Woher - wohin? Ein Beitrag zur Programmdebatte der PDS

Programmatik ist Selbstdarstellung. Woher die Partei kommt, wohin sie will - nur darüber kann und soll sie sich selbst und der Öffentlichkeit Rechenschaft geben.

Das Parteiprogramm habe eine "entscheidende Schwäche", las ich jüngst, es vermittle hauptsächlich ostdeutsche Erfahrungen: "Die Perspektive des Zusammenbruchs, des Niedergangs und der Verfolgung durchzieht das gesamte Programm, es dient der Selbstbehauptung und -verteidigung".1 - Dem kann man kaum widersprechen. Allerdings vermittelt es die Erfahrungen des Zusammenbruchs nicht in der erforderlichen begrifflichen Klarkeit und wäre auch daher verbesserungsbedürftig. Doch für die anstehende Entscheidung, inwieweit das Programm revidiert werden soll, kann das nicht ausschlaggebend sein, da ja Programme nicht für die Vergangenheit gemacht werden. Wissen wir aber über die Zukunft heute sehr viel mehr als vor sieben, acht Jahren? Lassen sich Weg und Ziel demokratischer Sozialisten jetzt schon genauer bestimmen? - Zumindest brauchen wir die Debatte.2 Sollte sie allerdings zur Überarbeitung führen, dann wäre, so meine ich, vieles neu zu fassen, was sich im Programm auf die Vergangenheit bezieht.

So wie es sehr bald nach dem Untergang der Staatspartei entstand, blieb das entsprechende Kapitel3 in seiner Anlage der SED-Tradition verhaftet: Es skizziert ein Geschichtsbild. Und wenn das auch ein alternatives ist: In einer Partei, die hinsichtlich der Weltanschauung, also auch der Geschichtsauffassung ihrer Mitglieder pluralistisch verfaßt ist, kann es derlei schlecht geben. Warum hält die Programmkommission noch daran fest? Daß dies nur zu Gemeinplätzen führen kann, läßt schon ihr "Meinungsstreit" über die Russische Oktoberrevolution erkennen: Die Mehrheit stellt fest, daß deren Charakter und Bedeutung umstritten seien (ja, und?), während die Minderheit dies als Abwertung versteht4 (wieso?) und sich jeder Änderung eines Textes verweigert, der, genau besehen, nichts bietet, was nicht zur Allgemeinbildung gehört (zur gehobenen meinetwegen). Gewiß, für die SED verbanden sich mit der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" die "moderne Epoche", die "allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten" der sozialistischen Revolution sowie die Rolle der KPdSU als "Zentrum der kommunistischen Weltbewegung", und eine selbstkritische Analyse5 der mythologischen Überhöhung und strategischen Fehlinterpretation dieser Revolution wäre im Parteiprogramm deplaziert. Welche programmatische Bedeutung hätten denn nun aber die verteidigten Aussagen oder die vorgeschlagenen Änderungen?

Programmatik ist Selbstdarstellung. Woher die Partei kommt, wohin sie will, wie sie die derzeitigen deutschen Zustände sieht und ändern möchte - nur darüber kann und soll sie sich selbst und der Öffentlichkeit Rechenschaft geben. "Geschichtliches Selbstverständnis" - wenn dieser Überschrift in den hier diskutierten Thesen (6/2) auch manches folgt, was da meines Erachtens fehl am Platze ist, bezeichnet die Programmkommission (anscheinend sogar einhellig) mit diesen zwei Worten doch das, was ins Parteiprogramm wirklich hineingehört. Damit erklärt sie eigentlich den Verzicht darauf, das Publikum weitergehend über Geschichte oder gar über deren Gesetzmäßigkeiten aufzuklären, und bekennt sich zur Begrenztheit von Interessen und Kompetenzen der PDS und zur Subjektivität dieses politischen Subjekts (wie jeder Partei). Das wäre der Bruch mit ML-Traditionen.

