Solidarität ist machbar!

Eine Konzeption der IG Bauen-Agrar-Umwelt für ein universelles System der gesetzlichen Alterssicherung

Klaus Wiesehügel ist Bundesvorsitzender der IG BAU und für die SPD Mitglied des Bundestages

Die Menschen in Deutschland sind durch die anhaltende Diskussion über die Zukunft ihrer Renten tief verunsichert. Sie fürchten, dass ihre Lebensleistung nicht mehr wie bisher mit einer Rentenzahlung anerkannt wird, die sie durch ihre Arbeit erworben haben. Auf dem Rentenversicherungssystem der Zukunft lastet ein erheblicher Druck infolge der demografischen Entwicklung, die dazu führt, dass immer weniger Erwerbstätige die Rente von immer mehr Rentnerinnen und Rentnern finanzieren müssen.

Diese Tatsache anzuerkennen bedeutet nicht das solidarisch finanzierte Rentensystem preiszugeben. Andersherum führt aber eine Leugnung dieses Problems bestenfalls in die Sackgasse von Formelkompromissen. Vor deren Hintergrund profilieren sich die Apologeten der Privatisierung gesellschaftlicher Risiken als geradezu zukunftsfähig und bauen ihre hegemoniale Position aus.
Die bisherigen Reformvorschläge gehen apodiktisch davon aus, dass trotz steigender Einkommen in der Zukunft die relative Belastung der Unternehmen nicht steigen sollte und die zusätzliche Belastung der Arbeitnehmer sich außerhalb des bewährten Solidarsystems niederschlägt. Dem stellt die IG BAU ein Konzept entgegen, das den Solidargedanken stärkt und die unabweisbaren Lasten der demografischen Entwicklung auf alle Teile der Bevölkerung verteilt.

Wer sich der Verteilungsfrage nicht stellt - oder aus opportunistischen Gründen nicht stellen will - gerät in die Mühlen des vermeintlichen Sachzwangs. Vor allem in den Augen der jungen Generation können die Gewerkschaften keine Hoffnungsträger sein, solange sie das althergebrachte System nur verteidigen ohne grundsätzliche Alternativen zu formulieren. Eine solidarische Alternative ist aber machbar, die Zukunftsaufgabe Rentenreform keineswegs alternativlos, wie von der Bundesregierung und den meisten Kommentatoren behauptet wird.
Wer heute eine Rente bezieht, muss damit ein auskömmliches Leben führen können. Natürlich müssen die Renten auch in Zukunft bezahlbar sein. Das ist auf der Basis der heutigen Regelungen alles andere als einfach. Das Beitragsgefüge ist ins Wanken geraten. Das weiß jeder. Auch für die jungen Arbeitnehmer muss es eine Zukunftsperspektive geben. Immer höhere Beiträge und immer niedrigere Leistungen - das schürt den Generationenkonflikt und ist grob ungerecht. Weitere Konflikte entstehen durch den radikalen Wandel der Erwerbs- und Lebensformen. Sogenannte "Patchwork-Biografien" finden im herkömmlichen, allein auf Formen der abhängigen Vollzeit-Erwerbsarbeit ausgerichteten Rentensystem keine Entsprechung. Altersarmut ist die unmittelbare Folge.
Deshalb müssen Reformen her, die kalkulierbare Beiträge und ein menschenwürdiges Leben im Ruhestand garantieren. Dabei ist für uns klar: Wir brauchen auch weiterhin eine solide finanzierte staatliche Rentenversicherung als Rückgrat einer gesellschaftlichen Altersversorgung. Langfristig wollen wir zu einer Versicherungspflicht für alle kommen, also zu einer Erweiterung der Rentenversicherung auf die gesamte Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland. Dies bezieht auch Beamte, politische Mandatsträger und Selbständige in die Versicherung mit ein. Damit wird die ausschließliche Bindung der Rentenversicherung an das Arbeitsverhältnis um weitere Einkommensformen erweitert.

