dokumente] Moskva: Academia 1996.

4          Vgl. hierzu: Georgi W. Plechanow: 1917 - zwischen Revolution und Demokratie. Eine Auswahl von Artikeln und Reden aus den Jahren 1917 und 1918. Mit einem Anhang. Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Wladislaw Hedeler und Ruth Stoljarowa. Berlin: Berliner Debatte Initial 2001. Die Rjazanovbibliothek [Gosudarstvennaja obščestvenno-političeskaja biblioteka] gab eine CD mit dem von Ter-Vaganjan erarbeiteten Apparat zu dieser Edition heraus. V. Vaganjan: G. V. Plechanov. Bio-bibliografičeskij ukazatel'. Moskva 2004.

5          A. M. Plechanov: VČK-OGPU v gody novoj ėkonomičeskoj politiki 1921-1928. [Die VČK-OGPU in den Jahren der NÖP] Moskva: Kučkovo pole 2006; Vysylka vmesto rasstrela. Deportacija intelligencii v dokumentach VČK-OGPU 1921-1923. [Ausbürgerung statt Erschießung. Die Deportation von Intellektuellen in Dokumenten der VČK-OGPU 1921-1923] Moskva: Russkij put' 2005; F. Ė. Dzeržinskij. Predsedatel' VČK-OGPU 1917-1926. Dokumenty. [F. Ė. Dzeržinskij. Der Vorsitzende der VČK-OGPU 1917-19] Moskva: MFD, 2007; „Očistim Rossiju nadolgo..." V. Lenin (Ul'janov). Dokumenty. Repressii protiv inakomysljaščich konec 1921 - načalo 1923 g. [„Wir säubern Russland für lange Zeit" V. Lenin (Ul'janov). Dokumente. Repressalien gegen Andersdenkende, Ende 1921 - Anfang 1923 g] Moskva: MFD 2008; Ostrakizm po-bol'ševistki. Presledovanija političeskich opponentov v 1921-1924 gg. [Ostrakismus auf bolschewistische Art und Weise. Verfolgung politischer Opponenten in den Jahren 1921-1924] Moskva: Russkij put' 2010.

 

Vladimir Gavrilovič Mosolov: IMĖL. Citadel' partijnoj ortodoksii. Iz istorii Instituta marksizma-leninizma pri CK KPSS, 1921-1956. [Das Marx-Engels-Lenin-Institut. Die Zitadelle der Parteiorthodoxie. Aus der Geschichte des IML beim ZK der KPdSU, 1921-1956.] Moskva: Novyj chronograf 2010, 600 Seiten

 

Dr. Wladislaw Hedeler, Historiker, Berlin

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 21 (2010) 4, S. 152-158