Vor allem diese Frage muß das Programm beantworten: Was ist prägend für das Selbstverständnis der Partei? Meines Erachtens dreierlei: erstens ihre Herkunft aus der deutschen Arbeiterbewegung, zweitens die ostdeutschen (Früh)Sozialismus- sowie die westdeutschen (Spät)Kapitalismus-Erfahrungen, drittens die 1989/1990 und in der Folgezeit eingetretenen Veränderungen in den Voraussetzungen für und den Anforderungen an die Politik einer sozialistischen Partei in Deutschland. Separat wäre im Programm womöglich nur die erste dieser drei Komponenten abzuhandeln. Bei den anderen durchdringen sich Tradition und Perspektive, Überlieferungen aus der Vergangenheit, Erfahrungen und Schlußfolgerungen für die Zukunft. Das lassen schon die Thesen erkennen - zuerst da, wo sie die "Idee einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft" aus der Kritik am Staatsmonopolismus heraus entwickeln (5/3).
Nach Traditionen befragt, offenbart das 1993er Programm erhebliche Mängel. Schon die Gliederung erweckt den Eindruck, ihr geschichtliches Selbstverständnis bezöge die Partei fast ausschließlich aus den letzten 55 Jahre. Daß es viel weiter zurückreicht, auch nicht erst 1917 einsetzt, deutet nur der allerletzte Absatz an (S. 27). Als dürften die Klassenkämpfe in Vergessenheit geraten, in denen dem Junkertum und dem Großkapital jene Zugeständnisse abgerungen wurden, welche heute dem Rechts- und Sozialstaat zugute gehalten werden! Als bedürfte es nicht fortwährender Erinnerung an die - mehrere Generationen schmerzhaft prägenden - Erfahrungen der zwei Weltkriege, die von Deutschland ausgingen und es fast zugrunde gerichtet hätten! Als ginge es nicht um Verpflichtungen, die uns seit mehr als einem Jahrhundert aus opferreichem Widerstand gegen Großmachtchauvinismus, Rassismus und Nazismus erwachsen sind und fortwirken! Zu erinnern wäre auch daran, daß der antifaschistisch-demokratische Neubeginn in Ost wie West materiell wie ideell weitgehend von der Arbeiterklasse und ihren Organisationen getragen und auch mitgestaltet wurde. Und bewußt bleiben müssen uns desgleichen die bitteren Erfahrungen und immer noch anhaltenden Nachwirkungen der im Kalten Krieg versteinerten Spaltung der Arbeiterbewegung.

Gewiß könnte all dies im Programm nur angedeutet werden. Genauer wäre lediglich die Herkunft der PDS aus SED und KPD zu behandeln, zumal deren Erbgut vieles enthält, was uns belastet, aber nicht einfach abgetan werden kann. Vonnöten ist Selbstkritik - aufklärend, nicht als Kampagne, sondern in Permanenz. Sie darf sich nicht auf die Stalinisierung beschränken, muß vielmehr auf die "Bolschewisierung" der KPD ausgedehnt werden. Und damit wäre eine Rückbesinnung auf eigenständige Anfänge des (Partei)Kommunismus in Deutschland verbunden, die für die SED suspekt waren.6
Wie ich einem Konferenzbericht entnehme, hat uns der nach Chemnitz zugewanderte Extremismus-Forscher Eckhard Jesse wie folgt auf Rosa Luxemburg verwiesen: Sie, die "stets für die Errichtung der Diktatur des Proletariats eingetreten sei [...], verdiene es nicht, in die Ahnengalerie eines ›demokratischen Sozialismus‹ aufgenommen zu werden. Sozialdemokraten beriefen sich daher zu Unrecht auf sie, die antidemokratische PDS dagegen zu Recht". Und Patrick Moreau, PDS-Experte der Adenauer-Stiftung, soll bei gleicher Gelegenheit über "die totalitären Elemente" im Werk von Antonio Gramsci geredet haben.7 - Daß sich unser Demokratie-Verständnis von dem konservativer Ideologen wesentlich unterscheidet, ist hier nicht darzulegen. Es sei nur angemerkt, mit den Termini "Diktatur" und "totalitär" wird so willkürlich umgegangen, daß ihre vernünftige Verwendung schon einen literaturkritischen Kommentar verlangt. Das gilt auch für "Stalinismus". Doch muß ein Parteiprogramm Zeichen setzen, die eindeutig, die ohne Kommentar verständlich und weithin sichtbar sind. Der Name von Rosa Luxemburg wäre ein solches Zeichen.
Daß in den Thesen der "Begriff des Stalinismus für die gesamte Geschichte der DDR verwandt" wird, wie es im Dreier-Votum heißt (37/3), vermag ich nicht zu erkennen. Was ich aber über die "stalinistisch geprägte Tradition" der SED lese sowie über die "Mitverantwortung" der Parteimitglieder (8/3), ist meines Erachtens treffend, unmißverständlich und für ein neues Programm unentbehrlich.

