Der heruntergeladene Kanzler

Da war nun der Bundeskanzler heruntergeladen worden. In den tiefen, also downen, deutschen Osten. Fern von des Kanzlers sonstigen Arbeitsaufgaben, aber nicht fern von seinem schönen neuen Kanzlerausguck Berlin. In Orte war er gebeten worden, die, wie aus dem zuständigen Staatsministerium verlautete, noch nie eines deutschen Bundeskanzlers Fuß betreten hatte. Dort bewegte er sich leibhaftig und schrittgeschwind, mit klugem Blick unter buschigen Brauen: ein downgeloadeder Gerhard Schröder. Von der hauptstädtischen Festplatte an Volkes Grund, an Orte wie Lauscha, Sondershausen, Rietschen, Muskau. Klin-gen sie nicht alle wie ein verwunschenes deutsches Märchen: Lauscha, Muskau? Wie fernes Slawentum an des Reiches Grenze: Rietschen?

Für alle vom Kanzlerblick gestreiften Orte wird dieser Besuch Geschichte machen. Die Ortschronik wird vermerken: Im August des Jahres 2000 war der dt. Bundeskanzler unter gr. Beifall bei uns zu Gast, um zuzuschauen, wie unsere Glasmacher eindrucksvolle Blasen bliesen. Mit gewaltigem Appetit biß er in un-sere Bratwurst und trank patriotisch Bier von hier.

Die Berichterstattung gab auf künftige Chroniken einen Vorgeschmack. Wer ist die junge feingliedrige Frau an des Kanzlers Seite? fragten sonst gut infor-mierte Kreise in der Landeshauptstadt Erfurt. Aber es war keine neue Doris Köpf, nur eine neue SPD-Landrätin aus dem fernen Schwarzatal, die auch für ih-re Region durch des Kanzlers holden, belebenden Blick neuen Aufschwung er-hoffte.

Pikant ist natürlich, daß die schwarze Opposition solcherlei Staats-Theater auf einmal als kostenschwere Jubelfeiern hinstellt, als reines Ablenkungsmanöver. Hat der große Durchführer der 89er Revolution, Helmut Kohl, nicht jahrelang im Volk gebadet, seit ihm im Dezember 89 dies in Dresden zu einer - fast - un-verwundbaren Drachenhaut verhalf? Hat er nicht immer wieder seine innige Verbundenheit mit den Menschen draußen im Lande auch sprachlich hinten rauskommen lassen? Ob Generalsekretär oder Wilhelm der Eroberer, gern schüt-telt der jeweilige Volks-Vertreter seinem Volk die Hand, nimmt des Volkes Ba-bies in den Arm und legt der Volksmutti eine heilende Hand auf die in eine blu-mige Kittelschürze gewandete Schulter.

Doch das Volk ist ja nicht unschuldig an solchen Ritualen, glaubt es doch un-erschütterlich, daß die neue Ortsumgehung nun unbedingt kommen muß, wenn sogar der Kanzler den Ort unumgänglich fand. Eine ABM-Kraft in Rietschen schüttet - ganz nach Protokoll - dem Kanzler das Herz aus, weil doch alles von Streichung bedroht... - schon weist der Kanzler seine Bediensteten an, das Riet-schener ABM-Problem positiv zu klären.

Bedeutsam aber wird es, wenn Intellektuelle sich um den Kanzler versam-meln. Kohl mochte die nicht so, aber Schröder will auch Hüter deutscher Dicht-kunst sein. Drum bat er einige zur ganz intimen Gesprächsrunde in ein Naum-burger Oberstübchen. Da saß nun die Creme ostdeutscher, also Berliner Poeten und Poetessas. Erich Loest vertrat wacker die mitteldeutsche Region. Und der Kanzler war ganz Ohr, was ihm deutsche Dichterinnen wie Marion Titze-Kleinschmidt - nein, das ist nicht die Lotto-Fee, die kommt ja, wie alles Ge-samtdeutsche, aus dem Westen - also was Frau Titze-Kleinschmidt über die Schwierigkeiten des Schreibens, des Verlegens und vor allem der Honorarord-nungen zu sagen hatten. Denn wenn das Auto-Volk eine neue Ortsumgehung wünscht, wünscht das schreibende Volk schlichtweg mehr Bibliotheken, welche seine Bücher kaufen.

Aber wir wollen das Uneigennützige am deutschen Dichter nicht unterschla-gen: Zumindest sozialdemokratische Geister hoffen stets auf Fürstenerziehung. Seit Leibniz und Lessing, und seit Goethe sowieso, glaubt der aufklärende Schriftsteller daran, daß man den Fürsten durch weise Gespräche dazu bringen kann, eine gütige und gerechte Herrschaft auszuüben. Natürlich könnte der Fürst auch die Bücher der Dichter lesen, da steht meistens drin, was faul im Staate Dänemark ist. Doch ein fürstlicher Kanzler hat einfach nicht so viel Zeit. Denn er muß hinaus ins freundliche Leben, muß Hände schütteln, Ortsumgehungen befürworten, mit Dichtern small talken. wenn er nun schon mal heruntergeladen wurde, muß er seine Echtzeit an der Basis nutzen. Und das hat Schröder bestens getan. Am besten von allen Kanzlern, die je in Lauscha und Muskau, in Riet-schen und Sondershausen waren.

Die Redaktion OSSIETZKY im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin ist per e-mail zu erreichen unter der Adresse ESPOO@t-online.de