Rentenkonzept sozialpolitisch untragbar

IG Medien Vorsitzender Detlev Hensche schreibt an Walter Riester

in (21.06.2000)

Fuer ein Festhalten an der paritaetischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, fuer eine Erweiterung ihrer Finanzierungsbasis und fuer eine Einbettung der Rentenreform in eine Strategie z

Lieber Walter,

ich habe gezoegert, dir zu schreiben. Du wirst derzeit zum Renten-Thema genug Post erhalten. Was mich dann doch zu diesem Brief veranlasst, ist deine Antwort an die IG Metall.

Vorweg: Ich halte das Rentenkonzept, wie es sich derzeit als Frucht einer faktischen grossen Koalition herausschaelt, fuer sozialpolitisch untragbar. Man gebe, bitte, nicht als Reform aus, was im Kern eine Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber und der privaten Versicherungswirtschaft ist. Die Lasten tragen die kuenftigen Rentner-Generationen und die Beitragszahler. Mit Verlaub, unter Zukunftssicherung und Stabilisierung der sozialen Sicherung haben wir uns etwas anders vorgestellt als deren Auszehrung.

Es heisst, die Ueberalterung sei Ursache der Krise - eine Legende, wie auch dir bekannt ist. Nebenbei, welche Perversion: Dass die Menschen aelter werden, eigentlich ein Segen, verkehrt sich unter der Hand im Lichte von Finanzinteressen zu einem Uebel! Volkswirtschaftlich ist es ein Mythos: Solange es eine gesetzliche Rentenversicherung gibt, hat sie die wachsende Lebenserwartung muehelos verkraftet; seit Bismarcks Zeiten werden die Menschen aelter, und dafuer sollten wir dankbar sein. Der kontinuierliche Produktivitaetsfortschritt hat es erlaubt, ohne zusaetzliche Belastung der juengeren Generation auch denen ein Leben in Wuerde zu ermoeglichen, die nicht mehr am Produktionsprozess beteiligt sind.

Das wird auch morgen so sein es - es sei denn, man laesst den Kreis der Beitragszahler weiter schrumpfen. Hier liegen die eigentlichen Krisenfaktoren. Gaebe es beispielsweise keine Massenarbeitslosigkeit, waere die soziale Sicherung und deren Finanzierung kein Thema. Wer die "Unbezahlbarkeit" der Rente an die Wand malt, hat offenkundig vor der dauerhaften Arbeitslosigkeit kapituliert.

Ueberdies beobachten wird, unabhaengig von der Arbeitslosigkeit, seit langem eine schleichende Auszehrung des betrieblichen Arbeitsverhaeltnisses und damit der Grundlage der Beitragszahlung. Es ist und bleibt nicht zuletzt dein Verdienst, durch Neuregelung der sog. Scheinselbstaendigkeit und der geringfuegigen Beschaeftigungsverhaeltnisse die Flucht aus der Sozialversicherung erstmals eingedaemmt zu haben. In der Konsequenz dieser Reformen laege es, endlich auch andere Beschaeftigtengruppen und Einkommensarten zur Finanzierung der Sozialsysteme heranzuziehen, wie Selbstaendige, Beamte oder die Bezieher von Vermoegenseinkuenften.

Eine andere Legende ist die vom Generationenkonflikt. Seit Jahren ist es Mode, darueber zu raesonnieren. Das Lebensgefuehl der jungen Generation in ihrer Verantwortung gegenueber ihren Eltern, ist ein gaenzlich anderes. Vermutlich wissen sie, wie wichtig eine solidarisch finanzierte gesetzliche Rentenversicherung ist, auch um sich selbst und ihre Eltern vor dem Rueckfall in private Unterhaltsleistungen zu bewahren. Doch zurueck zu der auch von dir bemuehten "Generationengerechtigkeit". Wie, bitte, soll es zur Entlastung der nachwachsenden Generationen beitragen, wenn sie, gemessen an einer Erhoehung der gesetzlichen Rentenversicherung doppelt so viel aufbringen muessen? Bei aller modischen Kritik an der gesetzlichen Sozialversicherung sollte man die Grundrechenarten nicht vergessen. Die kuenftige Generation wird durch Einfuehrung der privaten Vorsorge nicht entlastet, sondern ueber Gebuehr belas+tet! Entlastet werden ausschliesslich die Arbeitgeber durch den Ausstieg aus der p! aritaetischen Finanzierung. Was m.a.W. als Beitrag zur Generationengerechtigkeit angekuendigt wird, ist in Wahrheit eine beachtliche Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber und zu Lasten der Beitragszahler.