Ich finde da auch keine "Abwertung der DDR". Vielmehr übernehmen die Thesen aus dem 1993er Programm den Leitgedanken, daß zum DDR-Sozialismus "wertvolle Ergebnisse und Erfahrungen" ebenso gehören wie "Fehler, Irrwege, Versäumnisse und selbst Verbrechen", ergänzen ihn allerdings durch den Hinweis auf "strukturelle Grunddefizite" (7/3) und bringen außerdem den Staatssozialismus-Begriff in die Programm-Debatte ein - mit Aussagen zur Herausbildung dieses Typs von Sozialismus in der DDR (8/1) und zu dessen Merkmalen (5/3). Ich sehe darin wichtige Erkenntnisfortschritte, von denen ich hoffe, daß sie sich in der Debatte durchsetzen.
Die separat Votierenden nehmen diese Neuerungen jedoch nicht auf. Vielmehr verweigern sie sich tieferlotender Kritik mit der Begründung, die "Defizite der DDR" (als ob es nur darum ginge!) wären 1993 "hinreichend umfangreich und scharf dargestellt" worden (37/3). Mit "Staatssozialismus" können die drei Autoren, wie ich vermute, deshalb nichts anfangen, weil sie einen ahistorisch idealisierenden Begriff von Sozialismus haben. So meinen sie, die Benennung von "strukturellen Grunddefiziten" des DDR-Sozialismus in den Thesen "wirkt dahin, den Sozialismus als System, als Gesellschaftsordnung überhaupt in Frage zu stellen" (34/3). Vom gleichen Fehlverständnis zeugt ihr Vorschlag, es jedermanns Urteil zu überlassen, "inwieweit er die Defizite des Sozialismus in der DDR als konstitutiv oder als dem [!?] Sozialismus nicht wesenseigen und zumindest partiell historisch vermeidbar ansieht" (38/2).

Das Bestreben, "den" Sozialismus aus den Zusammenbrüchen der Jahre 1989 bis 1991 herauszuhalten, ist nicht unsympathisch, aber - mit Verlaub - naiv. Es äußerte sich ja auch in der Kapitelüberschrift "Das Scheitern des sozialistischen Versuchs" (Programm, S. 6). Schon damals mochte ich mir die DDR (z.B.) nicht als Großversuch am Menschen vorstellen. Wird die untergegangene Staats- und Gesellschaftsordnung als "Versuch" gekennzeichnet, dann ignoriert das aber auch die Zielstrebigkeit der Aufbauarbeit, suggeriert, es könnte nur den einen, "wahren" Sozialismus geben, den wir leider verfehlt hätten, und verdeckt eines der wichtigsten gesellschaftswissenschaftlichen Probleme. - Vielleicht können sich einige Genossen, die jetzt als Politikwissenschaftler firmieren, daran erinnern, daß sie einmal das Fach "Wissenschaftlicher Sozialismus" (zeitweise WK) vertraten? Vielleicht nutzen sie die seinerzeit ungeahnten Chancen gesellschaftskritischer Forschung um zu klären, was für einen Sozialismus wir hatten, welcher Typ von Sozialismus das war?

