Verteidigung ade!

Gastkommentar

Der Kalte Krieg ist endgültig vorbei und damit auch die Funktion der Bundeswehr als Verteidigungsarmee.

Dennoch halten die Bundesregierung und allen voran Rudolf Scharping tapfer an der Behauptung fest, dass die Landesverteidigung unverändert die Hauptaufgabe der deutschen Streitkräfte sei. (1) So einfach kann deutsche Sicherheitspolitik im Jahr
2000 sein. Sie hat nur einen entscheidenden Fehler, sie hat nichts mit der
Wirklichkeit zu tun. Auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung
veranstalten Regierung, Opposition und Militärs immer noch ein
Verwirrspiel in der Öffentlichkeit hinsichtlich der neuen Bundeswehr.
Weiterhin herrscht Unklarheit über die zukünftige Struktur und das
Einsatzspektrum.

Der Grund für die Konzeptionslosigkeit bei der Neuorientierung der
Sicherheitspolitik und der damit einhergehenden Neugestaltung der
Bundeswehr liegt darin, wie Knut Krusewitz schreibt, dass es "Regierung
und Parlament unterlassen haben, die außenpolitischen Ziele und
Interessen Deutschlands zu präzisieren und daraus ableitend die
militärischen Anteile einer am Weltfrieden orientierten Politik zu
definieren". (2) Dieses offensichtliche Versäumnis der Politik - nämlich die
deutsche Sicherheitspolitik zukunftsweisend zu gestalten - hat zwar den
Nachteil, dass den Spekulationen über die neue Bundeswehr weiterhin Tür
und Tor geöffnet bleiben, birgt aber zugleich auch den großen Vorteil für
die politisch Handelnden, dass alle Optionen offen bleiben. Sicherheitspolitik
wird so weitgehend der parlamentarischen Mitgestaltung entzogen und
gerät zunehmend in die Verfügungsgewalt weniger Politiker, wobei Rudolf
Scharping die Schlüsselrolle zufällt.

Zwar haben alle im Bundestag vertretenen Parteien ihre Konzepte zur
Neugestaltung der Bundeswehr vorgelegt und es gibt umfangreiche Studien
wie das Kirchbach-Papier, den Bericht der Weizsäcker-Kommission und
nicht zuletzt die Bestandsaufnahme durch das Verteidigungsministerium.
Nicht aber die Anzahl der Papiere und Studien und deren Verfasser
beeinflussen den Umgestaltungsprozess der Bundeswehr, sondern alles
konzentriert sich auf die Person des Verteidigungsministers, der letztlich die
Fäden fest in der Hand hält. Und wenn ein Generalinspekteur die eher
reaktionären Vorstellungen der Generalität zu Papier bringt, dann ist das die
gewünschte Gelegenheit sich seiner zu entledigen. So gesehen ist die
vermeintliche Planlosigkeit wohl eher die von Rudolf Scharping zur
Methode erhobene Verfahrensweise, um die anstehenden Probleme Stück
für Stück in seinem Sinne zu lösen. Dieses Verfahren erinnert an Volker
Rühe, der bereits Mitte der 90er Jahre mit seiner "Salamitaktik" erfolgreich
begonnen hatte, die Bundeswehr Schritt für Schritt von ihrer Kernfunktion
der Landes- und Bündnisverteidigung zu lösen.

Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt darin, dass der verantwortliche
Minister in jeder Situation Herr des Verfahrens bleibt und dass er durch
einen permanenten Aktionismus die von ihm gefürchtete Debatte über die
Legitimation von Streitkräften im Einsatz außerhalb der Landes- und
Bündnisverteidigung unterbinden kann. Der Verteidigungsminister weiß um
die Schwachpunkte seines Konzeptes und so ist er nach kurzem Zögern mit
seinen Soldaten nach Jugoslawien in den Krieg gezogen. Viele hielten das
für einen politischen Fehler und zudem für einen eklatanten Verstoß gegen
das Grundgesetz. Dennoch hat Rudolf Scharping aus seiner Sicht alles
richtig gemacht. Er besitzt das uneingeschränkte Vertrauen des
Bundeskanzlers, er handelt mit der wohlwollenden Zustimmung des grünen
Außenministers und er sieht sich einer politischen Opposition gegenüber, die
in jedem noch so zaghaften Versuch die Personalstärke zu reduzieren schon
die Axt an den Wurzeln der Bundeswehr vermutet.