Und der Steuerzahler. Nichts gegen staatliche Subventionierung privater Vorsorge - so weit das Geld reicht und nicht von den eigentlichen Zukunftsprojekten unserer Gesellschaft abgezweigt wird. Die Beitragsueberwaelzung von den Arbeitgebern auf die Beschaeftigten soll durch oeffentliche Zuschuesse und steuerrechtliche Privilegierung erleichtert werden. Sinnvoll? Volkswirtschaftlich preiswert? Wenn es um die verdeckte Subventionierung der privaten Versicherungswirtschaft geht, spielt die Haushaltsbelastung offensichtlich keine Rolle, ganz im Gegenteil zu dem jaehrlichen Getoese um die Bundeszuschuesse zur Sozialversicherung.

Die eigentlichen Leidtragenden sind die kuenftigen Rentner und Rentnerinnen. Ich muss nicht wiederholen, welche Folgen die Absenkung des Rentenniveaus haben wird. Insbesondere die Rentnerinnen werden in ihrer uebergrossen Mehrzahl zur Sozialhilfe verurteilt. Inwiefern auf diese Weise "Schluss damit" gemacht wird, "dass immer die uebernaechste Generation auszubaden hat, was wir beschliessen" - wie du der IG Metall antwortest - ist mir schleierhaft. Das Gegenteil ist der Fall.

Die vorliegenden Plaene bewirken eine schwer ertraegliche Kumulation von geschlechtsspezifischer Diskriminierung im Aufbau der gesetzlichen Rente und den Erschwernissen zur Finanzierung einer privaten Vorsorge. Frauen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie ohnehin in der gesetzlichen Rente benachteiligt sind, werden dieselben Probleme haben, eine angemessene private Vorsorge anzusparen. Obendrein werden sie durch die geplanten Abschlaege noch bestraft. Nebenbei, im Lichte des Gleichheitsgebots halte ich das Konstrukt fuer verfassungswidrig.

So produziert man, ohne es zu wollen, eine Legitimationskrise der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn erst einmal Millionen Anspruchsberechtigte fuer ihre Beitraege auf Sozialhilfeniveau gesunken sind, duerfte die gesetzliche Rente ihre Anerkennung verlieren. Was scheinbar harmlos als flankierende Eigenvorsorge daherkommt, wird aufgrund der Zangenbewegung von Unterfinanzierung und Leistungskuerzungen der gesetzlichen Rentenversicherung die Grundlage entziehen. Und das in einer Zeit, in der die ungeheure Leistungsfaehigkeit der gesetzlichen Sozialversicherung vor aller Augen bewiesen wurde. Wie zukunftsoffen und anpassungsfaehig die beitragsfinanzierte gesetzliche Sozialversicherung ist, wurde bei der deutschen Einheit demonstriert. Kein anderes System, erst recht nicht private kapitalgedeckte Vorsorge, haette die Integration von Millionen Menschen in den neuen Bundeslaendern so erfolgreich verwirklicht wie die zu Unrecht gescholtene gesetzliche Rentenversicherung!

Lieber Walter, ich schreibe dies nicht, um Dampf abzulassen. Ich mache mir Sorgen, nicht nur um die Substanz der sozialen Sicherung, sondern auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich weiss mich in meiner Kritik an den Rentenplaenen in Uebereinstimmung mit der Mehrheit der abhaengig Beschaeftigten. Saemtliche Umfrageergebnisse bestaetigen dies. Dabei geht es beileibe nicht um die Verteidigung von ueberkommenen Besitzstaenden, sondern um die Bewahrung eines ueberlebensnotwendigen Systems des solidarischen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit. Faellt auch dies, weiss ich nicht, ob und wie sich die Millionen Menschen, die sich bereits bei den juengsten Wahlen enttaeuscht abgewandt haben, von der Regierung noch vertreten fuehlen.

Daher plaediere ich fuer eine Reform der Rentenversicherung, die

erstens an der paritaetischen Finanzierung festhaelt und sich vom Dogma der angeblich ueberhoehten Lohnnebenkosten befreit, ein Dogma, auf das sich leider auch die Gewerkschaften haben einschwoeren lassen,
die zweitens die Finanzierungsbasis in Fortsetzung der juengsten Reformschritte ueber die Scheinselbstaendigkeit und die geringfuegigen Beschaeftigungsverhaeltnisse erweitert
und die drittens die Reform der Rentenversicherung in eine Strategie zur Ueberwindung der Arbeitslosigkeit einbettet, eine Strategie, die zugleich die Veraenderungen des Arbeitsprozesses aufgreift und Uebergaenge zwischen der Erwerbsarbeit und anderen Formen familiaerer und gesellschaftlicher Arbeit erleichtert; ich weiss, dass ich gerade in dieser Frage bei dir offene Tueren einrenne.

In der Hoffnung, dass es noch nicht zu spaet ist, verbleibe ich

Dein Detlef Hensche