Bis dahin werde ich "Staatssozialismus" für eine praktikable Hypothese halten. Das ist ein noch nicht vernutzter oder gar mißbrauchter Begriff, und seine vorerst wenigen Definitionen sind plausibel.8 Ich verstehe nicht, warum ihn Harald Neubert als pejorativ ablehnt.9 Natürlich ist ohne Gewalt keine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse herbeizuführen und ohne Staatsmacht keine Klassengesellschaft zusammenzuhalten. Doch meint "Staatssozialismus" nicht schlechthin dies, sondern die Monopolisierung der Macht, genauer gesagt, der Verfügungsgewalt über das ökonomische, politische und kulturelle Potential der Gesellschaft.10
Es spricht manches dafür, den Staatssozialismus als jenen Typ von Sozialismus zu betrachten, der sich unter den im 20. Jahrhundert vorherrschenden Bedingungen (imperialistische und Befreiungskriege, tradierte Rückständigkeit fast aller befreiten Länder, Kalter Krieg und Wettstreit der Weltsysteme ohne "Waffengleichheit") mit einiger Notwendigkeit herausbildete und von der Sowjetunion auf andere Länder übertragen wurde. In der DDR-Vorgeschichte läßt sich gut beobachten, wie die örtliche Selbstverwaltung und betriebliche Mitbestimmung der Werktätigen nicht aus bloßer Willkür, sondern unter objektiven politischen und ökonomischen Zwängen nach und nach abgeschaft wurden. Hätte der "Früh-Sozialismus", wie er auch genannt wird, unter den obwaltenden Bedingungen zwangsläufig die Gestalt des Staatssozialismus angenommen, wäre allerdings bei den "Defiziten" zwischen vermeidbaren und unvermeidlichen zu unterscheiden und nach den Möglichkeiten einer Transformation dieses Sozialismus-Typs in einen neuen, demokratisch und rechtsstaatlich verfaßten zu fragen. Derartige Möglichkeiten entstanden ja seit den 50er Jahren, so daß in Hinblick auf die Unterdrückung solcher Bestrebungen und die Unterbindung von Reformen von einem konservativen oder auch konterrevolutionären Potential des Staatssozialismus gesprochen werden könnte.
Derlei hatte die Programmkommission wohl nicht im Sinn, und es ist auch nicht ihre Sache, historiographische Konzeptionen zu entwickeln. Das geschichtlich begründete Selbstverständnis der PDS jedoch müßte sich auch auf frühe, schon damals oppositionelle demokratisch-sozialistische Bestrebungen beziehen. Das gilt vor allem für die Arbeitererhebung vom Juni 1953, an der sich Parteimitglieder in vielen volkseigenen Betrieben beteiligten11, sowie für die Stalinismus-Kritik von sozialistischen Intellektuellen.
In Auswertung des XX. Parteitags der KPdSU und älterer trotzkistischer Literatur hat Wolfgang Harich das "Wesen des Stalinismus" 1956 als erstes SED-Mitglied beschrieben - in bis heute beeindruckender Weise.12 Er bezeichnete ihn als das "entscheidende Hemmnis" der sozialistischen Bewegung13, stellte aber nicht in Frage, daß sie zunächst durch ihn vorangetrieben worden war. Man könne auch nicht sagen, "daß durch den Stalinismus der sozialistische Charakter der Sowjetgesellschaft vernichtet worden sei".14 Robert Havemann brachte seine Überlegungen zu Papier, als mit dem Prager Frühling die zweite starke Demokratie-Bewegung unterdrückt worden war, und konstatierte nunmehr die Unvereinbarkeit von Stalinismus und Sozialismus.15 Was Harich, Havemann und vor ihnen schon andere Kommunisten über Entstehungsgründe und Wesenszüge des Stalinismus schrieben, trifft weitgehend auch auf den Staatssozialismus zu. Sollten wir da nicht den tradierten Begriff übernehmen, anstatt den jüngeren, minder bekannten zu verwenden?
Nach dem Urteil von Wolfgang Ruge, der dabei vor allem auf das GULAG-System der Zwangsarbeit und den Massenterror der Stalin-Zeit verweist, "war der epigonale Stalinismus (erst recht der epigonale Poststalinismus) osteuropäischen Typs [...] sowohl seiner Qualität als auch seinen Folgen nach ein wesentlich andersgeartetes Phänomen als die diktatorische Herrschaft Stalins".16 Gewiß gilt das erst recht für die DDR. Nun läßt sich zwar - mit Hermann Weber17 - der Begriff im weiten, allgemeinen Sinne abheben von einem Stalinismus im engeren Sinne reinster Willkürherrschaft und brutalsten Terrors. Doch unweigerlich verwischt das die Grenzen. Der Stalinismus im weitesten Sinne, wenn man so will, kommt von Lenin und Trotzki her. Rosa Luxemburg ahnte das schon.18 Nein, für das Parteiprogramm bevorzuge ich eine schon im Wort gegebene Unterscheidung zwischen dem "Staatssozialismus" als Typ und dem "Stalinismus" als dessen Perversion.