Übergangsregelungen für bisher erworbene Pensions- und andere Ansprüche müssen geschaffen werden. Bei Einkommen aus abhängiger Erwerbstätigkeit ist der Rentenversicherungsbeitrag paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufzubringen. Die Beitragsbemessungsgrenze entfällt.
Analog der Ausweitung des versicherten Personenkreises werden alle Einkommensarten zur Beitragszahlung herangezogen. Dazu gehören: Einkommen aus Erwerbstätigkeit, Erträge aus Vermögen, Vermietung und Verpachtung sowie alle sonstigen zu versteuernden Einkommensarten. Ohne die Einbeziehung von Vermögenseinkünften, die seit Jahren gewaltige Zuwächse verzeichnen, potenziert sich der demografische Faktor. Massenarbeitslosigkeit, neue Formen der Selbstständigkeit u.v.m. stellen den Bestand der Beitragssysteme in Frage. Neben der Finanzierungsbasis schwindet auch die Beitragsgerechtigkeit.
Die von uns vorgeschlagene Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage führt durch Ausweitung des Personenkreises sowie der Einbeziehung aller Einkommensarten rechnerisch zu einer Beitragssenkung von 5,4 Beitragssatzpunkten, die aber durch die Übergangsregelungen erst zu einem späteren Zeitpunkt realisierbar ist. Bei einer zeitnahen Verwirklichung dieser Konzeption ermöglicht die errechnete Beitragssenkung die Finanzierung der Übergangsregelungen für die Hinterbliebenenversorgung. Die in den nächsten Jahrzehnten anstehenden Finanzierungsprobleme aufgrund der demografischen Entwicklung können durch den zurückgehenden Finanzierungsaufwand für die Hinterbliebenenversorgung weitestgehend kompensiert werden.
Wir streben den Aufbau eigenständiger und ausreichender Anwartschaften für alle Mitglieder der Gesellschaft an. Die Grundlage für eine individuelle Altersversorgung wird dadurch geschaffen, dass jeder in der Bundesrepublik Lebende ab dem 16. Lebensjahr einen Mindestbeitrag in Höhe von DM 200,- als Rentenversicherungsbeitrag entrichten muss. Bei unzureichenden Einkommen sind Zuschüsse erforderlich. Ein voller Anspruch auf Altersrente soll bereits nach 44 beitragspflichtigen oder gleichgestellten Jahren entstehen, rechnerisch beginnend mit der Vollendung des 16. Lebensjahres. Hierzu gehören Wehr- und Zivildienst, drei Jahre Ausbildungszeiten sowie Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Bei einem durchschnittlichen Verlauf des Berufslebens soll eine auskömmliche Altersrente auf dem jetzigen Niveau (70 %) garantiert sein, die durch Tarif- und Betriebsrenten sowie freiwillige Formen der privaten Vorsorge ergänzt werden kann und soll. Aufgrund der für reine Arbeitseinkommen gegenüber heute niedrigeren Beitragshöhe schaffen wir den nötigen Spielraum für eine ergänzende Vorsorge für die, deren Interessen wir insbesondere zu vertreten haben: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Um die Finanzierbarkeit des Systems nicht zu gefährden und den notwendigen Umverteilungseffekt erzielen zu können, muss die maximale gesetzliche Rentenhöhe begrenzt werden. Deshalb schlagen wir einen maximal erzielbaren Rentenbetrag von DM 4.500,-- brutto (Kappungsgrenze bezogen auf das Jahr 2000) vor, der in den folgenden Jahren entsprechend der Entwicklung der Bruttoeinkommen dynamisiert werden sollte.

Wir sind uns bewusst, dass sich diejenigen, denen wegen ihrer erhöhten Beitragszahlungen eigentlich eine höhere Rente zukäme, ungerecht behandelt fühlen könnten. Das bisherige System der Rentenversicherung hat die Konsequenz, dass sich Spitzenverdiener jenseits der Beitragsbemessungsgrenze relativ um so weniger an den sozialen Lasten beteiligen müssen, je höher ihre Einkünfte sind. Diese Konsequenz ist mit dem Solidarprinzip unvereinbar. "Frei nach Marx", wie die "Financial Times Deutschland" in Bezug auf unseren Vorschlag richtig erkannt hat, wird damit nicht nur das bisherige Rentensystem vom Kopf auf die Füße gestellt: Auch für die Rente der Zukunft gilt der alte Satz von Marx, wonach in einer sozial gerechten Gesellschaft jedem nach seinen Bedürfnissen geschehen und jeder nach seinen Fähigkeiten dazu beitragen soll.

Marginalie:
Wir streben den Aufbau eigenständiger und ausreichender Anwartschaften für alle Mitglieder der Gesellschaft an.