Aus dieser Position der Stärke heraus lassen sich auch tiefgreifende
Veränderungen in den Streitkräften durchsetzen, ohne zuvor langwierige
Grundsatzdiskussionen führen zu müssen. Dies gilt um so mehr, als selbst
die Gegner einer Auftragserweiterung in wichtigen
Grundsatzentscheidungen keine einheitliche Linie verfolgen. Dieses
Dilemma wird unter anderem an der Diskussion um die Wehrpflicht
deutlich. Das beharrliche Festhalten an der Wehrpflicht führt mitten hinein
in die zentrale Frage nach der Legitimation der Bundeswehr. Die
Diskussion kann an dieser Stelle nicht weitergeführt werden, aber einige
Anmerkungen sind sicherlich hilfreich:

Art. 87a des Grundgesetzes spricht ausschließlich von "Streitkräften zur
Verteidigung". Wer den Gedanken der Landesverteidigung auch zukünftig
aufrechterhalten will, der wird folgerichtig auch die Beibehaltung der
Wehrpflicht für erforderlich halten. Wer aber darüber hinaus Argumente
für die Wehrpflicht auch darin sieht, dass diese Soldaten sozusagen eine
Brücke zwischen militärischer Organisation und ziviler Gesellschaft bilden
oder gar einen mäßigenden demokratischen Einfluss auf die gesamte
Truppe ausüben könnten, der irrt gewaltig. Wehrpflichtige haben keinerlei
Einfluss darauf, ob eine Armee in den Krieg zieht oder nicht. Sie sind immer
nur Mittel zum Zweck, denn es ist eine traurige geschichtliche Wahrheit,
dass die großen Wehrpflichtarmeen die Vernichtungskriege der Neuzeit
erst möglich gemacht haben. Napoleons Russlandfeldzug, der I. und der II.
Weltkrieg sie wären ohne Wehrpflichtarmeen gar nicht möglich gewesen.

Im Gegensatz zur Wehrpflichtdebatte ist die Diskussion um die
Personalstärke der Bundeswehr eher eine Scheindebatte, die von den
zentralen Fragen um die Existenz der Bundeswehr ablenkt. Tatsächlich sagt
die Personalstärke einer Armee wenig über ihre Leistungsfähigkeit aus, da
weder die Motivation der eingesetzten Soldaten noch die technische
Leistungsfähigkeit der verfügbaren Waffen berücksichtigt werden.
Dennoch gibt die Personalstärke wichtige Aufschlüsse über mögliche
Einsatzoptionen, wie die Weizsäckerstudie eindrucksvoll belegt. So
empfiehlt die Kommission: "die... Streitkräfte auf schnelle Reaktion in
zwei gleichzeitigen Krisen hin auszurichten". (3) Daraus errechnet die
Kommission eine Gesamtstärke von 240.000 Soldaten mit der Fähigkeit,
parallel auf zwei Kriegsschauplätzen mit mindestens ca. 28.000 Soldaten
präsent zu sein.

So leicht und elegant lässt sich der Übergang von der Verteidigungsarmee
zu einer neuen Interventionsarmee darstellen. Keine Diskussion über die
Frage, ob wir überhaupt eine Bundeswehr brauchen und wollen, die in
absehbarer Zukunft zu weltweiter Intervention - zumindest im Rahmen der
NATO - befähigt sein wird? Wohldurchdachte Strategiekonzepte sind nicht
gefragt. Sie waren noch nie eine Stärke der politischen oder militärischen
Führung der Bundeswehr. Der Funktionswandel der Bundeswehr ist die
Stunde der Macher!

Da kommt die Erkenntnis der Weizsäcker-Kommission - "die Bundeswehr
des Jahres 2000... ist zu groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend
unmodern". (4) - gerade recht. Folgerichtig lauten die neuen Schlagworte
"downsizen" (Personalstärke absenken) und "upgraden"
(Leistungsfähigkeit in allen Bereichen verbessern). Die Formulierung
solcher Planungsziele ist ein sicheres Indiz für die Ausgestaltung einer
Interventionsarmee. Wie heißt es doch bei der Weizsäcker-Kommission:
"Mit der vorrangigen Ausrichtung der Bundeswehr auf Kriseneinsätze
wird eine geographische Eingrenzung des künftigen Einsatzraumes
deutscher Soldaten schwierig". (5)

Genauso wird es sein: Eine möglichst kleine hoch effiziente Armee, die nur
darauf wartet, an irgendeinen Krisenherd - besser Kriegsschauplatz - zu
eilen, um für Recht und Ordnung zu sorgen oder was die NATO darunter
versteht. Diese neue Bundeswehr hat keine Gemeinsamkeiten mehr mit der
Verteidigungsarmee aus der Zeit des Kalten Krieges. Nicht einmal ihre
Legitimation wird die neue Armee dauerhaft aus dem Verteidigungsauftrag
ableiten können.

Und so heißt es denn endgültig: Verteidigung ade!

Anmerkungen:

1 BMVg: Bestandsaufnahme, Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert, Bonn 1999, S. 12.

2 Knut Krusewitz: Das Erbe des 20.Juli verpflichtet zur Kultur der
militärischen Zurückhaltung, Fulda 1998, S.9.

3 Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr
(Weizsäcker-Kommission), Berlin 2000, S. 53.

4 Weizsäcker-Kommission, Berlin 2000, S. 13.

5 Weizsäcker-Kommission, Berlin 2000, S. 48.

Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D., ist im Vorstand des Arbeitskreises
Darmstädter Signal, einer Vereinigung aktiver und ehemaliger Offiziere und
Unteroffiziere der Bundeswehr

E-Mail: lothar.liebsch@t-online.de