Geschichtswissenschaftlich begründete Aussagen über das politische System des bisherigen Sozialismus und insbesondere über dessen "strukturelle Grunddefizite" müssen unbedingt bei der Verfaßtheit der Parteien ansetzen, die jene Staaten maßgeblich gestalteten. Der für den Staatsaufbau konstitutive "demokratische Zentralismus" kam von der "Partei neuen Typus" her. Eine Kennzeichnung des damaligen Verhältnisses zwischen Partei und Staat gehört, wie mir scheint, auch ins Programm, fehlt aber noch in den Thesen. Das war eine Symbiose, die beiden schlecht bekam. Verstaatlichung der Partei: Ihre Sekretariate fungierten als leitende Staatsorgane und der Parteiapparat doublierte den Staatsapparat. Das entfernte die Partei immer mehr von ihren Ursprüngen in der Arbeiterbewegung.

Nun gab es in der DDR neben dem staatlich verordneten auch den frei praktizierten Sozialismus, wie er sich nicht selten im Widerstreit von Bevormundung und Eigensinn entwickelte. Die Thesen erwähnen "dort gewachsene zwischenmenschliche Werte" und meinen wohl solche Beziehungen, welche sich erst in einer Gesellschaft entfalten können, die nicht mehr den Gesetzen von Profitmaximierung und Konkurrenz unterworfen ist. Die Systemkritik von Ostdeutschen erwächst mittlerweile aus dem Systemvergleich doppelter Alltagserfahrung. Und keine DDR-Kritik kann die dort als selbstverständlich erlebte Einbeziehung ins Erwerbsleben und die weitgehende Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft entwerten. Die Wahrnahme politischer Bürgerrechte, an deren Verweigerung der eine Staat scheiterte, erweist sich im anderen als mühselig, sobald mehr als das Stimmrecht gefragt ist. Bei manchen Vorzügen sind repräsentative Demokratie, weitestgehend formalisierte Rechtsprechung und perfektionierte Bürokratie doch alles andere als bürgernah. - Es sind solche und ähnliche Erfahrungen, die in den Thesen zu Recht als "potentielle Gegenmachtreserven" bezeichnet und im höchst wichtigen Abschnitt "Akteure gesellschaftlichen Wandels" aufgerufen werden (32/1). Ein gutes Beispiel für einen programmadäquaten Umgang mit Traditionen!

Was die PDS aber immer wieder klarstellen sollte, das ist die "Dialektik des Staatssozialismus", das sind die zwischen seinen Vorzügen und Mängeln bestehenden widersprüchlichen Zusammenhänge. Die Kehrseite der von vielen Landsleuten mittlerweile sehnsüchtig erinnerten sozialen Sicherheit war die Abschottung der DDR gegenüber dem Ausland. Inwieweit unsere sozialen und kulturellen Errungenschaften ohne die Mauer von Bestand gewesen wären, läßt sich kaum ermitteln. Daß es aber einen solchen Zusammenhang gab - zu dem die Schüsse an der Mauer ebenso gehörten wie alle jene Maßnahmen von MdI und MfS, welche einer Republikflucht vorbeugen sollten -, muß nicht erst bewiesen werden. Der Antagonismus sollte im Programm festgehalten werden, um einer möglichen Selbsttäuschung vorzubeugen, um klarzustellen, daß demokratischer Sozialismus neue Lösungen für Aufgaben suchen muß, die der staatsmonopolistische auf seine Weise bereits gelöst hatte. - Die PDS ist die einzige deutsche Partei, die in sich gleichsam massenhaft Sozialismus- mit Kapitalismus-Erfahrungen verbindet, dies auch reflektiert und politisch produktiv machen kann. Zuvor jedoch muß sie sich dieses doppelte Erbe doppelt kritisch aneignen.

