Exitstrategien im Buch

in (15.03.2014)

Alle Strategien, die von Flüchtenden angewandt werden, sehen sich in hohem Maße „Abwertungs- und Kontrollinstrumenten“ (Pieper) ausgesetzt. Die systematisch dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen etwa in abgelegenen Gebäudekomplexen in städtischen Randzonen oder ländlichen Gebieten beschreibt Tobias Pieper in seiner Studie über Die Gegenwart der Lager als Grund für die besondere Durchsetzungskraft von „Entrechtungsstrategien“ im Kontext der europäischen Flüchtlingspolitik. Eingebettet in materialistische Sozialtheorie, ermöglicht diese „Mikrophysik der Herrschaft“ einen seltenen, aber unverzichtbaren Blick auf die deutsche Gegenwartsgeschichte. Die abwehrenden Flüchtlingspolitiken in Europa werden in dem Band Nation – Ausgrenzung – Krise als Teil der Krisendynamik beschrieben, in denen sie sich in die Vorstellung von Nation „als neoliberaler Existenzgemeinschaft“ (Patrick Schreiner) einfügen. Dennoch geht es nicht bloß um Ausgeliefert-Sein, sondern es bestehen auch Wechselwirkungen zwischen Fluchtpraxis und Sicherheitsapparat, zwischen „der schnellen und flexiblen Multidirektionalität der mobilen Subjektivitäten der Migration mit dem wissens- und netzwerkbasierten Technologien ihrer Überwachung“ (Bernd Kasparek/ Vassilis Tsianos). Diese Subjektivitäten und Subjekte deshalb aber trotzdem nicht als Verstärkung für bestehende Normen und Normativitäten – indem sie sich auf die Inklusion in bestehende Gesetzgebungen ausrichten – zu verstehen, ist das erklärte Ziel von Karma R. Chávez. Sie bezieht zwei sehr unterschiedliche soziale Konstitutionen von Grenzen aufeinander, nämlich die an den Rändern der Nationalstaaten und die zwischen den Geschlechtern. Queer migration politics sind nach Chávez die aktivistischen Reaktionsweisen auf diesen Zusammenhang der Grenzziehungen. Sie bezieht sich dabei einerseits auf bestehende Initiativen in den USA, entwickelt aber auch ein allgemeines Modell für „strategische Allianzen“ jenseits von integrativ-normativen und rein utopischen Ansätzen. Für die Herausgeberinnen von Diasporische Bewegungen... ist Diaspora nicht nur ein historisches Narrativ, sondern kann auch eine „feministisch-postkoloniale Methodologie“ sein. Damit wird die Einbettung von sozialen Kategorisierungen in soziale, historische und politische Kontexte untersucht. Das geschieht einerseits in dem Bemühen, diese Kategorien nicht beschreibend zu reproduzieren, andererseits werden aber auch die Gewaltverhältnisse nicht ausgeblendet, die solche Kategorien im Alltag wirksam werden lassen. So konzise die Einleitung, so disparat sind die Beiträge im Band und handeln etwa vom diasporischen Erinnerungsdiskurs zu Panama über den Wandel der Geschlechterverhältnisse im Chile des frühen 20. Jahrhunderts bis zur feministischen Kritik am gegenwärtigen europäischen Grenzregime. Dass auch die „Inszenierungen schwarzer Weiblichkeit“, die Kerstin Brandes als Teil visueller Politiken analysiert, zur Diasporaforschung zählen, macht eben deren methodologische Dimension deutlich. In Migration und künstlerische Produktion wird eine erste Bestandsaufnahme von Antworten auf die Frage vorgenommen, inwiefern das Migrieren zu „anderen künstlerischen Themen, zu Verfahrensweisen und Reflexionen führen“ kann (Burcu Dogramaci). Dabei werden Analysen konkreter künstlerische Arbeiten vorgenommen, die in verschiedenen Exilsituationen entstanden sind. Und es finden theoretische Auseinandersetzungen statt, in denen etwa für eine (Forschungs-)Haltung plädiert wird, die Migration als „eine totale soziale Tatsache und als gesellschaftsverändernde Kraft epistemologisch und methodologisch aufgreift.“ (Sabine Hess) Dabei ist man nicht nur mit verbreiteten, hegemonialen Bildern konfrontiert, die MigrantInnen als Problem beschreiben. Sondern auch mit einem Fach Kunstgeschichte, das durch „nationale Perspektiven“ (Dogramaci) geprägt ist.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lehrt Kunstsoziologie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien von ihm Der Streit um den ästhetischen Blick.
Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière.
Wien 2012 (Verlag Turia + Kant).

Dieser Text erschien in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 31, „Exitstrategien“



Karma R. Chávez: Queer Migration Politics. Activist Rhetoric and Coalitional Possibilities. Illinois 2013 (University of Illinois Press)

Burcu Dogramaci: Migration und künstlerische Produktion: Aktuelle Perspektiven. Bielefeld 2013 (transcript Verlag).

Sebastian Friedrich/ Patrick Schreiner (Hg.): Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektiven auf Europa. Münster 2013 (Edition Assemblage).

Stefanie Kron/ Birgit zur Nieden/ Stephanie Schütze/ Martha Zapata Galindo (Hg.): Diasporische Bewegungen im transatlantischen Raum: Diasporic Movements – Movimientos diaspóricos. Berlin 2010 (edition tranvia/Verlag Walter Frey).

Tobias Pieper: Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik. Münster 2013 (Verlag Westfälisches Dampfboot).