Wie die Entwicklung der DDR wird die der ehemaligen BRD in den Thesen (ab 7/1) auf eine Weise charakterisiert, die ich für unzweckmäßig halte. Hinzu kommt der Eindruck von "Idealisierung" (so zu Recht das Dreier-Votum, 37/2). Würde die Kommission dem von mir eingangs zitierten Hinweis Horst KahrsÂ’ folgen und dafür sorgen, daß unser Programm künftig auch die Erfahrungen linker Wessis "kommuniziert" - ich bin ja dafür! -, stellte sich wahrscheinlich heraus: Die sind auf andere Art nicht minder frustriert! Doch im Unterschied zur DDR ist die BRD noch nicht Geschichte, und die konkrete Kapitalismus-Kritik gehört in die programmatischen Kapitel des Programms: "Demokratisierung der Demokratie", "Alternative Medienpolitik" usw. Für das hier besprochene Kapitel könnte es genügen, etwa so, wie es in den Thesen schon geschieht19, auf den antinazistischen und friedenspolitischen "Gründungskonsens" Bezug zu nehmen, den noch die Verfassungen von 1949 fixierten, und auf die "verpflichtende Tradition" des Kampfes "für soziale Gerechtigkeit und die Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in der alten Bundesrepublik" (7/2). Die Studentenbewegung der sechziger Jahre und die Gewerkschaftsbewegung, die auch deshalb genannt werden muß, weil der Linkssozialismus dort am stärksten verwurzelt ist, nennt die Programmkommission zu Recht dort, wo sie "Akteure gesellschaftlichen Wandels" vorstellt (32/1).

Sehr viel wichtiger und zugleich schwieriger als der Umgang mit BRD-Geschichte ist der Rückbezug auf die Umbrüche von 1989/ 1990 - schwieriger wegen der diesbezüglich bestehenden Meinungsverschiedenheiten in der Partei, ungemein wichtig jedoch für ihr Selbstverständnis. Die PDS ging aus der selbstbestimmten Wende von 1989 hervor und kam im Kampf gegen die fremdbestimmte "Wende in der Wende" 1990 zu Kräften. Die Bündnisgrünen scheinen auf diese Tradition keinen Wert zu legen. Würde sich die PDS diese Tradition gänzlich aneignen, könnnte das gleichermaßen Identität wie Autorität der Partei ausprägen.

Nun sind aber die Urteile über jene Ereignisse so vielfältig wie die damaligen Erlebnisse und Beobachtungen sowie die seither gewonnenen Erfahrungen. Das gilt kaum für den Anschluß der DDR an die BRD und weniger für dessen unmittelbare Vorgeschichte. Doch der Herbst 1989 wird unterschiedlich bis gegensätzlich beurteilt. Wohl nur für eine Minderheit ist die Hauptsache die damalige Volksbewegung, für die Mehrheit (so mein Eindruck) das Versagen und der Verrat in der Partei- und Staatsführung. Viele Parteimitglieder sehen in der sogenannten Wende20 ausschließlich das Scheitern, die Niederlage, nur wenige auch die Chance. - Ich nehme an, daß es an diesen Differenzen liegt, wenn alle drei hier besprochenen Papiere befriedigende Aussagen über den Herbst 1989 vermissen lassen. Das 1993er Programm geht noch vergleichsweise weit: der "Aufbruch des Herbstes 1989 in der DDR" (S. 1), die "Volksbewegungen in den osteuropäischen Ländern" (S. 2). In den Thesen habe ich nur noch den "Zusammenbruch" gefunden (8/2), im Minderheitsvotum derlei gar nicht mehr.
Wenn aber das "Scheitern" des Sozialismus nicht unvermeidlich war, wenn "Versuche zur Erneuerung und Rettung" möglich waren und auch unternommen wurden, wie es im 1993er Programm (S. 7), dem Sinne nach auch in den Papieren von 1999 heißt und dort sogar näher ausgeführt wird (8/2 und 39/2), muß die Volksbewegung vom Herbst 1989 dann nicht als ein solcher Versuch gewürdigt werden - und zwar weitergehend als es in der Präambel des alten Programms geschah? Damit ist ja auch die Frage verbunden, ob wir unsere Partei hauptsächlich als Konkursmasse des Staatssozialismus verstehen wollen oder als Ergebnis jenes (verspäteten) Versuchs, wie es die Präambel andeutete, sowie als bleibendes Ergebnis einer Erneuerungsbewegung, die zwar schwächer war als die von der Bonner Republik ausgehenden restaurativen Bestrebungen und ihr ursprüngliches Ziel eben deswegen nicht erreichte, dafür aber ihren demokratisch-sozialistischen Anspruch auf ganz Deutschland ausdehnte.

1 Horst Kahrs: Was kommt nach den "Reformern" in der PDS?, in: UTOPIE kreativ, Heft 115/116 (Mai/Juni 2000), S. 438.
2 Vgl. die im "Neuen Deutschland" vom 30. März 2000 auf S. 16 auszugsweise veröffentlichte, auch von mir unterzeichnete Erklärung einiger Mitglieder der Historischen Kommission der PDS sowie die Diskussionsbeiträge der Kommissionsmitglieder Günter Benser in der Tagung des Marxistischen Forums am 27. Nov. 1999 und Stefan Bollinger in "DISPUT", Heft 5/2000, S. 12ff.
3 Siehe Kapitel 2 auf den S. 6-8 der vom Bundesgeschäftsführer 1997 herausgegebenen Broschüre, die ich auch im weiteren zitiere.
4 Die Thesen der Programmkommission sowie das separate Dreier-Votum zitiere ich nach dem PDS-Pressedienst Nr. 47 vom 26. Nov. 1999 mit Seite/Spalte. Hier 8/1 und 38/2. - Fortan stehen die Seitenangaben für das Programm wie für die eben genannten Texte eingeklammert hinter dem Zitierten.
5 Vgl. Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse? Hrsg. Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz, Berlin 1997, S. 17ff. - Das sind Vorbemerkungen von Helmut Bock für den Sammelband, dessen Vorbereitung und Veröffentlichung durch die Historische Kommission der PDS veranlaßt wurde.
6 Vgl. Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus: Selbstverständnis und Realität. Bd. 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999, S. 9ff. - Auch diese Buch entstand mit Unterstützung der Historischen Kommission.
7 "Deutschland Archiv", Heft 3/2000, S. 450.
8 Vgl. den Artikel von Fritz Vilmar im "Lexikon des Sozialismus", hrsg. von Thomas Meyer u.a., Köln 1986, S. 656. - Das "Kritische Wörterbuch des Marxismus", in der deutschen Fassung hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, widmete diesem Phänomen im entsprechenden, 7. Band (Hamburg 1988) keinen separaten Artikel (vgl. aber den Staatskapitalismus-Artikel von Jean Robelin, S. 1246ff.), doch ist das Stichwort "staatsmonopolistischer Sozialismus" für die Neuausgabe angekündigt.
9 Siehe seinen Beitrag zur Programmdebatte im "Neuen Deutschland" vom 25./26. März 2000, S. 18.
10 Vgl. in einer meiner Marginalien die Definition von Fritz Behrens, festgehalten in seinen "Kurzen Bemerkungen zum Prager Frühling" während der siebziger Jahre, erstmals veröffentlicht in: "Ich habe einige Dogmen angetastet Â…". Werk und Wirken von Fritz Behrens. Beiträge des 4. Walter-Markov-Kolloquiums. Hrsg. Eva Müller, Manfred Neuhaus, Joachim Tesch, Leipzig 1999, S. 6.
11 Vgl. Jochen Czerny: Altes und Neues über den 17. Juni 1953, in: Das unverstandene Menetekel - Der 17. Juni 1953. Materialien einer Tagung. Hrsg. Brandenburger Verein für politische Bildung "Rosa Luxemburg" e.V., Potsdam 1993, S. 56ff., insbes. S. 62 u. 68f.
12 In seinen "Studien zur weltgeschichtlichen Situation". Siehe Siegfried Prokop: "Ich bin zu früh geboren", Berlin 1997, S. 242ff.
13 Ebenda, S. 260. - Siehe die entsprechende Marginalie.
14 Ebenda, S. 264.
15 Siehe Robert Havemann: Fragen - Antworten - Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, Berlin 1990, S. 50ff., insbesondere S. 55.
16 Wolfgang Ruge: Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991, S. 134, das Ruge-Zitat in der Marginalie S. 133.
17 Siehe Hermann Weber: Geschichte der DDR. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, München 1999, S. 13f.
18 Vgl. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Bd. 4, Berlin 1974, S. 359ff.
19 Vgl. auch das Papier der Historischen Kommission "Die Doppelbiographie der Bundesrepublik" im PDS-Pressedient Nr. 13 vom 31. März 1999, S. 9ff.
20 Die Karriere dieses Wortes ist kurios. 1971 für den Wechsel von Ulbricht zu Honecker verwandt, wurde es - sinngemäß richtig - im Oktober 1989 von Krenz übernommen, dann aber auch auf die weitere Entwicklung bis hin zum Anschluß bezogen, auf wesensverschiedene Ereignisse also.